Читать книгу Der trügerische Verstand - Anton Weiß - Страница 4

1 Kritik von Verstand und Logik

Оглавление

Ich kenne niemanden, keinen Philosophen und keinen Naturwissenschaftler, der die Zuverlässigkeit des Verstandes angezweifelt hätte. Alle sind überzeugt, dass sie mit ihrem Verstand gültige Aussagen über die Welt machen können.

M. Gabriel sagt, dass er alles in Zweifel gezogen, alles hinterfragt hat – aber eines hat er nie in Zweifel gezogen und nie hinterfragt: die Zuverlässigkeit seines Verstandes.

Alle Denker sind überzeugt, dass ihr Verstand das geeignete und in der Regel einzige Instrument ist, Wirklichkeit zu erfassen. Man muss sich schon mit spiritueller Literatur befassen, um auf den Gedanken zu stoßen, dass der Verstand nicht ausreicht, um unser Dasein vollgültig zu erfassen. Aber auch in diesem Denken wird diese Aussage mit dem Verstand gemacht. Jeder sinnvolle Satz setzt die Funktionstüchtigkeit des Verstandes voraus.

Wir machen unseren Verstand zur Norm unseres Verstehens und setzen seine Gültigkeit fraglos voraus. Wenn wir aber unseren Verstand hinterfragen – was sowieso nur wenige tun -, dann würden wir das wiederum mit unserem Verstand tun. Der Verstand würde also über die Gültigkeit des Verstandes urteilen.

Um es an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: Wenn ein Lehrer seinen eigenen Unterricht beurteilen würde, dann wäre jedem klar, dass das parteiisch sein würde. Genau so wäre es, wenn die Polizei Verfehlungen innerhalb der Polizei aufdecken sollte. Um ein zuverlässiges Urteil zu erhalten, muss immer ein Außenstehender eingeschaltet werden.

Wenn wir nun darüber urteilen, ob der Verstand wirklich alles beurteilen kann, dann müsste das von woanders her erfolgen als vom Verstand selbst. Wir bräuchten eine Ebene, die über Verstand und Wirklichkeit steht, eben einen Außenstehenden. Diese Metaebene aber haben wir nicht.

Dies zu erkennen bedeutet eine entscheidende Einschränkung der Gültigkeit des Verstandes.

Der Verstand wird immer Partei für sich ergreifen und sich als legitimen Beurteiler der Wirklichkeit ansehen. Das aber ist naiv und zeigt unsere Unfähigkeit anzuerkennen, wie begrenzt unser Verstand und damit unsere Erkenntnisfähigkeit in Bezug auf die Wirklichkeit ist.

Von daher leuchtet es auch ein, dass der Verstand alles leugnet, was von ihm nicht erfasst werden kann. Dies ist weitgehend in der traditionellen Wissenschaft der Fall, was Markus Gabriel durchaus sieht. Aber auch er setzt kritiklos den Verstand als die Größe an, mit der die Dinge erfasst werden können.

Ich behaupte, dass wir mit dem Verstand prinzipiell die Wirklichkeit nicht erfassen können. Wir erleben die Wirklichkeit vermittelt durch unseren Verstand und unterwerfen sie damit der Abstraktion. Nur mit Hilfe der Abstraktion ist der Verstand in der Lage, mit der Welt umzugehen. Damit haben wir aber nicht die Wirklichkeit als solche, sondern nur eine Abstraktion der Wirklichkeit; anders funktioniert der Verstand gar nicht. Welterfassen ist dem Menschen nur mit Hilfe von Verstand und Logik möglich, damit hat er aber nur ein dürres Skelett der Wirklichkeit. Die Einzelheiten des Konkreten kann er gar nicht erfassen. Wer erfasst denn die Wirklichkeit eines Baumes? Es gibt in der Wirklichkeit keinen Baum, weil „Baum“ ein Abstraktum ist, ein Begriff. Es gibt in der Wirklichkeit aber keine Begriffe, nichts Allgemeines, es gibt nur Konkretes. In der Wirklichkeit gibt es nur diesen einen, absolut einmaligen „Baum“ (deshalb in Anführungszeichen, weil ich ja in der Sprache den Begriff gebrauchen muss, um mich verständigen zu können); diesen konkreten Baum zu beschreiben würden 1000 Seiten eines Buches nicht ausreichen, weil das heißen würde, dass jedes einzelne Blatt bis ins Detail beschrieben werden müsste. Es würde u. a. bedeuten, die Vielfältigkeit seiner Verwurzelung in der Erde zu erfassen, was wiederum bedeutet, dass der Baum ohne die Erde gar nicht adäquat zu erfassen ist, und die Erde nicht ohne das Weltall. Das würde zeigen, dass alles mit allem in Zusammenhang steht.

Da alles mit allem verwoben ist, ist der Verstand gezwungen, die Dinge zu separieren. Die Separation liegt nicht in den Dingen, sondern der Verstand trägt sie in die Dinge hinein, um sie sich begreiflich zu machen. Nur wenn der Verstand die Dinge auseinanderreißt und damit voneinander trennt, vereinzelt und isoliert, kann er sie begreifen, eben in Begriffe fassen. Dadurch entsteht die Abstraktion.

Damit sind aber Verstand und Wirklichkeit durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt: Dem Konkreten der Wirklichkeit steht der abstrakte Inhalt im Verstand gegenüber. Diese Trennung kann nur aufgehoben werden, wenn der denkende Verstand überstiegen, transzendiert wird, was der Verstand aber gar nicht als Möglichkeit sehen kann.

Die Trennung liegt also nicht in der Wirklichkeit, sondern befindet sich auf Seiten des Verstandes, während Markus Gabriel vertritt: „Die Welt selbst ist in Bereiche eingeteilt“ (S. 62). Nicht umsonst ist in der Bibel beim Sündenfall davon die Rede, dass die Sünde darin besteht, dass der Mensch Gut und Böse erkennt. Im paradiesischen Zustand kennt er diese Unterscheidung nicht. Erst der Sündenfall bringt es mit sich, dass nun der Mensch diese Einteilung und damit die Trennung der Dinge vornimmt, die Trennung dessen, was zuvor eine Einheit war. Sünde heißt „sondern“, absondern und damit trennen. Die Ursünde der Menschheit besteht im Abtrennen der Dinge, die unlösbar zusammengehören. Nur durch die Trennung ist es dem Verstand möglich, in die Schöpfung einzugreifen; dadurch kann er sie ordnen, einteilen, korrigieren, kontrollieren und nach seinen Wünschen gestalten.

Das Hauptwerkzeug des Verstandes ist die Logik. Ganz sicher hat sie im Bereich der Verstandestätigkeit ihre Berechtigung. Wer aber sagt, dass sie auch für die Beurteilung des Lebens zuständig ist?

Für die Logik gilt das gleiche wie das für den Verstand Gesagte: Die Beantwortung der Frage, ob die Logik adäquat auf das Leben angewandt werden kann, kann wiederum nur vom logischen Denken her beurteilt werden. Wieder urteilt die Logik über die Logik, was nicht anders als parteiisch für die Logik enden kann.

Mit Logik kann ich nicht darüber urteilen, ob logisches Denken anwendbar ist oder nicht. Man bräuchte eine Metaebene, um diese Frage zu beantworten. Die aber haben wir nicht!

Und so bleibt alles auf Sand gebaut, was wir mit dem Verstand erfassen, weil nicht geklärt werden kann, ob er überhaupt fähig ist, die Wirklichkeit adäquat abzubilden. Das müsste bei allem Nachdenken über die Welt im Hintergrund stehen und uns bescheiden und nachdenklich machen.

Ein Beispiel, das zeigen soll, dass Logik nicht auf die Wirklichkeit des Lebens angewandt werden kann (ich verwende hier einen Gedanken, den ich in „Intelligent atheistisch oder dumm gläubig“ gebracht habe): Denken Sie an eine Fußballmannschaft, die schon lange nicht mehr gegen eine andere gewonnen hat: Ist es logisch, dass sie diesmal auch nicht gewinnen wird oder ist es logisch, dass sie diesmal gewinnen wird? Ich sehe beides als gleich logisch an, das Gegenteil ist genau so logisch! Oder: Wer beim Roulette 100 mal hintereinander auf die 8 gesetzt und nie gewonnen hat, setzt jetzt wieder auf die 8. Was ist logischer: dass es diesmal die 8 wird oder wieder nicht? Es gibt für beide Meinungen logische Argumente und damit ist klar, dass Logik nicht auf das konkrete Leben anwendbar ist.

In dem Moment, wo ich dem Leben, der Wirklichkeit beikommen möchte, komme ich gar nicht daran vorbei, widersprüchliche und paradoxe Aussagen zu machen. Wenn ich mich um Spiritualität bemühe, dann gilt, dass ich selber gar nichts bewirken kann und zugleich, dass ich hart an mir arbeiten muss, oder noch klarer: „Du kannst die Befreiung nicht bewirken - und nur du kannst es“, was jeder versteht, der diese Erfahrung kennt, was logisch aber nicht nachvollziehbar ist.

Aber schon für die Klingelschaltung gilt: Wenn „an“, dann „aus“ und wenn „aus“, dann „an“, ein logischer Widerspruch. Aber nur dadurch funktioniert die Klingel, wenn ich auf den Knopf drücke.

Es gibt ein Experiment in der Gehirnforschung, das zeigt, dass die Logik dem Leben nicht angemessen ist.

David Eagleman zeigt in einem überzeugenden Versuch auf S. 102f, dass unser Gehirn nicht dazu programmiert ist, logische Probleme zu lösen, sondern lebenspraktische. Die Logik ist also gar nicht geeignet, über das Leben Aussagen zu machen. Logik ist eine Struktur des Denkens, die nur innerhalb des Denkens Gültigkeit hat. Das Leben verläuft nicht nach logischen Gesetzen! Dazu eine kleine Geschichte, die vielleicht manchem bekannt ist: Der Sohn eines Bauern stürzt vom Pferd und bricht sich das Bein. Alle bedauern den Bauern, weil ihm nun bei der Ernte eine wichtige Hilfskraft fehlt. Das ist völlig logisch gedacht. Der Bauer aber erwidert: „Wer weiß, wofür es gut ist.“ Kurz darauf schickt der König seine Soldaten aus und rekrutiert alle wehrfähigen Männer des Dorfes. Der Sohn des Bauern wird natürlich nicht eingezogen, weil er ja ein gebrochenes Bein hat. Alle Dorfbewohner beneiden jetzt den Bauern, weil er so großes Glück hat und seinen Sohn behalten kann. Das ist die Logik des Lebens! Der Bauer weiß, dass das Leben nicht nach der menschlichen Logik verläuft und dass alles der Veränderung unterliegt.

In der Demenz wird sichtbar, wie zerbrechlich unser Verstand ist. Wer sicher in seinem Versand zu stehen glaubt, nimmt das leider nicht ernst, dabei kann es jeden treffen. Es ist eben völlig trügerisch, den Verstand als feste, sichere Basis des menschlichen Lebens anzusehen. Das ist wirklich eine Illusion!

Auch in der Schizophrenie entgleitet einem der Verstand. Wer die Dissoziation des Verstandes kennen gelernt hat wie ich, der weiß, wie wenig wir in der Hand haben und wie sehr wir darauf angewiesen sind, dass der Versand funktioniert. Entgleitet der Verstand, dann entgleitet die Welt!

Es gibt keinen Beweis, dass das Weltgeschehen nach logischen Regeln verläuft. Unsere Logik wird zum Maßstab für alles Erscheinende gemacht, ohne dass begründet wird, dass die Logik auch wirklich dazu geeignet ist. Der Mensch setzt naiverweise voraus, dass alles nach logischen Abläufen sich vollzieht. Mit welchem Recht?

Um es noch an einem Beispiel zu zeigen: Wenn ein Stürmer im Fußball 5 m vor dem leeren Tor steht, dann ist doch zu erwarten, dass er den Ball ins Tor trifft. Jeder Fußball-Fan weiß, dass dem überhaupt nicht so ist. Ich amüsiere mich immer über die Reporter, die in einem solchen Fall völlig konsterniert die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und überhaupt nicht verstehen, wie so etwas passieren kann. Sie haben einfach noch nicht kapiert, dass das Leben nach ganz anderen Gesetzen verläuft als wir vom Denken her erwarten.

Nur wenn sich zeigen ließe, dass die Welt der Logik des Verstandes unterworfen ist, dürfte man das behaupten. Dies aber könnte man wiederum nur mit der Logik zeigen, womit die Logik, wie gezeigt, über sich selbst Richter wäre. Die Metaebene steht uns nicht zur Verfügung und ich bezweifle, dass die Logik dabei gut wegkommen würde. Die Logik ist die Weise des Verstandes, mit der er sich die Welt unterjocht; das Ergebnis sehen wir heute, darin stimme ich mit Markus Gabriel völlig überein!

Nur wenn man Logik und Verstand relativiert und sie in ihrer Beschränktheit und Unzulänglichkeit aufzeigt, sehe ich eine Chance, sich der Wirklichkeit und dem Leben so zu nähern, dass sich der Mensch nicht als der Überlegene über die gesamte Schöpfung erhebt und glaubt, sich alles unterwerfen zu können.

Der trügerische Verstand

Подняться наверх