Читать книгу Die vorgespielte Gerechtigkeit - Arber Shabanaj - Страница 5

DAS PORTRÄT

Оглавление

Im Stadtbüro palaverte jemand und beleidigte fortwährend den Bürgermeister höchstpersönlich. Agron Iravosok stand hinter der Tür des Bürgermeisterbüros und schaffte es in allerletzter Not, sich zu beherrschen. Er wollte seinen Ohren nicht trauen, was er an diesem Julinachmittag mit anhören musste.

Er kannte Herrn Grünewald seit Jahren. Als er erfahren hatte, dass dieser zum Bürgermeister gewählt worden war, war Agron unbeschreiblich glücklich gewesen.

Agron war davon überzeugt, sollte er von ihm keinen geeigneten Wohnraum bekommen, müsste er noch ewig im Asylbewerberheim bleiben. Dort, wo das Abfluss- und Sanitärfahrzeug der Kommune wie so oft erst dann kam, wenn das Kanalisationsrohr bereits geplatzt war. Eine schwarze, verfaulte Flüssigkeit drang dann durch die Fugen der pilzbefallenen Bodenbretter.

Es kam, wie er es geahnt hatte. Gerade mal einen Monat war Herr Grünewald Bürgermeister, als er zusammen mit Vertretern der zuständigen Flüchtlingskommission Agron und seine Familie im Asylbewerberheim besuchte.

Er kann sich noch ganz genau erinnern, wie sie den eingezäunten Garten des Heimes betraten. Die vielen Rosen, die einer ultrastolzen Meereswelle ähnelten, strahlten Lebendigkeit aus und verbreiteten ihren Duft. Hier tankten Agron, seine Ehefrau und seine Tochter fast jeden Nachmittag ein wenig Motivation und Zuversicht. Doch was nützte ihnen das, denn sobald es Abend wurde, mussten sie sich wieder in ihre Fäkalienhütte einschließen, dort, wo jeden nur Übelkeit heimsuchen würde.

Die Hausmeisterin war gerade dabei, mit dem Hauspantoffel nach einem von ihren kleinen Findelkindern zu werfen, weil es zuvor über einige Blumenblätter Pipi gemacht hatte. Die Frau kam ursprünglich aus Schlesien und sprach ein sehr unattraktives Deutsch, oder eigentlich eher Polnisch. Sie war jedoch längst eingebürgert worden, da sogar die kleinste Laus auf ihrem Hof in Schlesien deutsch war. Laut dieser Hausmeisterin, die damals in ihrer Heimat auf einem Bauernhof gedient haben will, hatten der gesamte deutsche Stolz und alle Kultur ihre Wiege in Schlesien, und nur dort.

Die Autorisierten der Stadt lachten mit dem Kleinen, der versuchte, sich in ihrem Beisein nicht zu schämen und sein Urinorgan nach dem Gießen wieder zurückzustecken.

Sie kamen nun und tankten reichlich Luft, die durch den schönen Duft der vielfältigen Blumen gespendet wurde.

Sobald sie den Raum betreten hatten, in dem Agron samt Familie lebte, musste ein Mitglied der Flüchtlingskommission drei Mal hintereinander niesen. Einem weiteren, der etwas auf einen Block notierte, rutschte ein Wort heraus, er sagte: „Mist“. Ein weiterer ...

Bei diesem Besuch fühlte sich Agron Iravosok plötzlich jung und stark und nicht wie ein Mann von 50 Jahren. Oh Gott, er wird ein Zuhause bekommen! Er hatte den Eindruck, dass Worte, die fielen, und Zeichen, die zwischen den Teilnehmern der Flüchtlingskommission ausgetauscht wurden, ihn hoffen lassen könnten, dass alles gut werde.

Doch gleichzeitig überkamen ihn auch Ängste, es könnte jemand wie aus dem Nichts auftauchen und ihm wieder Steine in den Weg legen.

Er schwankte zwischen Hoffen und Bangen, mal fühlte er sich jung, dann fühlte er sich alt. „Eh, wie der Mensch ist“, dachte er, „mal Löwe, mal Hase“.

Und recht hatte er, es wurde von allen Seiten viel gesprochen, es gab nichts, über das nicht geredet wurde. Für ein Apartment, mit einem Raum und einer Küche ausgestattet, würde er sehr viel Geld ausgeben müssen, mit zwei Räumen und einer Küche noch mehr. Doch, was sollte er geben, das Ungeziefer aus dem Keller?

Er hatte weder das Recht noch die Mittel, seinen einzigen Verwandten in knapp zwanzig Kilometern Entfernung mal zu besuchen, weil dafür regelmäßig eine Besuchserlaubnis nötig war, um den Landkreis verlassen zu dürfen! Seit sechzehn Jahren lebte er in Deutschland, und seine Jahre schmolzen dahin. Er, auch mit dem Potenzial, fehlerfreies Deutsch und Englisch zu artikulieren, hatte bis heute noch keinen Aufenthaltstitel.

Der frühere Bürgermeister war nicht gut gewesen, sein Nachfolger nicht besser.

Agron Iravosok hatte Jahre hinter sich, in denen er gehofft hatte, man kümmere sich um eine Wohnung für ihn und seine Familie. Jahre, in denen Versprechungen gemacht worden waren, ihm ein Apartment mit einem separaten Eingang zu gewähren. Jahre, während sie mit ihm und seiner Familie Katz und Maus gespielt hatten. Geschehen aber war nichts.

Und während die Zeit verging, spürte er, wie auch seine Tochter, eine junge aufstrebende Frau auf der Suche nach Verantwortung und Glück, keine Chance ihr Leben selbstständig zu gestalten hatte und sich mit der Situation abfinden musste.

„Blumen verblühen, Menschen sterben“, dachte Agron bei sich und zitterte. Er spürte den Schmerz darüber in seinem Herzen, auch jetzt, als er sich daran erinnerte.

Nun saß er zusammen mit seiner erkrankten Frau auf den Stühlen des Rathauses, wartete und musste die endlosen Beleidigungen des Stadtmenschen mit anhören. Dabei war er geschockt, was einem normalen Bürger dieses Landes gewährt wird - demjenigen, der der deutschen Sprache nicht einmal ausreichend mächtig ist, demjenigen, der mehr besoffen als nüchtern vorzufinden ist, demjenigen, der es wagt, den Bürgermeister persönlich zu beleidigen.

Aber er, Agron Iravosok, der seine gesamte Wut bisher innerlich festgehalten und allen Grund zum Abladen der ganzen Last gehabt hätte, blieb stets ruhig und schwieg. Er war sein Leben lang ein fleißiger Arbeiter gewesen, lebte schon sechzehn Jahre in dem Raum isoliert, während andere neue Wohnungen bekamen und sich breitmachen durften und sogar separate Kinderzimmer und wer weiß was noch alles hatten.

Er selbst hatte noch nie jemanden beleidigt, mit dem Staat geriet er nie in Konfrontation: Sechzehn Jahre Asylbewerber, er und seine Familie waren nicht einmal im Besitz einer Arbeitserlaubnis.

Den Landkreis wollte er wegen der bereits bekannten Gründe kaum verlassen. Außerdem sprach er ein exzellentes Deutsch und unzählige längst eingebürgerte Protagonisten, die meisten slawischer Herkunft, beneideten ihn sehr, wenn sie ihn sprechen hörten.

Als diplomierter Jurist lebte er von „Gutschein-Karten“. Als das Sozialamt von ihm verlangt hatte, einem „Ein-Euro-Job“ nachzugehen, war er vergangenes Jahr, während er für die Stadt arbeitete, aus sechs Metern Höhe gestürzt und hatte sich dabei schwer verletzt.

Seine Ehefrau, ohne jemals krank gewesen zu sein, musste wegen der erlebten Metamorphosen und Odysseen regelmäßig zum Neuropsychiater. Denn nur dank des Gutachtens eines Fachmannes verringerte die Ausländerbehörde den Druck, war gnädig und bewilligte eine weitere dreimonatige Aufenthaltsverlängerung.

Der Tochter, die das Gymnasium mit besten Noten abgeschlossen hatte, wurde ein Stipendium für das Studium versprochen.

Jetzt bewegte sich auch etwas in Sachen Wohnung. Sollte es in der Tat der Fall sein, nichts Weiteres als das wollte Agron Iravosok.

Nun sollte es danach gehen, wie es geheißen hatte, dass für eine Wohnung so und so viel nötig wäre - Unsinn! Nicht einmal Kaffee hatten die von der Kommission getrunken, als sie ihn in seinem Ambiente besuchten, und auch nicht ein einziges gutes Wort hatten sie für ihn gehabt.

Eines Tages wurde davon gesprochen, dass er eine Wohnung in der neuen Siedlung, genau in dem Stadtzentrum, bekommen würde. Alles drehte sich nun um die zukünftige Wohnung. Mal kam ihm das ganz normal vor, ganz selbstverständlich, doch dann auch wieder außergewöhnlich.

„Letzten Endes“, sagte er einmal zu seiner Ehefrau, „ich habe es mir verdient. All die Jahre habe ich weder dem Staat noch dem Amt das Herz gebrochen, ich habe sie nie enttäuscht. Dem `Ein-Euro-Job´ bin ich ebenfalls regelmäßig nachgekommen. Nie habe ich schwarz gearbeitet. Einer normalen Arbeit durfte ich die gesamten Jahre nicht nachgehen, mangels Arbeitserlaubnis. Warum einem wie mir dann eine Wohnung verwehren?“

Wer stand auf der Straße überhaupt schlechter als er da? Und wer hatte überhaupt ein einziges Argument, um über ihn Schlechtes zu reden?

„Hör auf mich, Agron“, empfahl ihm eines Tages sein Arbeitskollege, während Agron für die Stadt für einen Euro diente, „spar etwas Geld und mache dem Bürgermeister ein Geschenk. Das tun sie alle ...“

Doch Agron Iravosok gab nicht auf. Außer an einem Abend - etwa gegen Mai, während die Forelle am See wild herumschlug. Da sagte er „Zum Teufel mit dem Schlaf“ und lieh sich die Angelausrüstung von seinem Freund aus und schaffte es, eine gut vier handbreit große Forelle zu fangen.

Sehr schüchtern und mit Angst im Herzen brachte er sie an dem kommenden frühen Morgen dem Bürgermeister vorbei. Seine Sekretärin tat so, als ob sie Agron Iravosok nicht kennen würde. Das irritierte ihn. Er wusste nicht, wie er es ihr sagen sollte, und als ob seine Sätze von einem Krampf heimgesucht worden wären, blieben sie ihm in der Kehle stecken.

Doch sie, leise und nett, steckte den Finger in die Forelle, wie ein Haken der Angelschnur, mit dem Agron die knallroten Futtermembranen der Forelle durchquert hatte, um sie zu überprüfen.

Ohne „Herzlichen Dank für Ihre Mühe“ zu sagen oder ihm wenigstens eine Tasse Kaffee anzubieten, neigte sie den Kopf leicht als so etwas wie ein gedachtes Dankeschön-Zeichen. Anschließend knallte sie ihm die Tür beinahe vor der Nase zu.

Eine große Unruhe hatte Agron Iravosok in sich, als er an die Bürotür des Bürgermeisters klopfte, mit der berühmten Forelle in der Hand, doch noch größer wurde diese, als er sich von dessen Büro entfernte.

„Oh Gott“, dachte er, „doch wenn der Bürgermeister Grünewald den Asylantrag und das Attest des Neuropsychiaters von meiner Ehegattin nicht anerkennen würde? Doch wenn ...?“

Natürlich rührte sich nichts, während Agron Iravosok vor der Tür des Amtes wartete, um die Bestätigung über die neue Wohnung ausgehändigt zu bekommen. Dass er eine neue Wohnung bekommen würde, das war allerdings hundertprozentig sicher.

Die Ernennung des Bürgermeisters Grünewald und die Versammlung mit den Zuständigen hatten dazu beigetragen, dass Mann und Frau zusammenleben konnten. Doch diese separate Einladung beim Amt schien Agron Iravosok ein wenig zu verletzen.

Fast Tag für Tag gingen sie hin, um das neue Haus zu bestaunen, dort, wo die Maler dabei waren, den letzten Anstrich anzubringen. Hier ist das Wohnzimmer, hier die Kochnische. Zugleich ist das hier auch das Schlafzimmer. Die dritte Etage. Sehr anziehend. Im Sommer endlich mal frische Luft und sauberes Wasser, ganz ohne Fäkalien!

Auf eine besondere Art war die einzige Tochter des Agron Iravosok fast außer sich vor Freude. Sie hatte dafür Tausende von Gründen. Doch insbesondere und vor allem wäre sie jetzt dazu in der Lage, ihre Freundinnen in einer angenehmen Umgebung zu empfangen und ihnen eine gute Gastgeberin zu sein. Nicht so wie bis heute, wo sie ihre Freundinnen selbst zu ihrem Geburtstag nicht, kein einziges Mal, hatte einladen können. So hatte sie auch ihre engste Freundin, Arberia, abgelenkt und ihr gesagt, dass sie im Juli Geburtstag hätte. Und zwar genau dann, wenn Schulferien waren und die Schulglocke die Schüler nicht mehr zusammenbrachte ...

Wenn du sie an den Tagen gesehen hättest, während sie auf die Schlüsselübergabe für die neue Wohnung warteten. Sie arbeitete mit der Mutter zusammen, bis es sehr spät wurde. Vor lauter Schimmel und Ungeziefer konnten die bisherigen Gardinen nicht benutzt werden. Die zwei schafften es in aller Not, eine neue Gardine zu kaufen. Eine dafür geeignete Gardinenstange fanden sie im Sperrmüll. Ein freundlicher Nachbar, der finanziell deutlich besser als sie gestellt war, hatte ihnen ein Sofa als Geschenk zugesagt. Drei Gemälde kaufte Agron auf dem Flohmarkt. In der Tat, bloß ein Raum und eine Kochnische waren es, dennoch im Vergleich mit dem, wo sie bisher waren, dachten sie, sie befänden sich in einem Traum.

So oft sie gingen, um die Wohnung zu sehen oder etwas zu messen, tanzte die Tochter fast. Und jetzt, als ob er sie zum ersten Mal sehen würde, wirkte die Tochter des Agron Iravosok noch erwachsener, noch weit offener, genauso wie die Blume, wenn sie aus dem Schatten geholt und in die Sonne gestellt wird.

In dem bisherigen dunklen Raum, in dem sie noch nicht einmal gelacht hatte, bewegte sie sich jetzt wie ein Schmetterling. Diejenige, die so still gewesen war, mischte sich jetzt, ohne zu zögern, in Gespräche ein, auch mit der Schneiderin, auch mit den Malern.

Doch auch Agron schien an jenen Tagen, als ob seine Zunge sich lockerte, und das merkte er selbst genauso gut, ohne dass es ihm jemand sagte. Derjenige, der acht Stunden seinen Verpflichtungen nachgegangen war, ohne einmal dabei zu irgendeiner Tätigkeit „Nein“ zu sagen. Derjenige, der so viel wie ein „Tauber“ sprach.

Seitdem sie ihm die Bestätigung über seine neue Wohnung im Zentrum gegeben hatten, bedankte er sich regelrecht bei der Kommune und bei dem Land öffentlich und intern, sodass jemand aus der Nachbarschaft unter seinem „Säuferbart“ lächelte, als er ihn hörte und dabei Agron Iravosok als eine Marionette bezeichnete.

Vorgestern, als er seinen Umzug mit dem Sprinter seines Bekannten erledigte, schenkte die Hausmeisterin des Asylbewerberheims ihm eine Vase mit einer Viola, die gerade blühte. Seiner Tochter sagte sie, sie solle sie auf die Fensterbank des Zimmers stellen, da auf der Bank Platz und vorzugsweise Licht genug wären. Die Hausmeisterin bat sie drei Mal darum, die Viola ans Licht zu stellen.

Agron Iravosok sah die Ehefrau und Tochter zum ersten Mal in einer Wohnung, bisher hatte er sie in dem Raum-Knast, wo sie lebten, nur im Halbdunkeln gesehen. Regelmäßig im Lichtschatten. Heute aber ...

Wenn alle Sachen geordnet sind, wird er sich trauen, seine Verwandten endlich nach so vielen Jahren einzuladen. Alles drehte sich in Agron Iravosoks Kopf, jetzt, wo er dort stand und darauf wartete, in das Büro des Bürgermeisters einzutreten.

Letztendlich ging die Streitigkeit im Büro zu Ende und Agron konnte die Stimme des Bürgermeisters hören, der sagte: „Komm jetzt, stell dir vor, ich habe nichts gehört, hier eine Zigarette, bitteschön ...“

Agron Iravosok schüttelte den Kopf. Er wollte nicht glauben, dass sich der Bürgermeister erneut auf solche derbe Beleidigungen einließ und weich und kuschelig dem anderen schließlich den Schwanz streichelte.

Mit seiner Ehefrau hatte Agron darüber eine Nacht zuvor gesprochen. Für die Wohnung hatte der Bürgermeister von ihnen nichts verlangt, jedoch sollte man ihn nicht ganz „ohne“ lassen. Da letzten Endes die Tochter bald mit der Schule fertig sein würde, wäre das Stipendium erforderlich.

Außerdem, auch die Menschen, als ob sie eins wären: Alle wunderten sich, wie Agron Iravosok, ein „Stück Arbeiter“ und ein Asylant, es bloß schaffte, die Wohnung in den Griff zu bekommen. Weder im Erdgeschoss noch in der fünften Etage, wo üblicherweise die älteren Menschen, Slawen und Rotationsmenschen wohnten, sondern in der dritten Etage. Und das Ganze quasi ohne ..., selbst einen Kaffee hatte er dafür nicht ausgeben müssen!

Agron stand auf. Den Raum, in dem die Städtischen warteten, betrat der Teamleiter des Sozialamtes, Herr Slawa.

„Guten Abend, Herr Agron!“

„Guten Abend, Herr Slawa!“

„Wartest du schon lange?“ [Autor ergänzt (I): Er wird zunächst mit dem Nachnamen angesprochen und dann geduzt! Das ist die wörtliche Rede des Teamleiters …]

„Nein, eine Stunde.“

„Na dann, gut ...“

Slawa betrat, ohne zu klopfen, das Büro, in dem der Bürgermeister wartete, während Agron sich die Frage stellte, woher Slawa wusste, dass er von dem Bürgermeister eingeladen worden war. Egal, er hatte keinen Grund, unruhig zu werden. Slawa und den Bürgermeister sah er schließlich regelmäßig zusammen.

Sobald Slawa eingetreten war, verließ derjenige, der sich mit dem Bürgermeister gestritten hatte, den Raum. Die Bürotür blieb offen und Agron stand auf, in der Erwartung, dass sie ihm den Eintritt anbieten würden.

In der Tat, sie hatten ihn nicht eingeladen, mit seiner Ehefrau zusammen zu kommen, doch er dachte, es wäre sicher viel besser, zu zweit dort zu sein.

Warum hatten sie ihn eingeladen?

„Über wen wurde entschieden, zu der Familie Agron Iravosok geschickt zu werden?“, hörte Agron leise die Stimme des Bürgermeisters, der den Teamleiter des Sozialamtes, Herrn Slawa, fragte.

„Sie werden Frau Korçula Nictylemann dort hinschicken ...“

Agron Iravosok zitterte. Er zitterte und schaute seiner Frau direkt in die Augen. Doch er erlitt keinen Schock. „Keine Ahnung hat die Arme!“, sprach er einfach so mit sich selbst. Einfach so nahm er sie mit.

„Doch Frau Korçula Nictylemann was für eine war sie?“, fragte sich Agron und hob seine Blicke hoch über den Eingang, da wo alle Porträts der eminenten Mitglieder der Reihe nach angebracht waren. Sie war die einzige Frau unter ihnen. Sehr selbstbewusst und kompetent wirkte sie. Sicherlich werden sie sie zum kommenden Fest zu Besuch bei ihm in die neue Wohnung schicken.

„Komm, Herr Agron Iravosok, komm!“

Agron knetete seine Mütze in der Hand zusammen. Slawa schaute ihm mit einem freundlichen Blick entgegen.

„Hast eine Wohnung bekommen, Herr Agron?“, fragte er.

„Jawohl, Herr Slawa.“

„Schöne Wohnung, glaube ich.“

„Wir hatten es sehr schlecht, Herr Slawa. Das kommt mir wie ein Traum vor. In der Tat, nur ein Raum mit Küche, doch in einem Kellerraum haben wir uns Jahre lang aufhalten müssen, im Dreck und im Dunkeln.“

Herr Grünewald und Slawa schauten sich an.

„Wenn wir das Licht der Tatsachen zu sehen schaffen, Herr Agron, dann haben wir alles ...“

„Genau so ist es, Herr Slawa, genau so, dem Licht verdanken wir auch unser Leben.“

Slawa knackte die Finger, wie es üblicherweise Männer in Mordfällen taten.

Agron begriff das auch, aber er verstand wiederum auch nicht, was hier los war und warum sie ihn eingeladen hatten. Letzten Endes, jetzt konnte er wohl jedem herzlich willkommen sagen, selbst einem Minister.

„Du weißt, Herr Agron, dass der 3. Oktober vor der Tür steht.“

Wie soll Agron es nicht wissen? Selbst wenn er es vergessen haben sollte, Radio Gypparrtall machte jeden Morgen seinen Job. Sogar die neue Wohnung wurde ihnen kurz vor dem 3. Oktober gegeben.

Agron schüttelte den Kopf.

„Letzten Abend sind wir in einer Amtssitzung zusammengekommen. Alle Menschen sagten, dass du, Agron Iravosok, zu uns gehörst und außerdem sehr stark integriert bist.“

„So ist es, Herr Slawa, genau so.“

„Selbst wenn du Agron heißt, hast du dich sehr gut angepasst?! ...“

„Ich kann auch Heinrich Fliegenschiss heißen, wenn Sie mir einen neuen Namen geben möchten. Dahingehend sollten Sie dennoch wissen, dass der typische deutsche Name wie Kazimir-Zemaljak Parraçin nicht bei jedem Bürger dieses Landes verstärkten Anklang findet. Also, ich habe alles für Sie getan, ich bin hier und stehe vor Ihnen ...“

„Und für die Gegend im Zentrum, zum Fest, hatten wir dafür zwei Mitglieder, den Vorsitzenden und Frau Korçula Nictylemann ...“

„Im Übrigen, hat Ihre Frau jetzt ein neues Attest?!“, fragte Slawa unerwartet.

„Jawohl, Herr Slawa, hat sie ...“

„Unabhängig davon, sie hat hier keinen Sprachkurs belegt! Ihre Abschiebung ist noch in der Bearbeitung. Du, Agron, mit deiner Tochter, ihr dürft vorerst hier in Deutschland bleiben! ... Und ich empfehle Ihnen, Ihre Ehefrau sollte die Abschiebung freiwillig akzeptieren. Denn nur so wird ihr eine erneute Einreise nach Deutschland bewilligt. Vorher aber muss sie in dem `Kikiriiikuuu´ einen Deutschkurs belegen! ...“ [Autor ergänzt (II): Jetzt siezt Herr Slawa ihn wieder! Das ist die wörtliche Rede des Teamleiters. Vor dem Hintergrund ist das wechselnde Siezen und Duzen nachvollziehbar …]

„Sie spricht doch ausgezeichnet Deutsch! Ich habe auch keinen Deutschkurs absolviert und ... Dabei stehen einem aber häufig die Haare zu Berge, wenn man einige sogenannte ‚Fachärzte‘, beispielsweise für Radiologie, Orthopädie und andere, reden hört. Denn diese sind der deutschen Sprache kaum mächtig und stammen ursprünglich aus mächtigen slawischen Ländern. Der Staat kann und darf solchen Protagonisten keinen hochwertigen Sprachkurs andrehen, weil sie nun einmal den mächtigen Völkern angehören. Zumal die deutsche Sprache ganz bestimmt nicht an meiner Ehefrau scheitern wird.“

„Gesetz ist Gesetz!“

„Es kommt einem so vor, als ob die Regierung, durch angesammelte Vorurteile und Wut, willkürlich an Menschen handelt, die ursprünglich kulturvollen und friedlichen kleineren Völkern angehören. Nach dem Motto: ‚Vor lauter Angst vor dem Esel, tritt man wenigstens erbarmungslos auf dessen Sattel‘ ...!“

„Also kehren wir nun zur Sache zurück!“, bestimmte Herr Slawa.

Agron schien das Herz stillzustehen. Er konnte die Geschichte mit der Abschiebung seiner Ehefrau jetzt bloß nicht ansprechen. Vor lauter Angst, dass, wenn er dies tun würde, die Wohnungsvergabe in einer Ablehnung münden und ab sofort in die Vergessenheit geraten würde.

Herr Slawa nannte auch den Vorsitzenden. Agron wäre in der Lage, ihn zu empfangen ... Doch nein, Herr Slawa hatte es nicht so genau gesagt ...

„Also Frau Korçula Nictylemann ist für dich zuständig, da du zu uns gehörst, als ein fleißiger und integrierter Emigrant ...“

Agron Iravosok hielt die Hand seiner Ehefrau zum ersten Mal nach so vielen Jahren ganz fest. Ihre Hand zitterte, da sie die größte Sorge trug als Hausherrin, als Ehefrau, als Mutter. Denn, wenn‘s darum geht, Gäste zu empfangen, durchquert jeder wahre Mann den Fluss zu Fuß, dachte Agron. Und mit Sicherheit haben sie mich heute eingeladen, um mich zu informieren. Doch die Zuständigen des Amtes möchten dir vielleicht nach so langer Zeit auch bei einer weiteren Angelegenheit behilflich sein ... So die Gedanken des Ehepaares ...

„Nun, Frau Korçula Nictylemann hatten wir nominiert und ihr dich empfohlen. Das Porträt, zwei mal drei Meter, wird dort bei jedem Fest, an jedem Jahrestag und bei jeder Feier, auch bei jeder gehaltenen Konferenz hängen ... Für den Gefallen, der dir getan wurde ...“

Oh Gott, was bloß seine Ohren hörten ... Ein Porträt, so groß wie eine Wohnungswand … Von den Porträts, denen er im Stadtzentrum begegnet war ...

Am Anfang konnte er das nicht erfassen, doch im Nachhinein spürte er, wie ein Speer seine Schulter durchbohrte.

Die Stirn seines Wohnungseinganges mit dem Blick zum Zentrum hin verfügte nur über ein Fenster ... Doch wenn aber ... Oh Gott, doch wenn sie aber das Fenster mit dem Porträt der Frau Korçula Nictylemann zusperren würden ...? Als ob die Information, die Geschichte mit der Abschiebung von seiner Ehefrau von eben, nicht schon genug gewesen wäre ...

Er und seine Ehefrau verließen außer sich das Büro. Die Beine führten sie zusammen zum Haus. Vielleicht waren sie gestern von den ganzen Dekorationen der Stadt wegen des Jahrestages noch beeindruckt gewesen, aber heute? ...

Jemand grüßte ihn. Er hob den Kopf, lächelte leicht, um die Begrüßung mit den gleichen Gesten zu erwidern, doch das Lächeln fror auf seinen Lippen ein.

Dahinter, das einzige Küchenfenster, wurde von dem überdimensionalen Porträt einer Frau versperrt. So was wie eine große Fadenmenge hatte sich in seiner Brust gesammelt. Ihm schnürte sie das Herz zu. Oh Gott! Sie hatten ihm die Wohnung gegeben, doch das Licht nahmen sie ihm weg. Sie hatten Scherze mit ihm gemacht, sie lachten ihn aus. Und jetzt, noch mehr als je zuvor, begriff er endgültig, warum ihm die Ecke im Stadtzentrum zustand. Das kam ihm unglaublich vor. Er lief schneller, sodass seine Frau hinter ihm zurückblieb.

Im Treppenhaus nahm er immer zwei Stufen. Die Türe der Wohnung fand er offen vor und seine Tochter weinte. Sie weinte durch das Porträt im Halbdunkeln.

Er machte ein paar Schritte zum Fenster hin, zum Porträt hin. Er schaute es von hinten an. Der Mensch auf dem Porträt lachte ihm zu, sagte fast zu ihm: „Einen Igel kannst du auf den besten Teppich stellen, der wird trotzdem den Dorn im Gebüsch verlangen! Denn ein Stein wiegt schwer, aber nur noch solange er von seinem ursprünglichen Platz nicht wegbewegt wird ...!“

Im Knast gefangen war er in dem Keller des Asylbewerberheims, im Knast blieb er auch jetzt.

Auch die Handschellen und Fußketten, sollten sie selbst aus purem Gold sein, zum Fangen und Sperren sind sie ja gedacht.

„Vater, zum Dekorieren kamen sie, und fixierten das Porträt dort ... Vater sie sperrten uns das Sonnenlicht für immer ...“

Etwas sammelte sich in seinem Schweigen an. Dasselbe, was er in seinem Hals spürte, hatte sich viel früher in seiner Seele aufgestaut.

„Phu, pfui, sitz, furchtbar!“, spuckte er in Richtung Porträt. Danach zog er seine Tochter an sich - ihretwegen war er nicht in der Lage, mehr zu tun. Er weinte gemeinsam mit ihr.

Auch die Viola auf der Fensterbank, ohne Licht, ohne Frische und ohne Duft, ließ ihren Kopf hängen.

{Hinweis: Die Geschichte „DAS PORTRÄT“ beruht zum größten Teil auf wahren Begebenheiten - aus den schriftlich geführten Evidenz- und Gedächtnisprotokollen der Betroffenen.

... Herbst 1992, ... Frühling bis Sommer 1993, ... April 2003, ... Mai bis Oktober 2010: ... Haselünne (Ems), … Wuppertal, ... Wenden/Olpe. }

Die vorgespielte Gerechtigkeit

Подняться наверх