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Kapitel 2

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Knatternd und spuckend setzte sich das alte Auto in Bewegung. Eine riesige Rußwolke stob aus dem Auspuff. Der linke Kotflügel schepperte.

Am Steuer des vorsintflutlichen Wagens saß Isolde Müller und knüppelte das rostige Gefährt bedenkenlos durch die stillen Straßen der Bungalowsiedlung. Der Gepäcksträger auf dem Dach quoll über. Die Plane, die über den ganzen Krempel gespannt war, knatterte laut im Fahrtwind.

Isolde Müller schaltete das Autoradio an und suchte einen Sender mit rhythmischer, fröhlicher Musik.

„So, dann wollen wir unseren Urlaub schon von Anfang an genießen!“, verkündete die wohl beleibte Dame, die kaum Platz hinter dem Lenkrad fand.

Neben ihr saß Al, so klein und schmächtig, dass er fast zwischen den Sicherheitsgurten hindurchrutschte. Krampfhaft umspannten seine knochigen Finger den Haltegriff aus Plastik, und seine Füße stemmten sich fest gegen den Wagenboden. Das Oberhaupt der Familie Müller fühlte sich alles andere als wohl. Unruhig irrte sein Blick von Isolde auf die Straße und wieder zurück. Bei jeder Kreuzung schickte Al ein Stoßgebet Richtung Himmel. Doch die ihm anvertraute Ehefrau schien dies nicht im Geringsten zu stören. Isolde nahm die Kurven mit quietschenden Reifen und drückte ihre riesigen Füße so fest aufs Gaspedal, dass der alte Motor gequält aufheulte.

Frank und Susi tollten unterdessen auf den zerschlissenen Polstern des Rücksitzes herum und hüpften so wild und ausgelassen auf und nieder, dass das alte Auto mit dem Auspuff über den Asphalt schrammte. Funken sprühten auf.

„Meinst du nicht auch, Liebling, dass unsere Kinder da hinten etwas zu wild sind? Das Auto wird das auf die Dauer wohl nicht aushalten ...“

„Ach, lass sie doch, Al!“, beruhigte Isolde. „Die Kids sollen sich in den Ferien mal richtig austoben. Und diese Rostlaube hier wird die Fahrt schon überstehen.“

Und wiederum jagte Isolde den Wagen in halsbrecherischer Fahrt um die Ecke, dass ein Radfahrer entsetzt aus dem Sattel sprang, durch die Luft sauste und weich in einem Himbeergestrüpp landete.

Sein Besitzer kam mit wütend verzerrtem Gesicht in die Höhe, und da riss ihn das dröhnende Geräusch einer Autohupe aus seinen Mordgedanken. Gerade noch rechtzeitig konnte sich der Sportfanatiker durch einen Sprung nach hinten aus der Gefahrensituation retten. Ein bulliger Geländewagen preschte haarscharf an ihm vorbei.

Der Radfahrer landete erneut im Himbeergestrüpp und musste noch von Glück reden, dass ihm nichts Ernstes passiert war. Trotzdem konnte er seine Wut und seine Enttäuschung nicht ganz unterdrücken und krabbelte fluchend aus dem Gebüsch. Mit drohenden Handbewegungen torkelte er Richtung Straße und stieß dabei die übelsten Verwünschungen aus.

Zwei Halbstarke, die gerade des Weges kamen, bezogen die Beschimpfungen nun aber auf sich und reagierten dementsprechend sauer.

Mit einem Griff packte der eine den tobenden Radfahrer an seinem verschmutzten T-Shirt und zog ihn ganz nah zu sich heran. „Willst du was von uns, Kleiner?“, fragte er drohend und schüttelte den armen Mann gehörig durch. „Dir scheint wohl die Sonne nicht ganz zu bekommen, dass du dich mit uns beiden anlegst.“

„Mit übermütigen Leuten machen wir kurzen Prozess!“, ergänzte der andere und entblößte beim Lachen einige schwarze, verfaulte Zähne. Bekleidet waren die beiden Halbstarken mit engen, glänzenden Lederjacken und blauen, abgewetzten Jeans. „Wir lassen uns doch nicht mitten auf der Straße von einem Kerl wie diesem provozieren ...“

„Genau! Wo kämen wir denn dann hin!“, pflichtete der andere seinem Komplizen bei.

Mit einem energischen Ruck gelang es dem Sportler, sich aus dem harten Griff des Halbstarken zu befreien, und so schnell er konnte, suchte er sein Heil in der Flucht. Nur weg von hier! war sein einziger Gedanke - und deshalb sah er auch nicht den ziemlich schnell heranrollenden Bus.

Reifen quietschten, und gerade noch im letzten Moment erkannte der Radfahrer die große Gefahr. Nur ein verzweifelter Sprung nach vorn bewahrte ihn vor größerem Schaden. Mit einer gekonnten Rolle hechtete der fahrradlos gewordene Radfahrer erneut ins dichte Himbeergestrüpp, wo er sich fast schon wie zuhause fühlte. Und nachdem der arme Mann endlich wieder auf den Beinen stand, nahm er sich ganz entschieden vor, seine gefährliche Sportart an den Nagel zu hängen. Ihm war nicht mehr nach Radfahren zumute. „Ich hau’ mich vor den Fernseher“, murmelte er verheißungsvoll vor sich hin und machte sich zu Fuß auf den Weg in seine Wohnung.

Von all den Ereignissen bekam Familie Müller natürlich nicht das Geringste mit.

Isolde steuerte den altersschwachen Wagen inzwischen froh gelaunt über die schnurgerade Autobahn, wobei sie sich nicht um die Geschwindigkeitsbeschränkungen scherte.

Al saß mit geschlossenen Augen auf dem Beifahrersitz und kämpfte mit einem rumorenden Gefühl in seiner Magengegend.. Wie sehr sehnte er sich nach seinem kühlen, schattigen Büro zurück, in dem die staubigen Akten meterhoch standen. Stattdessen musste er jetzt in der größten Mittagshitze in halsbrecherischer Fahrt über die Autobahn flitzen und das Gekreisch seiner beiden Kinder hinter sich geduldig über sich ergehen lassen. Was für ein schlimmes Schicksal!

Plötzlich riss ihn das auf- und abschwellende Geräusch einer Sirene aus dem Dämmerschlaf.

Al zuckte zusammen und warf einen Blick in den rechten Außenspiegel.

„Siehst du, jetzt haben wir den Salat! Die Polizei ist hinter uns her!“

„Au, fein! Das wird spannend!“, krähte Frank vom Rücksitz, drehte sich zusammen mit seiner Schwester um. Gemeinsam knieten sie sich auf und starrten durch die Heckscheibe nach draußen, wo der Streifenwagen nun zum Überholen ansetzte.

„Ich hab’ dir doch gleich gesagt, dass du nicht so schnell fahren sollst!“, lamentierte Al und klapperte vor Angst schon mit den Zähnen.

„Keine Sorge!“, tröstete Isolde ihren Mann und hielt das Lenkrad fest umklammert. „Ich werd’ die Sache schon hinkriegen. Lass mich nur machen, Al! Wirst sehen, es ist alles halb so schlimm.“

Der Einsatzwagen hatte inzwischen überholt. Der Beamte auf dem Beifahrersitz schwenkte die Kelle und forderte zum Stehenbleiben auf.

Isolde stieg auf die Bremse und steuerte den hustenden Wagen nach rechts auf den Pannenstreifen. Nach einigen ruckenden Bewegungen kam das Gefährt zum Stillstand. Eine dicke Rußwolke verließ noch unter blubbernden Geräuschen den Auspuff, und dann kehrte Ruhe ein. Abwartend saß Isolde hinter dem Steuer und klopfte ungeduldig mit ihren dicken Wurstfingern auf den Hupring. Al beutelte es inzwischen vor panischer Angst gehörig durch, und immer wieder wischte sich der kleine Mann nervös über das schweißnasse Gesicht.

Frank und Susi grinsten sich bloß an. Sie waren gespannt, was jetzt passieren würde.

Der Beifahrer stieg aus, während sein Kollege im Wagen sitzen blieb. Mit langsamen Bewegungen kam der Polizist auf das Auto zu, nahm die dunkle Sonnenbrille aus seinem Gesicht und beugte sich in das Innere des Wagens.

„Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben, Frau …?“

„Müller! Isolde Müller!“, antwortete die dicke Dame. „Nein, keine Ahnung Oberinspektor. Sie werden uns schon mit jemandem verwechseln ...“

„Das glaube ich kaum!“, brummte der Polizist und trommelte mit seinen Fingern aufs Wagendach.

„Sie haben die zulässige Höchstgeschwindigkeit bei der Baustelle um 40 Kilometer überschritten. 140 statt 100. Das wird ein teurer Spaß ...“

„Aber ich bitte Sie, Inspektor!“, lachte Isolde auf und klatschte in die Hände. „So schnell ist diese Mühle ja gar nicht ...“

„Anscheinend schneller, als Sie glauben!“, brummte der Beamte und zeigte nach vor zum Einsatzwagen. „Wir haben Sie mit unserem Radar erfasst. Sie können gerne nachsehen ...“

„Schon gut, schon gut!“, lenkte Isolde überraschend schnell ein. „Natürlich glaube ich Ihnen, Inspektor. Denn wenn man der guten alten Polizei nicht mehr glauben könnte ...“

„Und da kommt noch was dazu!“, unterbrach der Uniformierte mit forscher Stimme.

„So? Was denn?“

„Beamtenbeleidigung, Frau Müller. Das wird Sie eine hübsche Stange Geld kosten ...“

„Sind Sie verrückt? Wen soll ich denn beleidigt haben?“, brauste Isolde auf und schlug wütend auf den Hupring. Doch kein Geräusch erklang.

„Aha!“, grinste nun der Polizist. „Ihre Hupe funktioniert also auch nicht. Damit entspricht Ihr Fahrzeug nicht den Bestimmungen der Verkehrssicherheit. Da kommt nun schon allerhand zusammen, finden Sie nicht? Und als ich vorhin von Beamtenbeleidigung sprach, meinte ich auch nicht Sie, sondern Ihre beiden Berggorillas auf dem Rücksitz.“

„Also, ich muss auf Schärfste protestieren, Inspektor!“, brauste Isolde auf. „Das da hinten sind immerhin meine beiden Kinder.“

„Das habe ich mir fast gedacht, Frau Müller“, grinste der Uniformierte. „Ihre Großeltern können es ja wohl nicht sein. Aber diese Berggorillas haben sich die Frechheit herausgenommen, meinem Kollegen und mir die „Lange Nase“ zu zeigen, als wir Ihr Fahrzeug überholt haben. Dazu schnitten sie recht eindeutige Grimassen und machten sich herzhaft über uns beide lustig.“

„Recht hatten sie!“, schnaubte Isolde, die jetzt nicht mehr zu bremsen war.

„Wer meine beiden Kinder als Berggorillas bezeichnet, hat auch nichts anderes verdient! Da, Inspektor - auch von mir können Sie die „Lange Nase“ haben ...“ Und blitzschnell führte Isolde die entsprechende Bewegung aus.

„Ich bitte dich, Liebling!“, hauchte Al voller Entsetzen und legte seiner Frau die Hand auf den Schoß. „Du bringst uns noch in Teufels Küche mit deinem ungestümen Temperament.“

„Papperlapapp!“, wehrte Isolde energisch ab, die nun nicht mehr zu bremsen war und entschlossen nach der Schnalle des Sicherheitsgurtes griff. „Ich halte es hier drinnen nicht mehr länger aus. Ich steige aus!“

Der Gurt rollte zurück, und Isolde öffnete mit Schwung die Tür.

Darauf war der Polizist nicht gefasst. Getroffen taumelte er zurück und präsentierte einen kleinen Tanz.

Sein Kollege, der das Geschehen vom Streifenwagen aus durch den Rückspiegel beobachtet hatte, glaubte nun an einen Angriff und handelte entsprechend übereifrig.

Mit einem Satz sprang er aus dem Streifenwagen, riss die Pistole aus dem Halfter und eilte herbei.

„Hände hoch!“, schrie er. „Alles aussteigen, und zwar ein bisschen plötzlich!“

Isolde hob zögernd ihre Arme.

Al krabbelte unbeholfen aus dem Gefährt und blickte verwirrt umher.

„Flossen hoch!“, herrschte ihn der Beamte an, und der kleine Mann zuckte erschrocken zusammen. Sofort befolgte er den Befehl.

Auch Frank und Susi verließen das Auto und grinsten sich an. Brav streckten sie ihre Arme in die Höhe.

Der erste Polizist, der eine so innige Berührung mit der Tür gehabt hatte, zog ebenfalls seine Waffe. Sicher ist sicher, dachte sich der Mann, während er sich vorsichtig aufrichtete und tapfer die Schmerzen unterdrückte. Die Hand mit der Pistole schwankte von Isolde zu Al, dann wieder zurück, und schließlich richtete sie sich auf die beiden Kinder, die das Schauspiel sichtlich genossen.

Und sie waren nicht die Einzigen, die fasziniert auf die beiden Polizisten blickten, die im Moment nicht genau wussten, was sie tun sollten.

Auch die vorüberziehenden Autofahrer starrten mit ungläubigem Staunen auf die ungewöhnliche Szene, die sich ihren Augen bot.

Da standen zwei Polizisten mit gezückten Waffen am Pannenstreifen und hielten eine vierköpfige Familie in Schach, die ihre Hände zum Himmel streckte.

Vor lauter Verwunderung vergaßen sie dabei aufs Wesentliche - auf den Autoverkehr!

Und so kam, was angesichts dieser Situation auch kommen musste: Reifen quietschten herzzerreißend, und krachend stießen einige Autos ineinander, deren Fahrer vom Geschehen am Straßenrand zu sehr abgelenkt waren.

Blechteile flogen durch die Luft, Glas splitterte, Gummi schmorte auf.

Die beiden Polizisten wirbelten herum und blickten auf die ineinander verkeilten Fahrzeuge. Zum Glück war den Insassen nicht viel passiert. Laut schimpfend verließen sie ihre zerbeulten Untersätze und beschuldigten sich gegenseitig, nicht besser aufgepasst zu haben.

Das Chaos war perfekt.

Die Polizisten wurden bestürmt, Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Pistolen wieder zu verstauen und die aufgebrachte Menge zu beruhigen.

Und wiederum krachte es weiter hinten.

Die Unfallstelle musste abgesichert werden.

Dieses allgemeine Chaos nützte die Familie Müller, um sich still und heimlich aus dem Staub zu machen ...

„So, Kinder, wir fahren weiter!“, verkündete Isolde und klatschte in die Hände. „Los, los, rein in den Wagen! Was steht ihr hier noch rum? Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Al schwang sich als Letzter auf seinen Sitz und tastete mit zitternden Händen nach dem Gurt. „Das - das ist ja nicht zu glauben!“, brabbelte der kleine Mann fassungslos vor sich hin, und schon wurde er schwungvoll in die Rückenlehne gedrückt, als Isolde rasant beschleunigte.

Niemand bekam ihr Verschwinden mit. Ruhig rollten sie über die endlose Autobahn, ihrem wohl verdienten Urlaub entgegen ...

Eine verrückte Familie

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