Читать книгу Zukunft Europa - Ariane Koch - Страница 5
Ich bin das Tier mit dem Fell
ОглавлениеEin Stück von Joël László
Personen
FRISÖR
KUNDIN
FRISÖRSie haben eine sehr schöne Perücke
KUNDINDanke Jaja Es ist eine sehr teure Perücke
FRISÖRSie ist wirklich wahnsinnig schön gearbeitet
KUNDINEs freut mich dass Sie das schätzen können Sie haben natürlich recht Heute wäre sie unbezahlbar Die Perücke ist ein Erbstück
FRISÖRIch habe selten Kundschaft die mit so schönen Perücken zu mir kommt
KUNDINWenn ich sie versetzen würde ich könnte mehrere Jahre davon leben Aber ich kann mich nicht von ihr trennen Es gibt heute ja nur noch wenige Frisöre die einen Blick dafür haben Und das hier draußen am Stadtrand
FRISÖRUnterschätzen Sie mir den Stadtrand nicht Wir sind eine interessante Gemeinschaft
KUNDINIch lasse meine Perücke immer hier draußen richten
FRISÖRBei mir sind Sie zum ersten Mal
KUNDINDas stimmt Sind Sie neu?
FRISÖRIch
Neu?
Wissen Sie was
Der Geruch hat gereicht
Als Sie in der Tür standen
hatte ich plötzlich diesen Geruch in der Nase
Es war wie eine Zeitreise
Ich wusste sofort
das muss ein sehr altes Stück sein
KUNDINSie haben ein feines Näschen
FRISÖRBei diesen Dingen ja Ich habe wie sagt man eine historische Neugierde Sie müssen verstehen für jemanden in meinem Beruf ist die Vorstellung interessant dass Menschen früher wirklich Haare auf dem Kopf hatten
KUNDINIch verstehe Sie vollkommen Andererseits sind Sie der erste Frisör mit einem historischen Näschen der mir begegnet
FRISÖRNatürlich Ich weiß Das ist selten
KUNDINDas kann einem komisch vorkommen
FRISÖRSicher Es gilt auch nur für meine Freizeit
KUNDINFreizeit Ein witziger Ausdruck Das habe ich lange nicht gehört
(Pause)
FRISÖRDer Aufsatz Der Aufsatz Ihrer Perücke Ich bin mir sicher er ist irrsinnig schön gearbeitet
KUNDINAlles von Hand
FRISÖRSie können sich nicht vorstellen was das in mir auslöst Ich gäbe viel so eine Perücke einmal ganz betrachten zu können
KUNDINNatürlich Ich verstehe Sie Dazu müsste man freilich einen Teil meiner Kopfhaut auftrennen
FRISÖRNatürlich (Pause)Das würde jetzt etwas weit führen
KUNDINWie hatten Sie es eben genannt
FRISÖRSie meinen
KUNDINIhr Interesse
FRISÖRDie historische Neugierde
KUNDINGenau Das wäre jetzt vielleicht etwas viel historische Neugierde
FRISÖRNatürlich
KUNDINEs ginge nicht ohne Blut einige Tröpfchen Trotzdem müsste ich wegen der Risiken in die Klinik und so weiter und so fort
FRISÖRVerstehen Sie mich nicht falsch Ich bin nicht mehr der Jüngste
KUNDINMan käme nicht auf die Idee
FRISÖRWas ich sagen will Ich habe das noch gelern Im Grunde genommen braucht es keinen Arzt
KUNDINEs braucht keinen Arzt Wozu bitte braucht es keinen Arzt
FRISÖREs war ein Teil unseres Berufes die Nähte aufzutrennen
KUNDINIch bitte Sie Davon habe ich noch nie etwas gehört An meine Kopfhaut lasse ich ausschließlich Leute aus der Klinik
FRISÖRKlar Die Bessergestellten gingen auch in meiner Jugend in die Klinik für den Perückenwechsel Andrerseits kostenlose Institutionen gab es nicht und so war das Auftrennen und Wiedervernähen der Perückennähte eine der Aufgaben des Frisörs
KUNDINIn Ihrer Jugend Jetzt hören Sie mir auf Ich glaube wir haben lange genug über meine Haare gesprochen
(Pause)
FRISÖRWas meinen Sie leben wir bald ewig oder bleibt es bei den (trällert)dreihundert vierhundert Jährchen
KUNDINNicht alle von uns leben (trällert)dreihundert vierhundert Jährchen
FRISÖRDie meisten schon
(Pause)
KUNDINSagen Sie schon
FRISÖRIch will Sie nicht
KUNDINNur zu
FRISÖRMan sieht es mir vielleicht nicht an Seit einiger Zeit bin ich im vierten Zyklus
KUNDINIm vierten Ist das ihr Ernst?
FRISÖRDa ist auch ein wenig genetisches Glück im Spiel Vor allem die Haut an den meisten Stellen alles original Das ist für den Gesamteindruck unglaublich wichtig Die behaupten heute ja überall das Gegenteil Ich sage Ihnen Wenn sie eine gute Durchfettung haben Auf keinen Fall wechseln Hier und dort straffen sonst unbedingt das Original All diese Schlangen-Metaphern Purer Unsinn
KUNDINSie haben recht Auch das Gesicht Man würde nie
FRISÖRNicht wahr
KUNDINAber Das heißt ja
FRISÖRNatürlich In meiner Jugend Ich habs Ihnen gesagt
Man kann es sich kaum vorstellen
aber ja
Ein Körper
das war ein Körper
und irgendwann
tja
irgendwann war er da
der Tod
Mit dieser ganzen Unmittelbarkeit
Dieser Plötzlichkeit
Paff
Und jemand ist tot
Paff
Deine Mutter ist weg
Wie in diesen Romanen
KUNDINDer Tod
FRISÖRMan konnte sich keine Sekunde vorbereiten
KUNDINJetzt versteh ich Die Ewigkeit Für Sie wird das
FRISÖRSchauen Sie Ich war lange dabei Ich gehöre fast zur ersten Generation Mit der Zeit werden gewisse Themen aktuell Man liest plötzlich diese historischen Romane Man entwickelt eine Neugierde auf die eigene Gattung
Draußen begibt sich etwas. Oder auch nicht.
FRISÖR(theatral)Halt Was ist denn da los Halt Bleiben Sie stehen Dass Sie so rennen Sie haben wohl eine Handtasche geklaut oder ein Portmonnaie ausgeräumt was? Haha!
KUNDINEine Handtasche geklaut Hahaha! Der ist gut Damit habe ich nicht gerechnet Eine Handtasche Hahaha! Köstlich
FRISÖRSehen Sie Diese historischen Romane Die sind manchmal auch humoristisch
KUNDINSie müssen mir da doch mal was empfehlen Historische Romane Daran denkt ja kaum noch einer
FRISÖRIm Grunde geht es auch nur die Leute im vierten Zyklus etwas an Aber ich sage Ihnen Man lernt viel Man beginnt sich in diese Menschen hineinzufühlen Taschen Börsen Beutel Säckchen Futterale Ich sage Ihnen da war alles voll davon überall Hände im Täschchen Handlichkeiten Man macht sich keinen Begriff Man greift in Löcher Höhlungen zieht lauter Dinge heraus Schlüssel Geld Klimpernde Münzen Einer erhebt sich geht zur Theke provoziert aus der Höhlung die Brieftasche öffnet die Börse schaut ins Beutelchen und erbleicht… Nichts! Er hat sein Geld vergessen Verloren! Er ist ohne Geld aus dem Haus Alleine Verlassen an der Theke Er wartet auf Hilfe Doch niemand kommt tja und so geht er langsam aber sicher zugrunde er kann nichts essen er kann nichts trinken er kann nicht weiter und alles nur weil ihm diese bunten diese farbigen Papierchen fehlen
KUNDINDas ist schlimm Im Grunde genommen ist es tragisch Wenn es nur nicht so komisch wäre Was meinen Sie was hat man gemacht So ohne Geld
FRISÖREs gab Hilfsorganisationen Nicht für alle aber für die meisten gings irgendwann irgendwie weiter
(Ein Geräusch. Oder auch nicht.)
FRISÖROh weia Da hat wohl tatsächlich ein Räuber etwas verbrochen!
KUNDINEin Räuber Dieses Wort! (gackert)Ein Räuber ein Räuber! Hilfe Er hat mein Geld gestohlen Polizei Polizei Zu Hilf!
FRISÖRHalt Stehen bleiben Ich habe eine Pistole Ich habe ein Kügelchen aus Blei das ich aus einem langen Röhrchen schnell in ihren Kopf hineinschießen kann!
KUNDINHören Sie auf Ich kann nicht mehr
FRISÖREine Pistole Wenn das einer gut beschreiben kann Ich sage Ihnen man lacht Tränen
KUNDINHahaha
FRISÖRHalt Hände hoch
KUNDINHahaha
FRISÖRGeld her oder ich schieße
KUNDINHören Sie auf Ich bitte Sie
FRISÖRHahaha
KUNDINHahaha (Pause.)Das war gut Das hat richtig gut getan Jetzt muss ich Ihnen etwas gestehen Das Historische Im Grunde genommen interessiert mich das Historische überhaupt nicht Aber diese Sache mit dem Körper dieser Körper von früher das hat mir immer schon viel bedeutet
FRISÖRSie meinen jetzt den Tod und all diese Fragen
KUNDINNicht nur der Tod Wenn ich das richtig verstehe gehörte der einfach dazu In dieser Direktheit meine ich Sagen Sie Stimmt es das mit dem Krebs
FRISÖRDer Krebs?
KUNDINDass am Schluss fast alle zerfressen waren Dass es zu diesen Infizierungen kam Leute wachen auf und haben plötzlich immense Geschwüre in den Köpfen im Bauch an den Beinen
FRISÖRIch habe die schlimmen Jahre zum Glück nicht erlebt
KUNDINLeute haben sich vor Maschinen geworfen
FRISÖRDass wird uns so erzählt Ich selbst habe davon nie etwas gehört
KUNDINAndrerseits Ohne den Krebs wären wir nicht soweit Die ganze Forschung das Überwinden der Hayflick-Grenze die 53ste Teilung Sie haben das erlebt?
FRISÖRNatürlich ich glaube jeder hat die Übertragung gesehen damals
KUNDINDer Einbruch der Unendlichkeit in die Endlichkeit
FRISÖRDas ist jetzt schon wieder so ein Etikett aus späterer Zeit
KUNDINWie meinen Sie Hat man es damals nicht so genannt? Schleuse Unendlichkeits-Schleuse all die Begriffe?
FRISÖRIch war ein kleiner Junge Der Übergang war aber nicht so abrupt wie man es sich heute vorstellt
KUNDINSie meinen hier klassische Sterblichkeit dort Zukunft potentielle Ewigkeit und so weiter
FRISÖRIntuitiv haben wir alle gespürt dass nichts mehr sein würde wie zuvor Wirklich begriffen hat man es erst mit den Jahrzehnten Es gab vorher schon verlängernde Maßnahmen Es war kein Knall Es war nicht der eine Moment der Erkenntnis
(Pause)
KUNDINTod Sterblichkeit Alles in allem sind Sie ja was man früher einen alten Mann genannt hätte
FRISÖRSo hätte man gesagt
KUNDINUnd ich wäre die junge Dame
FRISÖRDas heißt Sie sehen nicht nur
KUNDINNein nein Ich bin wirklich jung Verdammt jung Eigentlich
FRISÖRDieser Geruch wirklich intensiv Alter Mann junge Dame früher aber lassen wir das
KUNDINFrüher?
FRISÖRSie wissen schon
KUNDINSie meinen jetzt die ganze Kiste mit der Suche nach den Sexualpartnern
FRISÖRDas ist alles ja schon so weit weg
KUNDINSo sagt man
FRISÖRWas reden Sie Sie sind jung Was beschäftigen Sie sich mit so abgelegenen Fragen
KUNDINSie lesen Romane
FRISÖRDas ist etwas anderes Sie sollten sich aufs Leben konzentrieren
KUNDINSehen Sie Genau da bin ich nicht einverstanden Ich glaube diese Fragen betreffen uns ganz direkt Wussten Sie zum Beispiel dass man früher ich meine jetzt wirklich weit zurück in den Höhlen den Eiszeiten und so weiter dass man da seinen biologischen Höhepunkt zwischen 18 und 24 Jahren erreicht hat dass man als Frau ich meine jetzt im biologischen Sinn sich in diesen sechs Jahren ungefähr viermal fortpflanzen ich meine jetzt natürlich natürlich fortpflanzen mit Gebären und allem drum und dran dass man also da seine vier Kinder raushauen sollte um dann in Ruhe von einem Säbelzahntiger gefressen zu werden?
FRISÖRAuf was wollen Sie hinaus
KUNDINAuf was ich hinaus will? Der Mensch hat seinen Zenit Mitte zwanzig überschritten Danach geht es Berg ab Ich will nicht hunderte von Jahren schleichenden biologischen Zerfall mitmachen Mir reichen ein paar Jahrzehnte Ich will nicht hunderte von Jahren