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2.

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Zwei Stunden und einige halbherzig ausgeführte Versuche einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit nominaler Syntax später war Markus auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle. Zu seiner vorübergehenden Arbeitsstelle, wie er stets betonte. Dieser Job war nur eine Übergangslösung, bis er mit dem Studium fertig war.

Ein provisorischer Zustand, der seit nunmehr fünf Jahren anhielt.

Allerdings war der erfolgreiche Abschluss des Studiums auch heute kein Stück näher gerückt. Es war zwecklos. Er konnte sich nicht konzentrieren und verspürte vor allem keine akute Lust, sich mit dem „Kommunikationsbereich Börse“ weiter zu beschäftigen.

Bevor er das Gebäude betrat, das wirklich keinerlei Ähnlichkeit mit einem Schulgebäude hatte, steckte er sich vor dem Lieferanteneingang noch eine schnelle Dienstantrittszigarette an und dachte darüber nach, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er den folgenden Nachmittag mit Aufsatzkorrekturen oder in irgendwelchen Fachkonferenzen verbringen würde, anstatt Fernseher an eine bildungsferne Kundschaft zu verkaufen.

„Ey Digga, gib ma ne Kippe“, holte ihn eine Stimme in die weniger karriereträchtige Realität zurück.

Die Stimme gehörte einem jungen Mann in einem schäbigen Kapuzenpulli, Typ halbstarker Rowdy, der sich breitbeinig vor ihm aufgebaut hatte ihn fordernd ansah. Dieser Mensch wirkte noch derangierter als er selbst. Verwirrt starrte Markus ihn an, irritiert durch das unverschämte Gebaren dieses Kerls, der ihn einfach duzte und noch nicht einmal in der Lage war, sein Anliegen mithilfe des Wörtchens „bitte“ ansatzweise akzeptabel vorzutragen.

„Alter, gib ma jetzt bitte ne Kippe. Was'n los mit dir, ich hab ganz freundlich gefragt und du ziehst jetzt hier so ne Fresse oder was?“

Obwohl ihm das Auftreten seines Gegenübers ganz entschieden missfiel, fingerte Markus eine Zigarette aus seiner Schachtel und hielt sie dem Halbstarken schweigend hin. Immerhin hatte der Typ bei der Wiederholung seiner Forderung doch irgendwo ein Bitte untergebracht. Markus hatte zudem kein Interesse daran, die Situation eskalieren zu lassen, und eine Grundsatzdiskussion über angemessene Umgangsformen schien ihm hier ziemlich zwecklos. Stattdessen schnipste er seine eigene Zigarette fort, obwohl sie bestimmt noch für drei, vier Züge gut gewesen wäre, und setzte sich in Bewegung, um die ganze Situation einfach aufzulösen, wurde aber durch den Kapuzenmann aufgehalten, der plötzlich wieder vor ihm stand:

„Ey, gib ma wenigstens noch Feuer!“

„Wenigstens?“ erwiderte Markus.

„Was heißt denn hier wenigstens? Ich habe dir gerade eine Zigarette gegeben, das muss reichen.“

Nun schien die Situation irgendwie aus dem Ruder zu laufen.

„Ey, machst du mich an oder was? Willst du ich jetzt schlagen? Wer bist du denn überhaupt, du Spast? Was ist denn das für ein Scheiß-Schild an deinem Hemd? Jupiter Elektronik! So ein Scheißladen. Du Wichser!“

Wortlos beschleunigte Markus seine Schritte Richtung Eingang und zückte bereits seinen Schlüssel, um möglichst schnell in den Elektro-Markt zu gelangen. Zum Glück verfolgte ihn der Typ nicht ernsthaft, schickte aber noch einige wüste Beschimpfungen und Drohungen hinterher.

„Wenn du die Polizei rufst, schlage ich dich tot. Ich schwöre!“

Endlich war er im Treppenhaus und schlug die Tür hinter sich zu. Zwar konnte er nicht behaupten, heute eine besonders ausgeprägte Lebenslust zu verspüren, ganz im Gegenteil, aber das Ableben durch die Hand eines kleinkriminellen Kiffers war trotzdem eindeutig keine Option.

Während er die Treppe ins zweite Obergeschoss zu seiner Abteilung (TV/Multimedia) hinaufstieg, immer noch leicht gekrümmt gehend trotz der zwei Ibu 600, die er eingeworfen hatte, fragte er sich, warum um alles in der Welt er eigentlich immer alles einfach so hinnahm, statt einem Zeitgenossen wie diesem missratenen, unverschämten Möchtegern-Gangster mal so richtig die Leviten zu lesen. Zwar glaubte er nicht, dass eine körperliche Auseinandersetzung viel Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, dazu hatte er weder das Talent noch die Eier, aber er hätte ihm wenigstens mal ordentlich die Meinung geigen können: dass es eine Unverschämtheit sei, andere um Zigaretten anzuschnorren und sich dermaßen undankbar zu zeigen, dass es unmöglich sei, ohne erkennbaren Grund seine Mitmenschen zu bedrohen und auf übelste zu beleidigen, dass ER wenigstens für sein Geld arbeitete, wenn auch zugegebenermaßen in einem Scheißladen, während andere auf der Straße herumlungerten und Passanten belästigten, dass er vor allem keine Angst vor einem dahergelaufenen Flegel habe (obwohl er in Wahrheit tatsächlich ein bisschen Angst gehabt hatte) und so weiter und so fort.

Auch kam er zu dem Schluss, dass es sehr wohl angemessen gewesen wäre, die Polizei zu rufen, genau genommen wäre das in dieser Situation sogar das einzig Vernünftige gewesen. Wahrscheinlich wäre er dann aber zu spät zur Arbeit gekommen und hätte sich vor Tietze, dem Abteilungsleiter, rechtfertigen müssen, und für eine derartige Auseinandersetzung hatte er wiederum auch keinen Bedarf.

Was für ein beschissener Tag.

Er würde in Zukunft einfach mehr reden müssen.

Es nützte nichts, Probleme totzuschweigen und alles in sich hineinzufressen, was einen am Leben störte. Einfach mal rauslassen, was einem stinkt.

„Ah, Engler, da sind Sie ja. Wie sehen Sie denn aus? Wollen Sie mir meine Kunden verschrecken? Sie wissen doch, always keep smiling!“, wurde Markus' Gedankengang schlagartig unterbrochen.

„Äh...was? Guten Tag, Herr Tietze. Entschuldigung, ich war gerade etwas in Gedanken.“, stammelte Markus.

„Nein, nein, Engler, was fange ich mit Ihnen bloß an? Passen Sie auf, Folgendes: Wir haben heute einen Sangsong 52 Zoll für 399 in der Werbung. Die Sache ist die, dass wir den eigentlich gar nicht auf Lager haben, Sie wissen schon, brauche ich Ihnen doch nicht zu erklären. Anyway – keep smiling, verkaufen Sie den Leuten irgendwas anderes, am besten die CXT-301er von Rotpunkt, die müssen raus. Am Ende des Tages geht es um Umsatz, und wir müssen alle sehen, wo wir bleiben. Noch Fragen?“

Nein, Markus hatte keine weiteren Fragen und nuschelte lediglich ein „Geht schon klar“, was ihm eine weitere Aufforderung seines Vorgesetzten einbrachte, stets zu lächeln sowie einige Hinweise zu den Stichworten „Corporate Identity“ und „Compliance“, die er aber gar nicht mehr vollständig wahrnahm.

Er hatte es satt, sich von dieser Knalltüte bevormunden zu lassen. Was war das für eine Welt, in der arglose Kunden mit fiktiven Angeboten in Elektronikmärkte gelockt wurden, damit man ihnen dort minderwertige Produkte zu überhöhten Preisen andrehte? War das nicht am Ende des Tages nichts weiter als eine Form von Betrug? Und überhaupt, was verzapfte dieser Tietze eigentlich permanent für einen Schwachsinn, garniert mit sinnentleerten Anglizismen? Warum trug dieser Mann Micky-Maus-Krawatten und schwarze Lederslipper mit Bommeln?

Und – warum sagte er, Markus, ihm dies alles nicht einfach mal ins Gesicht, statt sich im Nachhinein die schönsten und schlagfertigsten Erwiderungen auszumalen, die dann doch niemals jemand zu hören bekam?

Markus hatte eine Entscheidung getroffen, und er war fest entschlossen, sie diesmal konsequent umzusetzen.

Hätte er geahnt, dass es sich nur um die erste von mehreren folgenschweren Entscheidungen an diesem Tag handeln sollte, hätte er zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von ihren Konsequenzen gehabt – möglicherweise wäre er mit einer gänzlich anderen Haltung in das erste Verkaufsgespräch dieser Schicht gegangen, das sich anbahnte, als ein kleiner dicker Junge ihm mit dümmlich-aggressivem, kariösem Grinsen eine bunt blinkende Plastik-Laserkanone in die Lenden drückte.

„Brrrrrrrrrr....Tatatatata.....schschschschschsch.....baaaammmm! Du bist tot!“

„Herzlich willkommen bei Jupiter“, wandte sich Markus mit aller Professionalität, die er aufzubringen vermochte, an die beiden Gestalten, die das Kind umrahmten und bei denen es sich offensichtlich um die Eltern handelte. Sie sahen aus, als wären sie just einer dieser einschlägigen Reality-Dokus eines zweitklassigen Privatsenders entstiegen, Unterschichtenfernsehen live sozusagen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Boooaaammm! Du bist TOT!“, wiederholte der Junge, der vielleicht fünf Jahre alt sein mochte.

„Wir wollen so einen“, sagte der Mann, dessen Sprössling fortgesetzt mit seiner Kanone auf Markus zielte, und wedelte mit dem aktuellen Werbeprospekt. „Den Sangsong für 399“, präzisierte er und deutete mit nikotingelbem Zeigefinger auf die entsprechende Abbildung.

„Tot! Tot! Tot!“

„Ey Justin, halt ma die Schnauze jetz, sonst gibs kein' neuen Fernseher!“, schaltete sich die Mutter ein.

„Haben Sie vielleicht schon mal über einen aus der CXT-301er Reihe nachgedacht?“, versuchte Markus, das Gespräch in etwas günstige Bahnen zu lenken. Er spürte, dass er es hier mit einem etwas härteren Fall zu tun haben könnte.

„Von Rotpunkt?“

„Hä? Nee, ich mein den hier. Mit den 52er Bildschirm. Bei so'n kleinen Fernseher kriegt unser Justin noch schlechte Augen, und wir sind doch keine schlechten Eltern, dass das ma klar ist!

Ne, Justin?“

„Ich will ein Eis!“, vermeldete dieser.

„Es gibt jetz kein Eis“, intervenierte die Mutter, „ess ma erst ma deine Chips noch auf!“

Das konnte ja heiter werden, dachte Markus.

Obwohl – bot sich hier nicht eine willkommene Chance, einmal Klartext zu reden? Diesen Leuten mal klipp und klar zu sagen, was er von ihren Erziehungsmethoden hielt? Wozu brauchte denn dieser adipöse Bengel in dem Alter einen eigenen Fernseher? Hatte er nicht eben erst eine Entscheidung getroffen?

Nur wenig später hatte auch Herr Tietze eine Entscheidung getroffen, und Markus bekam die Gelegenheit, frei von der Leber weg zu sagen, was ihm alles nicht passte an seinem Job, seiner Kundschaft und überhaupt seinem ganzen Leben, wenn sich auch dadurch deutlich ungünstige Folgen abzuzeichnen schienen.

„Es ist ja nun nicht das erste Mal, dass sich Kunden über Sie beschwert haben“, begann Tietze, der die Ellenbogen auf seinem Schreibtisch aufgestützt hatte, einen „Jupiter“-Kugelschreiber von einer Hand in die andere gleiten ließ und Markus durch seine randlose Brille mit goldenen Bügeln bedeutungsschwer ansah. „Aber dieses Mal haben Sie es wirklich übertrieben. Lückenhafte Fachkenntnis ist ja das eine. Ihre Träumerei und der mangelnde Punch, der fehlende Wille zum Abschluss vielleicht auch. Aber was haben Sie ich dabei gedacht, unseren Kunden zu sagen, Sie sollten nach Hause gehen und ein Buch lesen, von wegen sie könnten hier keinen Fernseher kaufen? Meine Güte, Engler. Was steht denn auf dem Schild an Ihrem Hemd? Steht da etwa Oberlehrer Markus, Privatuniversität Engler? Oder steht da Jupiter Elektronik? Sagen Sie es mir!“

Markus kannte die Antwort, aber die Frage war seiner Ansicht nach falsch gestellt.

„Was heißt denn hier beschwert?

Er merkte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren trat, obwohl Tietze in seinem Büro einen dieser neuartigen Tower-Ventilatoren aufgebaut hatte, die sich zu dieser Jahreszeit verkauften wie geschnitten Brot. Seine Stimme klang dabei irgendwie fremd, metallisch, als hätte er einen Blecheimer über den Kopf gestülpt.

„Eine Szene gemacht haben die, den ganzen Laden zusammengebrüllt und mich derbe beleidigt.“

„Ja und warum? Weil Sie,“ – Tietze zeigte jetzt mit dem Kugelschreiber auf Markus – „weil Sie Ihren verdammten Job nicht vernünftig gemacht haben. Wir sind doch hier nicht bei der Heilsarmee!“

„Dann meinen Sie also, es ist in Ordnung, wenn Hartz-IV-Empfänger bei uns TV-Geräte im Großformat für ihre fünfjährigen Kinder kaufen“, entgegnete Markus, der jetzt langsam zu sich fand und mit festerer Stimme sprach, „und das auch noch auf Ratenzahlung zu 7,99% Jahreszins? Sollten wir es unterstützen, dass diese Menschen ihre Kinder vom Kindergarten abmelden, um die Rate dafür aufzubringen?“

Tietze schüttelte den Kopf.

„Sehen Sie, Engler, wir sind doch hier keine soziale Einrichtung. Am Ende des Tages geht es um den Umsatz, davon hängt auch Ihr Job ab, hängt übrigens auch mein Job ab, by the way, ist Ihnen das denn nicht klar?“

Markus waren diese Zusammenhänge durchaus klar, aber er konnte seinem Vorgesetzten trotzdem nicht zustimmen.

„Haben SIE eigentlich schon mal ein Buch gelesen?“, ging er jetzt in die Offensive.

„Ich wüsste nicht, was das jetzt zur Sache –“

„Hätten Sie vielleicht mal ein bisschen Kant gelesen, dann wäre Ihnen vielleicht der kategorische Imperativ bekannt. Handle stets so, dass die Maxime deines Willens als Basis einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte“, zitierte Markus flüssig sinngemäß.

„Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet? Wollen Sie in einer Gesellschaft leben, in der die Kinder sich von Chips und Cola ernähren und den ganzen Tag vor der Glotze hängen, statt im Kindergarten mit Gleichaltrigen zu spielen? Wenn alle so handeln, wie Sie es von mir verlangen?“

„Herr Engler, Ihre hohe Bildung und Ihre klugen Vorträge interessieren mich nicht. Ich sehe bei Ihnen nur kategorische Inkompetenz, was das Verkaufen angeht. Es ist doch immer dasselbe mit diesen abgebrochenen Akademikern. Halten sich für was Besseres und machen nur Ärger.“

„Herr Tietze, mit Ihnen als Chef fällt es mir trotz meiner humanistischen Gesinnung doch wirklich schwer, nicht zum Misanthropen zu werden“, versetzte Markus, der schon ahnte, dass das Gespräch keinen günstigen Ausgang nehmen würde und daher keinen mehr Grund sah, nicht noch ein bisschen tiefer in Tietzes Allgemeinbildungslücken zu stochern.

Auch wenn dieser wie erwartet das letzte Wort hatte.

„Engler, es ist mir egal, ob Sie Misantrosoph oder Lingologe oder sonst was werden, was zum Geier Sie da so studieren. Fest steht: Solange ich hier Chef bin, werden Sie in diesem Hause gar nichts mehr. Packen Sie Ihre Sachen zusammen. Sie sind gefeuert.“

Leben auf den zweiten Blick

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