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Konflikt mit der Wirklichkeit
ОглавлениеWir glauben, mit Verstand und unserer Tatkraft unser Leben in die von uns gewünschten Bahnen lenken zu können, und das wird einfach der Wirklichkeit nicht gerecht. Die Realität des Lebens ist so viel umfassender als dass sie vom Ich – gekennzeichnet durch Verstand und Willen – in den Griff zu bekommen wäre. Aber genau das versuchen wir in allen Bereichen des Lebens, sei es in der Technik, der Wirtschaft oder in den Beziehungen, sowohl den persönlichen als auch der Völker. Und das ist zum Scheitern verurteilt. 2008 haben wir so augenscheinlich erlebt, wie der Finanzmarkt genau durch dieses Denken, alles beherrschen zu können, zusammengebrochen ist. Boaz Weinstein erläutert in der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 07.02.09, wie Banker arbeiten. Sie bedienen sich komplizierter mathematischer – also höchst rationaler - Modelle, in die die Wahrscheinlichkeiten aller denkbaren Ereignisse eingehen, bis ins Kleinste ausgetüftelt in der Überzeugung, damit jedes Risiko vermeiden zu können. Dennoch ging es schief, weil Unvorhergesehenes passierte, nämlich dass Lehmann Brothers pleite ging. Das brach den großen Banken das Genick. Die mathematische Berechnung ist die Rationalität, der Zusammenbruch von Lehmann ist das Leben. Das Leben ist immer unberechenbar, es ist immer neu und immer anders als von der Ratio berechnet und geplant; es sind immer viel mehr Faktoren beteiligt, als es vom Verstand her zu erfassen ist. Dabei wäre das Unvorhergesehene sogar zu sehen gewesen, wenn man zur Kenntnis genommen hätte, dass irgendwann die Immobilienblase platzen musste.
Von der Vernunft her glauben wir Frieden schaffen zu können. Vernunft kommt von vernehmen. Wir vernehmen die Möglichkeit zu Frieden, aber im konkreten Leben spielen immer andere Faktoren eine Rolle, eben der konkrete Mensch in seinem Ich-Sein. In der Realität befindet sich der Mensch im Ich, d. h. maßgebend sind für ihn das Bestimmtsein durch Art- und Selbsterhaltungstrieb. Solange er das nicht transzendiert hat, ist er diesen Bedingungen unterworfen und damit unfähig zu Frieden. Dem, was er von der Vernunft her für wünschens- und erstrebenswert hält, wird von seinem konkreten Menschsein her Prügel zwischen die Füße geworfen.
Im konkreten Leben spielen immer viel mehr Faktoren eine Rolle, als dass sie vom Verstand der beteiligten Menschen in Rechnung gestellt werden könnten.
Man braucht nur nach Afghanistan zu schauen und sich mit den Gegebenheiten zu beschäftigen – eine sehr hilfreiche Lektüre ist Can Mereys Buch „Die afghanische Misere“ – um zu begreifen, dass es an der konkreten Wirklichkeit des Menschen, an seinen Bedingtheiten und Lebensvorstellungen liegt, dass es Friede nicht geben kann. Wer kann die Paschtunen von ihrem Stammesdenken abbringen, was ja nur vom westlichen demokratisch geprägten Denken her wünschenswert ist? Wer ist berechtigt, anderen seine Vorstellungen vom Leben aufzuzwingen? Der Westen selbst hat Jahrhunderte gebraucht, um die Demokratie als die beste aller schlechten politischen Ordnungen zu verstehen – welche Auswirkungen es hat, wenn anderen Völkern Demokratie übergestülpt wird, ohne dass sie gewachsen ist, sieht man doch in Afrika. Das ist typisch vom Verstand her gedacht, ohne die Lebenswirklichkeit, in der die Menschen stehen, zu berücksichtigen. Faktoren, die den konkreten Menschen ausmachen, sind seine persönlichen Bedingtheiten, seine Überzeugungen, seine Erziehung, sein Charakter, seine Abstammung, seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volkgruppe. Der Mensch ist durch diese Faktoren bestimmt, und sie sind ihm weitgehend nicht bewusst.
Thomas Steinfeld behandelt das in der SZ vom 14.02.09 im Zusammenhang mit der Fatwa gegen Salman Rushdie. Er sieht ganz klar, dass der Westen, um den intoleranten Islamismus zu bekämpfen, selbst zu intoleranten Mitteln greift. „Die westlichen Werte (Freiheit und Demokratie - d. Verf.), auf die man sich zur Abwehr des Angriffs beruft, sind selbst keineswegs frei von Dogmatismus.“ Man „bildet sich also selbst nach dem Feind, dem man doch eigentlich hatte widerstehen wollen. So landet man in einem heillosen Widerspruch.“ „Denn wie viel ist die Freiheit wert, wenn sie mit Zwang einhergeht, wie viel der Pluralismus, wenn er oktroyiert ist?“ Man müsse ein Bewusstsein dafür entwickeln, was der Westen da „massenhaft an Bildern in die Welt setzt, ein Wissen darüber, wie totalitär selbst seine Glücksideale – die Liebe, die sexuelle zumal, das souveräne Ich, der materielle Erfolg – sein können.“ Seine Lösung: „Überwinden lässt sich der Fundamentalismus nur, wenn man ihm, aufgeklärt, auf allen Seiten entgegentritt.“ Die Analyse ist völlig richtig, aber die Lösung geht wieder von der Allmächtigkeit der Ratio aus, mit Hilfe derer der Mensch glaubt – wie eben alle, die auf die Ratio setzen -, der Gewalt mit Vernunft begegnen zu können. Dabei wird wieder nicht gesehen, dass man mit der Ratio in einer vom Ich und damit vom Art- und Selbsterhaltungstrieb bestimmten Welt einer unbeugsamen Macht gegenüber steht. So lange der Mensch im Ich steht, ist er von diesen unbewussten Mächten geleitet und er bekämpft in seinem Selbsterhaltungstrieb jeden, der ihm sein Lebensrecht in seinem Ichsein streitig macht.
Dabei hat der Mensch als Individuum natürlich ein Recht auf Selbstbehauptung. Der Unterschied aber zu seinem Selbsterhaltungstrieb als Ich besteht darin, dass das Individuum das Lebensrecht des anderen anerkennt und genau so hoch schätzt wie das eigene. Das kann das Ich nicht, es nimmt immer für sich Partei und sieht das eigene Lebensrecht immer höher an als das des anderen. (Ich habe die Unterscheidung zwischen Ich und Individuum ausführlich in „Der ganz normale Wahnsinn“ dargestellt).
Das ist der Grund, warum die – durchaus richtigen und vernünftigen - rationalen Erkenntnisse bei der Umsetzung im konkreten Leben scheitern, denn hier spielt immer die Sorge um das Ich die entscheidende Rolle. Die vernünftigen Erkenntnisse, die ein Mensch in Bezug auf seine Lebensführung hat, scheitern bei der Umsetzung am Ich und seinen eignen Bedingtheiten. Es liegt nicht am Wissen und an der richtigen Erkenntnis, sondern an den Faktoren, die das Tun beeinflussen, wie Eigeninteresse, Gefühl, Triebe, Vorlieben, Neigungen, Wünsche etc.
Eine Begebenheit, die in der SZ vom 25./26.04.09 geschildert wird, zeigt alle Facetten im Verhalten von Menschen, sowohl rationales Bemühen um Verständnis auf der einen Seite als auch das Durchbrechen der Triebe, sowohl der Sexualität als auch der Selbstbehauptung auf der anderen Seite. Ich darf sie kurz schildern, da sie wohl für jeden nachvollziehbar ist und das, was ich zu sagen versuche, nämlich dass in einer existenziellen Situation, wo die Interessen eines Menschen unmittelbar betroffen sind, die Ratio von den Urantrieben hinweggefegt wird, verdeutlicht:
Beim Streit um eine junge Frau (ein 17-jähriges Mädchen) hat ein 17-Jähriger einen 20-Jährigen mit einem Messer attackiert. Die beiden jungen Männer wollten sich zu einer Aussprache treffen, dabei ist die Situation eskaliert. Sie versuchten sich vernünftig zu verständigen, wie es unter zivilisierten Menschen möglich sein sollte. Aber es ging um ein elementares – naturhaftes – Interesse, eben um ein sexuelles. Und da siegte nicht die Ratio, sondern der elementare Selbsterhaltungstrieb, wo man mit aller Macht seine Interessen beansprucht, verteidigt und durchsetzt, wobei der Versuch der Tötung das letzte Mittel ist. Im Grunde verbirgt sich dahinter nichts anderes als der uralte, seit Millionen von Jahren tief verwurzelte Kampf zweier Männchen um ein Weibchen. Wenn man das begreift, dann fällt es einem nicht schwer, zu verstehen, dass es eine ungeheure Auseinandersetzung erfordert, wenn dieses Muster besiegt, überstiegen, eben transzendiert werden soll. Und das ist die dem Menschen auferlegte Aufgabe!
Wenn man nun weiß, dass der 17-Jährige türkischer Abstammung ist, dann ist sein Verhalten noch weniger verwunderlich, denn sowohl im türkischen wie auch im arabischen Kulturkreis wird die Dominanz des Mannes noch stark betont. Ich glaube, dass sich in der gesamten Auseinandersetzung mit dem arabischen Kulturkreis – und ich sage bewusst arabischen Kulturkreis und nicht Islam, denn mir scheint die Religion nur der Vorwand für tief verwurzelte kulturelle Prägungen zu sein – das Ringen um die Vorherrschaft des Mannes zeigt. Der Protest gegen den Westen ist ein Protest gegen die Aufgabe der Vorherrschaft des Mannes, die im Westen durch die Bestrebungen der Emanzipation der Frau allmählich vorangeschritten ist. Wenn ich damit recht habe, dann zeigt die elementare Wucht dieser Verteidigung der angemaßten Rechte des Mannes, mit welchen Urmächten man es zu tun hat. Von daher ist Ehrenmord gar nicht verwunderlich. Diese Vorherrschaft des Mannseins ist identisch mit der Vorherrschaft des Ichs. Die männliche Macht ist der Repräsentant des sich absolut setzenden Ichs. Diesen Satz kann man auch umkehren: Das sich absolut setzende Ich spiegelt sich in der Behauptung der Macht des Mannes wider.
Es ist immer leicht, bei anderen zu wissen, was sie falsch machen und wie sie sich verhalten sollten. Und häufig weiß man es auch bei sich selbst. Das Handeln bleibt aber meistens dahinter zurück, was man sich nur schwer eingestehen und vor anderen nicht zugeben kann. Deshalb muss man tricksen, verdrängen und anderen etwas vormachen. Die andern aber spüren das und deshalb ist man unglaubwürdig. Es ist die typisch pharisäische Haltung: Die Ansprüche, die man an die anderen stellt, kann man selbst nicht erfüllen. Und man macht sich immer besser als man ist, denn in der Erkenntnis ist man ja gut; dass man im konkreten Leben weit hinter den eigenen Zielen zurückbleibt, schiebt man beiseite oder findet immer Ausflüchte und rationale Begründungen.
So ist jeder gegen Korruption, hat er aber selber die Möglichkeit dazu, dann ist sein vorherrschendes Ich-Interesse der ausschlaggebende Faktor und nicht seine vernünftige Erkenntnis, denn das Ich sucht immer seinen persönlichen Vorteil. Dabei bleibt oft die simpelste Vorsicht außer acht, z. B. dass man damit rechnen muss, erwischt zu werden und dann Rechenschaft ablegen muss. Aber die Gier nach dem Vorteil übertönt alle Vernunfterwägungen und behält die Oberhand.
Ratio und Leben können nicht in Übereinstimmung gebracht werden. Was vom Verstand her lösbar zu sein scheint – glücklich in Partnerschaft und Familie zu leben, mit den Kollegen am Arbeitsplatz gut auszukommen, Frieden in der Welt zu schaffen usw. – ist im praktischen Leben nicht möglich, weil das eine sich in der Idee, im Denken, abspielt, die Lebenswirklichkeit aber den ganzen Menschen erfordert, und der ist eben dem Ich verhaftet, und das heißt, seinem Ego, seiner Selbstbezogenheit, seinen irrationalen Emotionen und Antrieben.
Daher ist es notwendig, dass das Ich transzendiert wird, dass, mit den Worten C. G. Jungs gesprochen, Individuation erfolgt, was bedeutet, sich in seiner Negativität, seinem Schatten und seinen unbewussten Antrieben zu sehen und sich damit auseinander zu setzen.
Wir schaffen uns durch die Ratio immer wieder Probleme, die wir dann nicht mehr lösen können, das ist der tiefe Gedanke in Goethes Zauberlehrling. Ob das die Versiegelung der Böden ist, wodurch das Regen- und Schmelzwasser nicht mehr aufgenommen werden kann, weshalb es zu verheerenden Überschwemmungen kommt, ob es unsere hochtechnisierte Welt ist, die die Klimaerwärmung mit ihren noch unabsehbaren Auswirkungen zur Folge hat, oder die Nutzung der Atomkraft, wo die endgültige Entsorgung des radioaktiven Mülls nicht gelöst werden kann. Die Ratio, mit deren Hilfe wir glauben, alles in den Griff zu bekommen, greift immer zu kurz. Die Wirklichkeit ist viel komplexer, als dass sie vom menschlichen Verstand erfasst und überblickt werden könnte Aber das wollen wir nicht glauben und verweisen auf die tollen technischen Leistungen, die wir schon vollbracht haben.
Die das gesamte Leben beherrschende Diskrepanz zwischen rational Wünschbarem und der konkreten Realität wird in der Forderung einer Schule ohne Noten sichtbar: Es ist eine wunderbare Vorstellung, junge Menschen ohne Notendruck heranwachsen zu lassen, das bedeutet ohne Konkurrenzkampf und in freier Entfaltung des Individuums, ohne Frustration und ohne Stress. Eine frustrationsfreie Erziehung ist eine wunderbare Idee. Es setzt aber den idealen Menschen voraus, und den gibt es nicht. Und die Lebenswirklichkeit zeigt sich ganz anders: Arbeitslosigkeit, aber schon die Furcht, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, bedeuten eine ungeheure Frustration und Stress. Wie soll ein Mensch dem Leben, das durch den Stress, dem der Mensch im heutigen Konkurrenzkampf ausgesetzt ist, gekennzeichnet ist, gewachsen sein, wenn er nicht gelernt hat, mit Frustration und Versagen umzugehen?
Die Lebenswirklichkeit, eben das vom Ich geprägte Wesen des Menschen, der nur etwas tut, wenn er unter Druck steht, verhindert die Funktionsfähigkeit einer Schule ohne Notendruck. Daran ist ja auch der Kommunismus gescheitert, weil der Mensch nicht freiwillig bereit ist, seinen Beitrag zu leisten, und deshalb setzt der Westen auf das kapitalistische System, das den belohnt, der sich einsetzt, wenn etwas für ihn herausspringt. Das fördert aber das Konkurrenzdenken und bewirkt, dass ich besser sein muss und will, um mehr zu sein und zu verdienen als die anderen. Und nun soll das bei Kindern gerade nicht gefördert werden. Wie kann dann ein so herangewachsener Mensch, von dem jeder Leistungsdruck ferngehalten wurde, in der vom Leistungsdenken beherrschten Wirtschaft bestehen? Hier sieht man das Auseinanderklaffen zwischen der hehren Idee und der konkreten Wirklichkeit. Es ist eine völlig widersprüchliche und unlogische Einstellung. Ich kann das Konkurrenz- und Leistungsdenken, das die Ich-Haltung repräsentiert, ablehnen und darauf hoffen, dass der Mensch von seiner Vernunft und gutem Willen her das tut, was notwendig ist.
Daran sind aber das Christentum genau so gescheitert wie der Kommunismus, und auch die Demokratie wird daran scheitern, wie die Finanzkrise gezeigt hat, die durch ihre Gier jetzt notwendige Beschränkungen durch den Staat erzwingt, was die kapitalistische Gesellschaft in Richtung Sozialismus drängt. Denn das Ego des Menschen denkt nur an seinen persönlichen Vorteil. Alle Versuche in der Geschichte, das kapitalistische Ich zu entthronen, haben versagt. Weder dem Christentum noch dem Kommunismus ist es gelungen, den Menschen aus seiner Ich-Verhaftetheit herauszuholen. Und auch der Demokratie wird es nicht gelingen und sie wird am Ich des Menschen scheitern. Demokratie ist genau so eine gute Idee wie Kommunismus und Christentum. Demokratie will die optimale Entfaltung des Einzelnen, der Kommunismus will die Gemeinschaft und das Christentum will beides. Und alle scheitern an der gleichen Gegebenheit: der Existenz des Menschen im Ich!
An dieser Ich-Haltung ist z. B. auch das Gesundheitswesen gescheitert: Ein Denken, wie es viele Menschen hatten, dass sie genügend Beiträge zahlen und deshalb das Recht hätten, auch die Leistungen in Anspruch zu nehmen – z. B. auf Kuren zu gehen, sich wahllos Medikamente verschreiben zu lassen, zu verschiedensten Ärzten zu gehen und wiederholt die gleichen aufwendigen und kostenintensiven Untersuchungen durchführen zu lassen -, hat das Kassensystem zum Zusammenbruch gebracht. Milliardensummen von ungenutzten Medikamenten liegen in den Schränken der Bevölkerung. Nur ein Bruchteil der Röntgenaufnahmen sind wirklich sinnvoll; soeben wurde nachgewiesen, dass eine Endoskopie des Knies bei Arthrose überhaupt nichts bringt. Vernünftiges und verantwortliches Handeln wäre es, wenn jeder nur dann die Leistungen in Anspruch nimmt, wenn er sie wirklich braucht. Nur so funktioniert ein Versicherungswesen, und so sind auch die Beiträge berechnet. Der egoistische Missbrauch brachte die Krankenversicherung zum Zusammenbruch. Und jetzt begehren Patienten und Ärzte auf und schimpfen auf die böse Ministerin und keiner will die Hintergründe – den früheren Missbrauch - sehen, die solch einschneidende Maßnahmen notwendig gemacht haben.
C. G. Jung führt diese Diskrepanz zwischen unserem rationalen Bewusstsein und den irrationalen Antrieben darauf zurück, dass durch das Eindringen des Christentums der barbarische Polytheismus zu plötzlich gestoppt und unterdrückt wurde. „Unsere geistige Existenz wurde in etwas verwandelt, was sie noch nicht erreicht hatte und im Grunde genommen noch nicht sein konnte. Und dies ließ sich nur bewerkstelligen durch eine Dissoziation zwischen dem bewussten Teil der Psyche und dem unbewussten. Es war eine Befreiung des Bewusstseins von der Last der Irrationalität und Triebhaftigkeit auf Kosten der Ganzheit des Individuums. Der Mensch wurde in eine bewusste und unbewusste Persönlichkeit aufgespaltet. … So wurden wir einerseits höchst diszipliniert, organisiert und rational, die andere Seite aber blieb ein unterdrückter Primitiver, abgeschnitten von Erziehung und Kultur“ (Jung, Bd. 10, 577). Und dieser „unterdrückte Primitive“ ist es, der uns immer in die Quere kommt Es ist der unkultivierte Art- und Selbsterhaltungstrieb der Natur, der sich deshalb immer wieder bemerkbar macht, weil er von der Ratio ignoriert und in seiner Mächtigkeit nicht ernst genommen wird. Darin besteht ja die Spaltung in die vom Bewusstsein beherrschte rationale Welt und die autonome Welt der irrationalen Antriebe. Und solange sich das rationale Bewusstsein weigert, sich mit dieser irrationalen, unbewussten Welt, der Nachtseite des Menschen, dem Schatten, auseinander zu setzen, solange wird sich nichts ändern.
Ob Jung mit der Ursache – dem abrupten Herausgerissen werden aus dem barbarischen Polytheismus durch das Eindringen des Christentums – recht hat, bezweifle ich, denn der Bericht vom Sündenfall im Alten Testament, der schon in vorchristlicher Zeit um 1000 v. Chr. formuliert wurde, nennt den gleichen Sachverhalt: Die Menschen aßen vom Baum der Erkenntnis, was den Sündenfall zur Folge hatte; die rationale Bewusstheit wird also als Unglück angesehen. Menschwerdung beginnt mit der Bewusstwerdung; es als Sündenfall anzusehen macht nur Sinn, wenn Bewusstwerdung aufs engste mit dem Ich-Sein in Zusammenhang steht. Das Ich wird zum Zentrum des menschlichen Bewusstseins. Nicht das Bewusstsein ist verhängnisvoll, sondern dass das Ich des Menschen sich ins Zentrum dieses Bewusstseins stellt. Es ist aber nur Zentrum des Bewusstseins, nicht des ganzen Menschen! Der Mensch ist viel umfassender als nur der Teil, der ihm bewusst ist. Und darin liegt das Problem, dass sich der Mensch mit seinem Bewusstsein identifiziert, d. h. mit seiner Rationalität und seinem bewussten Wollen und sich damit als Mittelpunkt seines Lebens sieht. Er ist aber viel mehr; es gehört all das zu ihm als Mensch, was er von sich wegschiebt, abdrängt und wovon er nichts wissen will: seiner triebhaften Natur, seiner Irrationalität, seinem Schatten, mit einem Wort: seinem unbewussten Aspekt. Das Ich ist Zentrum des Bewusstseins, glaubt aber Zentrum seines Menschseins zu sein. Das Zentrum seines umfassenden Menschseins aber, zu dem der gesamte Bereich des Unbewussten gehört, ist von ganz anderer Qualität und wird von C. G. Jung als Selbst bezeichnet, von anderen Denkern oder Denkrichtungen als Wesen, Wesenskern oder wahres Sein des Menschen.
Erst die Auseinandersetzung mit seinem Ich und seinen unbewussten Antrieben, was eine ungeheuere Anstrengung, großes Leid und Schmerzen bedeutet, könnte dazu führen, dass das Ich transzendiert wird. Aber gerade in der heutigen Zeit, wo alles leicht gehen muss, wo kaum einer bereit ist, Leid und Schmerz zu ertragen, sehe ich überhaupt keine Chance dazu.