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Vorgeschichte

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Vielen heutigen Menschen sagt die christliche Botschaft nichts mehr, da sie als ein mehr oder weniger tradierter Glaube an überliefertes Gedankengut aufgefasst wird. Schon Karl Rahner hat gesagt, dass Glaube in heutiger Zeit nur mehr möglich ist, wenn Erfahrung dahinter steht, „oder er wird nicht mehr sein“ (aus dem Gedächtnis zitiert). Um aber Glaubenserfahrung zu machen, muss ein elementares Interesse daran vorhanden sein, ganz nach dem Jesuswort: „Suchet zuerst das Reich Gottes, und alles andere wird euch hinzugegeben werden“ (nach Mt 6,33) (alle Bibelzitate nach „Die Bibel“, Einheitsübersetzung Altes und Neues Testament; Herder 2009, sofern nicht anders angegeben; die Abkürzungen entsprechen dem üblichen Gebrauch: Gen für das erste Buch Moses etc.).

Dieses elementare Interesse aber kann man heute kaum mehr irgendwo sehen. Das Hauptinteresse der meisten Menschen besteht heute darin, ihren Wohlstand zu mehren. Die Kirchen haben es nicht verstanden, die christliche Botschaft für den modernen Menschen verstehbar zu machen. Sie beschränken sich in der Regel zu sehr auf ein Für-wahr-Halten von Glaubensinhalten. So stehen die Erfahrungen des Lebens moderner Menschen nicht mehr in Verbindung mit der christlichen Botschaft, und das müsste durchaus nicht so sein.

Die katholische Kirche hat es in den Anfängen der Tiefenpsychologie versäumt, darin eine Chance für eine Neuinterpretation christlichen Gedankenguts zu sehen. Gerade die psychologischen Erkenntnisse hätten für ein tiefgehendes neues Verständnis christlicher Glaubensinhalte erkannt werden müssen, was aber nicht geschah. Kein Wunder, dass heute der Psychotherapeut an die Stelle des Priesters und Beichtvaters getreten ist.

Sehr wohl hat es aber einzelne Personen im Raum der Kirche gegeben, die schon früh erkannt haben – z. B. Josef Goldbrunner in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts –, dass die Psychologie eines C. G. Jung sehr nahe an christliche Grundwahrheiten heranreicht. Für mich, der ich damals Theologie studierte, waren seine Bücher wegweisend.

Mein Leben verlief im wahrsten Sinne des Wortes „katholisch“, d. h. allumfassend. Neben Psychologie interessierten mich vor allem andere Religionen, insbesondere die östlichen, ganz besonders aber der Zen-Buddhismus. Hier fand ich, besonders durch das Buch von Eugen Herrigel „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ das, was ich als Kern der religiösen Ausrichtung verstand: Dass es etwas geben muss, das dem Verstand nicht zugänglich ist und das dennoch in das Leben des Menschen einbrechen kann. So verstand ich auch die geheimnisvollen Gleichnisse Jesu vom Reich Gottes. Ich spürte, dass es da etwas gibt, was dem Zugriff des Menschen entzogen ist. C. G. Jung bezeichnet dies als eine „schwer zu erringende Kostbarkeit“, worauf das Gleichnis vom Schatz im Acker oder der kostbaren Perle ebenfalls hinweisen. Mein ganzes Leben war darauf ausgerichtet, diese Kostbarkeit zu erlangen. Was ich aber konkret hatte, war lediglich der Glaube daran, dass es das gibt. Mit zunehmendem Alter stellte ich fest, dass die meisten Menschen diesen Glauben, diese Hoffnung, dass es etwas gibt, was den Verstand übersteigt, längst aufgegeben und sich den Freuden und Genüssen des Lebens zugewandt hatten. Die Wissenschaften lieferten ein Erklärungsmodell für die Entstehung und Entwicklung der Welt und des Lebens, das den Glauben an einen Gott überflüssig machte. Da es mir nie eingeleuchtet hat, dass es eine Welt ohne Verursacher geben kann, merkte ich, dass ich mit meinen Auffassungen ins Abseits geriet und behielt weitgehend meine Überzeugungen in meinen privaten Kontakten für mich. Da ich Religionslehrer war, hatte ich ja in den Klassen, die ich unterrichtete, ein Betätigungsfeld für sie.

Immer blieb in meinem Leben die Suche nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethe, Faust) lebendig. Ich spürte ein Verlangen, von dem ich längst begriffen hatte, dass es nicht durch Haben von Gütern und allen Freuden, die das Leben bieten kann, gestillt werden kann. Ganz nach dem Satz des hl Augustinus: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, o Gott“. Wir tragen in uns ein unstillbares Verlangen und mir wurde klar, dass dieses Verlangen nicht auf der horizontalen Ebene - also der Ebene der hab- und erwerbbaren Güter (auch geistiger, z. B. Wissen) -, seine Erfüllung finden kann, sondern nur in der vertikalen Dimension, also im geistig-spirituellen Bereich. Ich sehe heute dieses unstillbare Verlangen in seiner Entartung als Gier und Sucht in unserem gesellschaftlichen Leben. Welche Ausmaße das erreichen kann, hat die Finanzkrise 2008/2009 gezeigt, die letztlich die unstillbare Gier nach Vermehrung seines Reichtums darstellt. Wie unstillbar dieses Verlangen ist, könnte man begreifen, wenn man die sexuellen Perversionen, denen sich Menschen hingeben, ernst nehmen und nicht als extremes oder krankhaftes Verhalten einzelner abtun würde. Auch in allem, was als Sucht bezeichnet werden kann, wird dieses unstillbare Verlangen sichtbar, genau so wie in Selbstmord und Amoklauf, Zerstörungswut sich selbst und anderen gegenüber aus Verzweiflung, weil das nicht gefunden wird, was der Mensch so dringend braucht. Aber wir haben uns angewöhnt, so etwas als Ausdruck von psychischer Störung anzusehen, deren Ursachen in neurologischen oder genetischen Gegebenheiten zu sehen sind. Wir glauben allen Ernstes, dass, wenn ein Mensch alles hat, was zum Leben nötig ist, er zufrieden leben kann. Wir verkennen und ignorieren völlig die Grundforderung, die das Leben uns stellt: das Ich zu transzendieren, den wahren Grund seines Menschseins, seine Quelle zu erkennen bzw. zu erleben und aus ihr zu leben. Darum geht es in diesem Leben.

Es vergingen die Jahre, es vergingen Jahrzehnte, und immer noch war dieses Verlangen nicht gestillt. Ich wurde nie schwankend in meinem Glauben - aber die ersehnte Erfüllung blieb aus. Und das Wissen um dieses unstillbare Verlangen nützt gar nichts; es bleibt ein unstillbares Verlangen, auch wenn man weiß, dass es durch Güter nicht zufrieden gestellt werden kann. Das Verlangen bleibt, auch wenn man alles hat, was man sich ersehnt, z. B. auf sexuellem Gebiet oder an materiellen Gütern oder an gesellschaftlichen Kontakten. Das Verlangen bleibt ungestillt, auch wenn man genügend von dem hat, was man zu brauchen glaubt, um ein zufriedenes Leben führen zu können. Daraus erklärt sich auch die Verzweiflung, die oft Menschen erfasst, die alles haben, was man zum Leben braucht, weil sie die Hintergründe nicht durchschauen und eine Verzweiflungstat begehen, Selbstmord oder das Auslöschen der eigenen Familie. Für die Außenstehenden regelmäßig ein nicht zu verstehendes Ereignis.

Als ich fünfzig war, erinnerte ich mich an eine Zen-Geschichte, wo der Zen-Schüler mit vierzig Jahren die Erleuchtung fand. Als ich diese Geschichte mit etwa zwanzig Jahren las, dachte ich: „Nein, so lange möchte ich nicht warten!“ Mit Fünfzig erkannte ich: „Oh, wie früh kam der Mann zur Erleuchtung!“

Ich war schon mehrere Jahre in Pension, als es mich schicksalhaft ereilte, und es war alles andere, als ich mir Erleuchtung oder Befreiung vorgestellt habe. Es war die totale Katastrophe. Es war über mehrere Jahre hinweg der absolute Albtraum. Ich habe das ausführlich in „Mein Weg aus der Ausweglosigkeit“ beschrieben.

Aber ich war nicht der erste, dem so etwas widerfahren ist. Ich erinnerte mich an den Titel eines Buches des spanischen christlichen Mystikers Johannes vom Kreuz – die Mystik ist von der Kirche immer misstrauisch beäugt worden; über Meister Eckhart wurde der Bann verhängt! – mit dem Titel „Die dunkle Nacht“. Dieses Buch kaufte ich mir jetzt und fand tatsächlich große Ähnlichkeit mit meinen drangvollen Erlebnissen. Zwar in einem sprachlichen Gewand, das man sich in heutige Denkweise übertragen musste, aber das fiel mir nicht schwer.

Diese Schrift gab mir großes Vertrauen, doch nicht verrückt zu sein, sondern einen offensichtlich notwendigen Prozess zu durchlaufen, ohne den es eine Transzendierung des Ichs, wie ich es heute bezeichne, nicht geben kann.

Und das ist es, worum es in diesem Leben geht, das ist die große Kostbarkeit, die nicht machbar ist, über die der Mensch in seinem Ich-Sein keine Verfügungsgewalt hat, die reine Gnade ist, ein urchristlicher Begriff, mit dem heute kaum jemand noch etwas anfangen kann in einer Welt, in der alles machbar zu sein scheint.

Darin liegt das große Ärgernis, dass es eben nicht machbar ist, nicht herbeizwingbar, auch wenn sich ein Suchender noch so viel Mühe gibt und bereit ist, noch so große Opfer zu bringen. Wenn es sich ereignet, ist es reine Gnade und man hat nichts dazu getan, außer sich vielleicht von der Suche nicht abbringen lassen, ganz nach dem Jesuswort: „Wer suchet, der findet, wer anklopft, dem wird aufgetan“ (nach Mt 7,7). Auch dass man dieser Bedrängnis standhalten konnte, ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk. Es ist reine Gnade, wenn man daran nicht zerbrochen ist, was durchaus in Reichweite lag.

Hierin zeigt sich auch, dass der Schuldbegriff äußerst fraglich ist, denn Schuld setzt willentliches Handeln voraus. In der Situation, in der ich mich befunden habe, gibt es kein willentliches Handeln mehr, es gibt nur einen Ertrinkenden, der um sein Überleben ringt. Und dass er überlebt, ist ein Wunder. In dieser Situation gibt es keinen mehr, der etwas tut, schon gar nicht ein bewusstes Wollen. Es gibt nur ein Erleiden.

Mir drängte sich später der Vergleich auf, dass es ein ähnlicher Prozess sein müsste, wie die Raupe zu einer Puppe und die Puppe zu einem Schmetterling wird, für mich ein grandioses Wunder, wo man sich fragen muss, worin die Kontiniutät beim Übergang von einem Stadium in das andere besteht. Was bleibt vom jeweils vorhergehenden Zustand? Ich kann nichts sehen, und doch muss es etwas geben. Ich denke, dass die Raupe und die Puppe jeweils einen Tod erleiden müssen, damit der Schmetterling geboren werden kann. Genau so muss das Ich den Tod erleiden, wenn der Mensch in seinem wahren Sein sichtbar werden soll. Und genau so unerfindlich ist das, was die Kontinuität bei der Transzendierung des Ichs aufrecht erhält; ich habe es mit Meister Eckhart als Seelenfünklein bezeichnet. Mir liegt es aber näher, von Bewusstseinsfünklein zu reden, weil ein allerkleinster Rest von Bewusstsein erhalten bleibt, weil es die winzige, kaum wahrnehmbare Fähigkeit ist, sich in seiner großen Not, in der Bedrohung durch das Verschlungenwerden zu sehen und voll auf Gott zu hoffen, weil man begriffen hat, dass man selbst nichts mehr tun kann. Man könnte es mit dem Sich-seiner-selbst-Gewahrsein beschreiben, wenn ich nicht den Eindruck hätte, dass dies, so wie es von Nisargadatta, Hartong und anderen verwendet wird, als eine souveräne Haltung erscheint. So wie ich es erlebt habe, war es alles andere als souverän, es ist nur vergleichbar mit einem Ertrinkenden, der verzweifelt um sein Überleben kämpft und plötzlich wunderbarerweise festen Boden unter den Füßen verspürt.

Der Herr des Seins ist gnädig: Der Tod ist nur 99,999-%ig, nicht 100-%ig. Diese 0,001 Prozent sind das, was ich mit Bewusstseinsfünklein bezeichne, die winzige Fähigkeit, sich in seinem großen Elend sehen zu können. Es ist der Rettungsanker, von dem her sich das neue Sein auftut. Es ist der Seidenfaden, der vom jenseitigen Ufer herüberreicht ins Bewusstsein. Er wird erst sichtbar, wenn das Ich zusammengebrochen ist. Alles sich selbst beobachten, sich von sich distanzieren, sich seiner selbst gewahr sein, was spirituelle Schriften empfehlen, ist m. E. immer noch Teil des Ichs. Ich und Denken bzw. Erkennen sind zunächst unlösbar miteinander verbunden. Erst wenn das Ich zusammengebrochen ist, schält sich ein Gewahrsein heraus, das mehr ist als Ich.

Wenn ich den Tod des Ichs als notwendig zur Transformation bezeichne, so ist das keine bildliche Rede. Es ist tatsächlich die einzige Ausdrucksweise, die diesem psychischen Geschehen gerecht wird. Dadurch erscheinen mir heute Tod und Auferstehung Jesu in einem völlig neuen Licht: Es geht nicht um den physischen Tod, sondern um den Tod des Ichs. Aufgrund der erschütternden Ereignisse, die ich 2005 durchmachen musste, sehe ich jetzt die zentrale Aussage der christlichen Botschaft völlig neu.

Transzendierung des Ichs und christliche Botschaft

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