Читать книгу Stille, Ekstase, Glück - Armin Heining - Страница 9
ОглавлениеKapitel 1: Begeisterung
Noch nie habe ich mich jemandem so geöffnet wie Ulrich, Frater Ulrich eigentlich. Aber unsere vertrauten Gespräche – in seiner bescheidenen Zelle oder während unserer ausgedehnten Spaziergänge – lassen mich vergessen, dass ich es mit einem Klosterbruder zu tun habe.
Irgendwie fliegen mir die Worte nur so zu, und es scheint das Natürlichste auf der Welt, mich einfach auszusprechen. Schlichtweg aussprechen zu wollen, was mich umtreibt, aufhält, blockiert, festhält, umtreibt, zum Stillstand und in die Erstarrung zwingt. Vielleicht komme ich ja mit meiner Situation besser zurecht, wenn ich endlich beschreibe, wie es in meinem Leben wirklich zugeht.
»Eher vertraue ich mich dem Gemeindepfarrer Mooshammer an als meinem Vater«, sage ich vehement.
Unvorstellbar, ihm von Arnulf zu erzählen und dem wiederkehrenden Albtraum, der mich schon so viele Jahre heimsucht. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie mein strenger Vater reagieren würde, wenn er alles wüsste.
»Pfarrer Mooshammer hört mir zu, wertet nicht. Er ist einfach modern und offen«, schließe ich nachdenklich. »Und er nimmt mich an, wie ich bin. Ich muss mich nicht rechtfertigen«, füge ich schnell einen ganz wichtigen Aspekt noch hinzu.
»Sollte ein wahrer Priester nicht so sein?« Frater Ulrich blickt mich ernst an.
»Absolut. Die einfühlsame und sanfte Art, in der ich Priester um mich herum erlebe, war mir schon immer sympathisch. Das hat mich, glaube ich, schon früh beeindruckt. Sicher ist auch das ein Grund, warum ich gerne selbst Priester wäre. Im Allgemeinen wird ihnen Respekt entgegengebracht; während des Gottesdienstes stehen sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auch sonst werden Kaplan und Pfarrer von den Menschen in unserer Stadt wertgeschätzt. Ihnen haftet einfach etwas Besonderes an, finde ich.«
»Ich verstehe vollkommen, was du sagen willst: Geistliche ragen aus der Gesellschaft hervor und scheinen besonderes Ansehen zu genießen – qua Amt«, sagt Ulrich.
»Wie du habe ich mich oftmals in der Kirche eher erwünscht gefühlt als in meinem eigenen Elternhaus.« Er spricht mir aus der Seele.
»Meine Mutter führt zu Hause energisch das Wort, mein Vater bleibt still im Hintergrund. Da gab’s oft Spannungen.«
»Bei mir zu Hause steht eher Hochspannung auf der Tagesordnung«, kontere ich.
»So schlimm?«
»So schlimm!«, bestätige ich energisch und erzähle frei von der Leber weg: »Mein Vater ist furchtbar jähzornig und autoritär, auch wenn er sich nach außen hin freundlich gibt.«
Tief atme ich durch. »Bekannten hilft er bei der Steuererklärung und ist auch sonst bei Problemen für sie da. Weil er beim Finanzamt arbeitet, kennt er sich mit Steuern und Behörden aus. Aber zu Hause ist er uns gegenüber meistens schlecht gelaunt.«
Ulrich wirkt betroffen.
»Ja, ich habe das Gefühl, dass mein Vater den Druck und Zwang, den er in seiner eigenen Kindheit erlebte, einfach an mich weitergibt. Ich muss zu Hause funktionieren, auch wenn es meinem Empfinden widerspricht.«
»Magst du ein Beispiel erzählen?«
»Jeden Samstag ruft er vor dem Mittagessen: ›Armin! Schuhe putzen!‹«
Ich imitiere Vaters strengen Ton.
»Auch noch heute?«
»Auch noch heute. Auch wenn ich jetzt sechzehn bin und gerade etwas anderes mache.«
Über dieses samstägliche Ritual mit einem Außenstehen zu sprechen, macht mir nicht nur die Absurdität dessen bewusst, sondern erinnert mich auch an die Ausweglosigkeit, die ich empfinde: »Mich zu weigern, ist zwecklos. Mein Vater duldet keinen Widerspruch.«
»Oh, das kenne ich von meiner Mutter«, nickt Ulrich. »Kompromisse sind ihr vollkommen fremd. Ihr Wille ist Gesetz.«
»Früher war das aber noch schlimmer als heute. Auf der Treppe vor unserer Haustür wartete er ungeduldig auf mich. Ich musste im Eiltempo alle Schuhe der Familie aus der Küche nach draußen bringen und ordentlich vor der Tür aufstellen. Mit unseren Schmutzbürsten befreiten wir jeden einzelnen Schuh akribisch vom Straßenstaub. Auch während des Putzens ließ er mich keinen Moment aus den Augen und kommentierte alles. ›Zieh keine Schnute!‹, fuhr er mich barsch an, wenn ich lustlos wirkte. Und wenn ich nicht schnell genug vorankam, schrie er: ›Geh weiter, stell dich nicht so an!‹«
Ermuntert durch die Parallelen in unseren Familiengeschichten werde ich offener.
»Folgte ich immer noch nicht, wie er wollte, warf er die Schmutzbürste nach mir. Im zweiten Arbeitsschritt mussten wir die Schuhe sorgfältig einfetten, um sie im Anschluss auf Hochglanz zu polieren. ›Das kannst alleine machen!‹, hieß es dann. Und so saß ich immer wieder samstags vor unserer Haustür und wienerte Schuhe, während meine Spielkameraden fröhlich herumtollten.«
»Das ist natürlich demütigend. Gerade auch noch vor deinen Freunden.«
Ja, genau so fühlen sich diese Samstage an: demütigend. Obwohl wir uns kaum kennen, spricht Ulrich mir aus der Seele.
»Das Schlimmste kommt zum Schluss. Abschließend nahm mein Vater alle geputzten Schuhe gründlich unter die Lupe. Davor fürchtete ich mich am meisten: Waren sie nicht blitzblank, setzte es Prügel – vor allen anderen. Dann schämte ich mich und musste weinen. Und weil ich weinte, sperrte er mich ins Bad ein.«
»Oh weh. Was für eine schlimme Erfahrung!«
Ulrichs offenkundige Betroffenheit führt mir noch deutlicher vor Augen, wie wenig Verständnis ich zu Hause bekomme.
»Und ich kann mir vorstellen, dass es auch keinen Zweck hat, mit deinem Vater zu sprechen, nicht wahr? Wer sich autoritär gibt, glaubt natürlich auch, immer im Recht zu sein. Ist doch so, oder?«
Ich nicke stumm. Mit bemerkenswertem Scharfsinn bringt er meine Familienverhältnisse auf den Punkt.
»Leider geht es in vielen Familien so zu: Eltern sehen manches anders als ihre Kinder und dieser Standpunkt wird um jeden Preis verteidigt. Aufbegehren ist zwecklos.«
Schildert er gerade eigene Erfahrungen? Sie kommen meinen jedenfalls sehr nah.
»Manchmal fühle ich mich nur ausgebrannt. Und vollkommen allein, auf verlorenem Posten.«
»Ich weiß, wovon du sprichst. Aber was ist mit deinem älteren Bruder? Steht er dir zur Seite?«
»Kann ich nicht behaupten. Ich bin trotz Geschwistern einsam. Meine Schwester ist zehn Jahre jünger. Mein Bruder ist drei Jahre älter und versucht, auf seine Weise zurechtzukommen. Er hat ganz andere Interessen als ich. Er verbringt lieber Zeit mit unserer Schwester oder seiner Freundin als mit mir. Außerdem ist er wesentlich besser in der Schule als ich. Wirklich viele Gemeinsamkeiten haben wir nicht.«
»Hat deine Mutter denn Verständnis? Wie verstehst du dich mit ihr?«
Gute Frage. Meine Mutter ist ein ganz eigener Fall, denke ich.
»Besser als mit meinem Vater, irgendwie.« Ich zögere: »Weil sie mich schon mehr oder weniger aufbaut, wenn ich mich zurückgesetzt fühle, kraftlos bin.«
Ich nehme einen tiefen Atemzug.
»Aber wenn sie an Migräne leidet, ist ihre Unterstützung vorbei. Dann braucht sie absolute Ruhe und will nur noch für sich sein. Und ich bin buchstäblich mutterseelenallein und ohne Halt, als gäbe es sie gar nicht.«
»Das ist natürlich belastend.« Frater Ulrich nickt.
Weil er mir ein guter Zuhörer ist, drängt es mich, weiter zu erzählen.
»Und meine Mutter ist doch tatsächlich einmal mit dem Kochlöffel hinter mir hergekommen!«
»Was, wirklich?«
Ungläubig sieht er mich an.
»Ob du’s glaubst oder nicht: Eines Tages spielte ich mit meinen Freunden nach der Schule an einem Bach in der Nähe unseres Hauses. Plötzlich gab es nichts Wichtigeres als an der Mauer hochzukraxeln, die neben der Böschung aufragte. Natürlich vergaßen wir, wie spät es geworden war. Nur meine Mutter hatte die Uhr stets im Blick. Aus heiterem Himmel stand sie mit einem Kochlöffel in der Hand oben an der Mauer und schrie: ›Das Mittagessen ist seit Stunden fertig! Ich warte auf dich und du treibst dich herum! Ich habe Angst und zermartere mich vor Sorgen – und was machst du?!‹ Natürlich war es mir peinlich, vor meinen Freunden so gescholten zu werden. Ich wollte mich entschuldigen. Aber sie hörte überhaupt nicht zu, sondern schwang den Kochlöffel, als ob sie mich schlagen wollte. Dann trieb sie mich – mit drohendem Löffel – den ganzen Weg nach Hause vor sich her, als wäre ich ein Stück Vieh auf dem Weg zurück in den Stall. Später, als sie sich auf das Sofa legte, stellte sich heraus, dass sie wieder unter heftiger Migräne litt. Eigentlich hatte sie sich ausruhen wollen; aber stattdessen musste sie hinter mir her rennen, weil ich wieder nur an mich gedacht hätte. Sie hätte mehr Rücksicht von mir erwartet, ließ sie mich wissen.«
»Oh, das kenne ich. Das klingt ganz nach dem strengen Regiment meiner Mutter. Ich habe auch viel unter ihrem launischen Verhalten leiden müssen. Mit Kritik und Tadel war sie immer sehr schnell zur Stelle. Ihre Anerkennung oder ein Lob schien ich mir nie verdient zu haben.«
Sein Blick schweift gedankenverloren in die Ferne.
»Genau!«, rufe ich laut.
»Manchmal frage ich mich, ob meine Eltern überhaupt etwas von mir halten. Jedenfalls habe ich nicht den Eindruck, ihnen zu genügen. Meiner Mutter bereite ich zu häufig Kummer und von meinem Vater befürchte ich immer, dass er mir mein sonniges Wesen am liebsten austreiben würde.«
Bei dem Gedanken von meinem Vater nicht so geliebt zu werden wie ich bin, treten mir Tränen in die Augen.
»Hältst du es für möglich, dass deine Eltern trotzdem das Gute in dir sehen?«, fragt er leise.
»Das kann ich mir kaum vorstellen«, stelle ich nüchtern fest.
Erst das Läuten der Glocke reißt mich aus jenem Schweigen mit Ulrich, das unsere Gespräche immer wieder begleitet. Mittlerweile komme ich immer besser mit der Tatsache zurecht, tagsüber sieben Mal von der Glocke zu unserem Gottesdienst und Gebet gerufen zu werden.
›Zu unserem Gottesdienst.‹ Als sei ich schon einer von ihnen. Dabei bin ich hier im niederbayerischen Kloster Metten nur zu Besuch. Sechs Tage auf Probe – und dann mal sehen.
»Warum besuchst du eigentlich in deinen Weihnachtsferien unser Kloster?«, lautete folgerichtig eine von Ulrichs ersten Fragen.
»Weil ich mir schon sehr lange gewünscht habe, besonders die Zeit um Weihnachten abseits der häuslichen Langeweile zu erleben«, entfährt es mir überraschend ehrlich.
»Insgeheim möchte ich überhaupt noch mehr Zeit in der Anwesenheit Gottes verbringen, im Gebet die Zwiesprache mit ihm suchen. Um die Weihnachtszeit bis zum 6. Januar wünsche ich mir jetzt mehr stille Andacht und Abkehr von der Welt. Meine Eltern haben für die Familie andere Pläne. Es passt eben nicht.«
»Hm.« Ulrich nickt nachdenklich.
»Das kann ich nachvollziehen. Wenn niemand da ist, der deinen Wunsch nach der Nähe Gottes teilt, macht das einsam.«
Ich hätt’s nicht besser formulieren können.
»Stimmt genau. Nur versteht das in meiner Familie niemand. Wenigstens habe ich mit meinem Beichtvater Glück: Ihm kann ich mich bedenkenlos anvertrauen; er weiß immer einen klugen Rat und …«
»… und er hat dich auf Klöster aufmerksam gemacht«, bringt Ulrich meine Erzählung auf einen knappen Punkt.
»Hat er. Weil ich ihm erzählt habe, dass ich auf der Suche nach Gemeinschaft bin, in der ich mit meiner Sehnsucht nicht alleine bin. Kirchenbesuche sind mir zu wenig, zu kurz, zu flüchtig, bleiben nur an der Oberfläche.«
»Wieso hast du dich für uns entschieden? Es gibt einige andere Klöster im Umkreis: Schweickelberg, Niederalteich, Plankstetten, Beuron, Weltenburg.«
»Ich bin ein praktischer Mensch, Metten ist am nächsten«, entgegne ich trocken.
Wir sehen uns an und müssen beide lachen.
»Aber du merkst ja, dass dein praktischer Verstand nicht die verkehrteste Entscheidung für dich getroffen hat: der Benediktinerorden ist dem Gebet verpflichtet, aber auch der Welt zugewandt – im Gegensatz zu den strengen, kontemplativen Ordensgemeinschaften.«
»Diese Ausgewogenheit mag ich. Sie klingt ja auch in eurem Motto, also dem Motto der Benediktiner an: ›Ora et labora‹.«
»Unser Dienst ist es Gott zu loben. Die Arbeit der Mönche ist das Gebet, selbst wenn wir essen, ist das Gottesdienst.«
Mit einer Ehrfurcht, die ich selten an mir erlebt habe, antworte ich: »Ihr seid nicht zu radikal, das Pendel schwingt in keine Richtung zu weit. Dieses rechte Maß, diese innere Ausgewogenheit suche ich auch für mich selbst.«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, antwortet Ulrich mit einem freundlichen Lächeln. »Du bist noch jung, das wird schon.«
Ich bin zu jung – erst sechzehn Jahre – um eine endgültige Entscheidung jetzt gleich treffen zu dürfen. Erst muss ich das Abitur haben, dann darf ich um Aufnahme in diese Gemeinschaft bitten. Aber schon jetzt spüre ich den starken Einfluss des ›Klosters auf Zeit‹.
Zu Hause in Cham stehe ich zwar für meine Verhältnisse auch zeitig auf, um vor der Schule noch die Frühmesse zu besuchen, was mir sehr wichtig ist. Aber hier beginnt der Tag bereits um vier Uhr vierzig. Das ist gewöhnungsbedürftig. Richtig wach bin ich noch nicht, wenn ich gemeinsam mit den Mönchen das erste Gebet spreche.
Überhaupt die Gebete – morgens, mittags, abends nebst Dankgesängen nach Mittag- und Abendessen. Jeweils verschiedene Gesangbücher: dickes Gesangbuch morgens und abends, ein schmales zum Mittag. Die Sprache wechselt: Mittagsgebet auf Deutsch, die anderen in lateinischer Sprache. Das ist verwirrend. Aber ich weiß Ulrich an meiner Seite, der mir geduldig Auskunft gibt.
Kurz nach meiner Ankunft musste ich gleich ins kalte Wasser springen, weil das Abendgebet bevorstand und ich von nichts eine Ahnung hatte. Denn der Klosterritus hat wenig mit dem Gottesdienst in meiner Stadtpfarrkirche gemein.
»Meinst du denn, dass ich mich zurechtfinde? Ich will ja auch nichts falsch machen.« Nicht, dass ich die Abläufe durcheinanderbringe oder so.
»Folge mir einfach und mach mir alles nach. Du wirst am äußersten Platz im Chorgestühl stehen. Zuerst singen wir vier lateinische Psalmen«, antwortete Ulrich beruhigend.
Wenn er wüsste: auch noch Latein! Das Schulfach, das mir am meisten zuwider ist.
Ulrich schlug das Antiphonale auf, einen dicken, ledergebundenen Wälzer, und zeigte mir anhand der farbigen Lesezeichen die unterschiedlichen Gesänge.
»Dann setzen wir uns und hören aus der Heiligen Schrift. Danach singen wir das Magnificat wieder im Stehen. Es ist der feierliche Höhepunkt des kirchlichen Abendgebets, der täglich wiederkehrende Lobgesang Mariens.«
Die entsprechende Seite war mit einem lilafarbenen Band gekennzeichnet.
Punkt achtzehn Uhr war es dann so weit. Erstmals stand ich mit den Mönchen im Halbrund des Chorraumes hinter dem Hochaltar der barocken Abteikirche. Im Gegensatz zu den kalten Gewölbegängen im gleichen Stockwerk ist die Apsis stets geheizt und wohlig warm. Das dunkle Chorgestühl mit seinen aufwendigen Schnitzereien bildet einen Halbkreis mit Blick auf das kunstvolle geschnitzte Lesepult des Kantors. Über den klappbaren Sitzen ist ein kleiner Vorsprung für das Steißbein; eine spürbare Entlastung für den Körper während des langen Stehens. Frater Ulrich wies mir den für mich reservierten Sitzplatz ganz außen in der Stuhlreihe zu.
Auf den ersten Schlag der Glocke setzte das zarte Spiel der Orgel ein. Hervorgehoben an der Stirnseite erklang Abt Bertholds hohe Stimme: »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.«
Mit einem lang gezogenen »Amen« antworteten alle Mönche. Auf Latein sang ich mit ihnen das kirchliche Abendgebet. Ich beobachtete den Mönch neben mir ganz genau, um mir abzuschauen, wann ich mich verneigen oder mich aufrichten sollte, wann ich sitzen, stehen oder knien musste.
Den größten Eindruck auf mich macht aber das außerordentliche Zeremoniell, das den Auszug der Mönche aus dem Chorraum zum Speisesaal begleitet: Wenn sie über die Schwelle des Chorraumes treten, wird die große, spitz zulaufende Kapuze, die zum Mönchsgewand der Benediktiner gehört, weit über den Kopf gezogen. Tief verhüllt schreiten sie in einer Prozession durch den barocken Kreuzgang zum Refektorium. Ich hinter ihnen, zivil gekleidet, bin von diesem Bild der Weltabgewandtheit sehr beeindruckt. Erst beim Eintreten in den Speisesaal fällt die Kapuze wieder.
Wenn ich den hell erleuchteten Raum betrete, stelle ich mich ebenso wie die anderen Mönche hinter meinen Platz. Während die Mönche ihre gefalteten Hände unter dem schwarzen Gewand verbergen, senke ich wie sie den Kopf und lausche dem Tischgebet des Abtes. Mit einem lauten »Amen« dürfen wir uns setzen.
Symbolisch für die Abgeschiedenheit im Kloster streifen die Mönche die Kapuzen noch einmal über. Der Blick bleibt demütig gesenkt, während das Wort aus der Heiligen Schrift vorgetragen wird.
Erst wenn die Servitoren die Suppe auftragen und die Tischlesung beginnt, nehmen sie die Kapuze wieder ab.
Alle schweigen andächtig und blicken auf den Teller. Nur der Mönch, der mit der Tischlesung betraut ist, erhebt seine Stimme. Während wir essen, liest er zuerst aus der Bibel, später aus einem Reiseroman.
An diesen Bräuchen hat sich seit Jahrhunderten nichts geändert: Zur immer gleichen Stunde in der immer gleichen Weise passiert jeden Tag das Gleiche. Und im Jahre 1976 bin ich auf einmal mittendrin, darf mitwirken und die Tradition fortleben lassen. Seit an Seit mit geweihten Mönchen, als gehörte ich zu ihrem Konvent. Hier einen Platz zu haben, willkommen zu sein, ergreift mich tief in meinem Herzen.
»Wie ist dein Eindruck? Kannst du dir vorstellen, hier zu leben – oder überhaupt in einem Kloster?«
Ulrich und ich haben soeben einen Klosterrundgang über das erstaunlich weitläufige Gelände beendet. Mit den Werkstätten und Betrieben, der eigenen Stromgewinnung ist es so gut ausgestattet wie ein kleines Dorf.
Und das Hauptgebäude ist natürlich sowieso beeindruckend in seiner barocken Pracht: viel Gold, viele Engel, viele Verzierungen und überlebensgroße Statuen wie in der berühmten Barockbibliothek – das macht schon was her.
Im Kloster finden sogar öffentliche Veranstaltungen statt – das habe ich gar nicht gewusst, bis Ulrich mir den Festsaal zeigt: »Hier gibt es regelmäßig Konzertabende. Wegen der hervorragenden Akustik ist er als Veranstaltungsort sehr beliebt. Auch über die Grenzen Niederbayerns hinaus.«
Und sie schauen fern! Mit zehn rot gepolsterten Fernsehsesseln, ordentlich in zwei Reihen angeordnet, hätte ich in einem Kloster nun wirklich nicht gerechnet. Das Kloster Metten verblüfft mich immer wieder.
Aber ist es ein Ort, an dem ich leben dürfte?
»Mir gefällt vor allem die straffe Tageseinteilung«, antworte ich ausweichend.
Ulrich schaut mich überrascht von der Seite an.
»Ernsthaft? Daran stören sich die meisten Besucher. Sie hätten zu wenig persönlichen Freiraum, beklagen sie.«
Er schnaubt verächtlich.
»Naja, deswegen sind wir aber nicht hier«, bekräftige ich.
»Wir?«
»Was?«
»Du hast gerade gesagt: ›Deswegen sind wir nicht hier.‹ Siehst du dich doch schon als Klosterbruder?«
Ich lache verlegen. Der Versprecher ist mir gar nicht aufgefallen.
»Kann sein. Mir gefällt’s hier. Und ich mag diese klare Ordnung jeden Tag. Für gewöhnlich falle ich in den Ferien in ein Loch, werde launisch und unzugänglich, weil mir die Struktur fehlt. Hier geben mir die regelmäßigen Gebetszeiten Halt. Und die Gemeinschaft, die immer füreinander da ist. Das fühlt sich an wie ein schönes Leben.«
»Es ist ein gutes, sinnvolles Leben, wenn wir es gottesfürchtig führen«, entgegnet Ulrich mit einem Ernst, der mir bisher noch nicht an ihm aufgefallen ist.
»Und wenn es dir tatsächlich so gut gefällt, ist es vielleicht auch für dich das Richtige.«
Ich senke betreten den Kopf. Gerne würde ich dazu gehören.
Aber darf ich darauf hoffen, hier akzeptiert zu werden? Ich meine, es ist die katholische Kirche mit ihren strengen Glaubensgrundsätzen, die entscheidet, wer sich in einem Konvent lebenslang an sie binden darf. Nicht Ulrich, der vielleicht einige Sympathien für mich hegt. Noch. Wer weiß, wie er reagiert, wenn er die ganze Wahrheit kennt.
Das Läuten der Konventglocke zum Abendgebet enthebt mich einer Antwort. So fällt meine Schweigsamkeit nicht weiter auf. Ich gehe sozusagen in der klösterlichen Stille auf, die sich wie eine schwere Decke über die Klostergänge legt und jedes Geräusch im Keim zu ersticken scheint. In meinem Tagebuch habe ich sie als tote Stille beschrieben. Ein gewöhnungsbedürftiges Phänomen, wenn man die permanente Geräuschkulisse einer umtriebigen Familie gewöhnt ist.
Aber jenseits der Stille ist auch hinter Klostermauern überraschend viel los. Vielleicht hängt das mit der Jugend vieler Mönche zusammen. Bisher habe ich das Mönchssein eher mit dem Greisenalter – ab sechzig Lebensjahren – in Verbindung gebracht. Nun stelle ich fest, dass hier ganz viele junge Männer leben. Natürlich spricht dies für Metten: Hier sind ganz viele beinahe Gleichaltrige um mich.
Unternehmungslustige Gleichaltrige. Zwischen Abendgebet und Nachtruhe trifft man sich gerne im Erzieherbüro des dem Kloster angeschlossenen Internats. Auf persönliche Einladung Pater Jeremias bin ich schon zwei Mal dabei gewesen. Dass ein so beliebter Präfekt mich zu einem seiner fröhlichen Abende einlädt, sagt mir, ich werde akzeptiert.
Gleichwohl ist mir der Trubel schnell zu viel, zu laut, zu viele Personen, die ich nicht gut kenne, zu groß die Anstrengung, sich zu fokussieren. In den letzten Tagen möchte ich doch lieber für mich sein; meine Tagebuchaufzeichnungen vervollständigen oder alleine beten. In diesem Fall führt mich mein Weg dann in die Kapelle des Internats, außerhalb der Klausur, des abgetrennten Klosterbereichs. Es sind Weihnachtsferien, also kann ich sicher sein, dass niemand die kleine Kirche nutzt.
Ich setze mich in eine Bank und lasse die erbauliche Atmosphäre auf mich wirken: den intensiven Geruch des Weihrauchs, das ewige Licht vor dem Tabernakel, das beruhigende Halbdunkel.
»Lieber Gott, jetzt weiß ich nicht, ob ich hier bleiben soll oder lieber weggehen mit den anderen. Ich spüre, wie es in mir brennt, wie eine offene Wunde. Und ich weiß nicht, was ich gegen den Schmerz, gegen diesen großen inneren Schmerz machen soll. Was bedeutet mir mehr? Will ich lieber alleine mit mir jetzt in der Stille sein, weil du mir alles gibst? Oder liegt mir Gemeinschaft mehr am Herzen? Wo ist mein Platz? Wohin gehöre ich?«
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt Ulrich mich besorgt nach dem Frühstück.
Wie aufmerksam er ist. Er bemerkt anderntags sofort, dass ich mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen habe und am liebsten unsichtbar bliebe.
»Geht schon«, murmele ich.
»Komm, lass uns einen Spaziergang machen. Die kühle Luft wird dir guttun.«
Widerstrebend schließe ich mich ihm an, stelle aber draußen schnell fest, dass er recht hat. Die frische Brise klärt den Geist. Und lädt mutig zum offenen Wort ein.
»Ich habe manchmal einfach Schwierigkeiten, mich neuen Situationen anzupassen«, beginne ich zögernd. Als Ulrich nichts erwidert, rede ich einfach weiter. Sein Schweigen wirkt ermunternd.
»Das ist schon immer so gewesen, dass ich mit einer gewissen Reizüberflutung nicht zurechtkomme. Ich rede nicht gerne darüber, weil ich glaube, mich lächerlich zu machen. Was ist das schon für die meisten? Ein paar Menschen mehr oder weniger? Was macht das schon für einen Unterschied? Für mich einen großen. Das war schon seit meiner Kindheit so. Während eines Skiausflugs hatte ich eine Art Zusammenbruch, weil mir die Menschen auf der Piste, meine andauernden Abfahrten zu viel waren, mich überwältigten. Da war plötzlich so ein stechender Schmerz in der Herzgegend und ein Brennen in der Brust, als hätte sich eine Wunde geöffnet. Am meisten hat mich jedoch verletzt, dass es meinen Eltern egal war. Sie haben den Vorfall zur Kenntnis genommen, aber nichts hinterfragt, keine medizinische Untersuchung veranlasst, nichts. Meine Gefühle sind bis heute kein Thema, mit dem sie etwas anzufangen wissen.«
»Eine schlimme Geschichte.«
Wie es ihm immer wieder gelingt, sein Mitgefühl in so schlichten Worten auszudrücken und mich dennoch immer zu erreichen – das tut wirklich gut.
»Weißt du, dass ich noch nie mit jemandem darüber gesprochen habe?«, vertraue ich ihm leise an.
»Wirklich? Dann sprich dich nur aus. Vielleicht hilft’s dir in der Zukunft.«
Wenn das so einfach wäre. Aber vielleicht ist es ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.
»Jedenfalls habe ich selber herausgefunden, dass ich nur dann nicht an meinen seelischen Schmerzen verzweifele, wenn es nur mich und Gott zu geben scheint. Nichts weiter. Nur dann bin ich von diesem unerträglichen inneren Brennen erlöst.«
»Dann ist das Gebet, der Besuch des Gottesdienstes wirklich Balsam für deine Seele …«
»… ja, wie ein Pflaster auf meiner inneren Wunde«, setze ich begeistert den von ihm begonnenen Satz fort. So verstanden zu werden ist auch schon ein Geschenk des Himmels.
»Der Klosteraufenthalt muss dann ja eigentlich ein Biotop für dich sein, in dem du regelrecht aufblühst – wenn du hin und wieder Pater Jeremias’ Einladung ausschlägst.«
Ulrich lacht leise.
»Oh. Habe ich ihn verärgert?« Das wollte ich nicht.
»Nein, schon in Ordnung, er trägt dir nichts nach. Er hat’s nur nett gemeint. Wir wollen alle, dass du dich wohlfühlst. Jeremias kann ja nicht wissen, dass du lieber für dich bist.« Ich seufze erleichtert. Dann muss ich mir wenigstens darüber keine Gedanken machen.
»Erzähl ihm bitte auch nichts von diesem Gespräch. Ich möchte, dass unter uns bleibt, was ich mir von der Seele reden musste. Das ist mir wirklich wichtig«, sage ich so flehentlich, dass es mir beinahe unangenehm ist. Aber ich bin es nicht gewohnt, jemandem so tiefe Geheimnisse anzuvertrauen, den ich erst seit wenigen Tagen kenne. Ich will nicht schwach wirken.
»Keine Sorge, Armin. Ich bin keine Petze.«
Ein Seufzer tiefer Erleichterung kommt aus meiner Brust. Ulrich findet immer die richtigen, unterstützenden Worte. Welch eine Last ist von meinen Schultern genommen. Ich fühle mich wie befreit, nehme auch meine Umgebung gleich ganz anders wahr.
Sogar die schwere klösterliche Stille drückt nicht mehr wie bisher auf meine Stimmung. Jene Ängste, die ich loslassen konnte, sind zuerst einmal fort und lauern mir nicht mehr in der Grabesstille der Klostergänge auf. Als habe sich in meinem Geist eine lang geschlossene Tür geöffnet, spüre ich nun, wie diese unerschütterliche Ruhe in mich eindringt und einen besonders weiten und lichten Raum schafft für die Begegnung mit Gott. Jetzt bin ich bereit, einzuschwingen in die gregorianischen Gesänge und den Weihnachtsjubel der Psalmengebete. In den Lobgesängen und biblischen Geschichten erkenne ich einen Spiegel für meine eigenen Gefühle: geklärt, froh und für meine Verhältnisse hoch gestimmt.
Sich in die Stille zurückzuziehen, im Schweigen zu verharren wird kurz vor Ende meines Besuchs eine zentrale Bedeutung zugemessen. Sogar die alltäglichen Arbeiten werden auf ein Minimum reduziert, um sich auf das Hochfest der Heiligen Drei Könige einstimmen zu können. Mit dem Eintritt in das tiefe Schweigen entledigen wir uns der schnöden Gedanken und kleiden uns in das Gewand, in dem wir uns voller Demut auf die Nähe Gottes vorbereiten.
Um neun Uhr am Vormittag beginnt das feierliche Pontifikalamt. Mir war bis dahin nicht bewusst, dass Abt Berthold, der im Rang eines Bischofs der Klostergemeinschaft vorsteht, auch mit den Insignien eine Bischofs ausgestattet ist: die Mitra auf dem Kopf, der Hirtenstab in der Hand und das Kreuz über seiner Brust. Unter aufbrausendem Orgelspiel zieht er vom hinteren Eingang des Kirchenschiffs in die Kirche ein. Ihm voraus die Mönche und Priester. Ich nehme in der vordersten Bank Platz, um die zeremoniellen Handlungen aus nächster Nähe verfolgen zu können. Die erhabene Stimmung hebt mich nicht nur empor und rührt mich zu Tränen, sie lässt mich auch glauben, hier könnte es einen Platz für mich geben. Dies könnte die Gemeinschaft sein, zu der ich gehören will.
Schweren Herzens packe ich am 7. Januar meine Tasche. Ein letztes Mal gehe ich mit Abt Berthold, dem dynamisch wirkenden Klostervorsteher, zu dem eindrucksvollen Torbogen am Ende des Kreuzganges. Dieses eiserne Gitter trennt den inneren Klausurbereich des Klosters von der Welt. Noch ein Mal erlebe ich, wie der Abt ohne Schlüssel oder sichtbare Drehung des Knaufs den Durchgang öffnet, sodass mit einem lauten Knacken die schwere Tür zur Seite schwingt. »Schön, dass du da warst, Armin. War nett, dich kennenzulernen.«
»Danke für die beeindruckende Zeit.«
Abt Berthold nickt freundlich und reicht mir die Hand zum Abschied.
Dann fällt die eiserne Tür hinter mir ins Schloss. Mir rieselt ein leichter Schauer den Rücken hinunter: Mein beschauliches Leben in der Mönchsklausur ist ausgesperrt.
Kurz darauf trete ich meine umständliche Heimfahrt an, mit der Bockerlbahn von Metten nach Deggendorf, weiter über Plattling, Regensburg und Schwandorf zurück nach Cham. Die mehrstündige Reise gibt mir ausreichend Zeit, meine abschweifenden Gedanken zu ordnen. Während draußen die verschneiten Häuser und Wiesen vorbeihuschen, denke ich daran zurück, wie nett es von Ulrich gewesen ist, mir freundliche Worte mit auf den Weg zu geben. Mich stimmte es traurig, das Kloster bereits wieder verlassen zu müssen. Wie im Flug ist die knappe Woche vergangen. Es sollen erst sechs Tage her sein, dass ich Frater Ulrich erstmals in seiner Mönchszelle aufsuchte?
Ich kann mich noch erinnern, wie ich die Atmosphäre und jedes Detail in mich aufgenommen habe, um später ja nichts zu vergessen und diese ersten Eindrücke in meiner Erinnerung zu konservieren: Wie ich mit ihm gemeinsam durch das kalte Gewölbe im Erdgeschoss ging, die imposante steinerne Stiege hinauf in den ersten Stock des barocken Klausurganges. Ein roter Sisalläufer auf weißem Marmorboden weist hier den Weg zu den Zellen der älteren Mönche. Lauter kleine gedrungene Türen mit schmiedeeisernem Schloss und Klinke, umrandet von marmornen Verzierungen in zartem Pastellrosa und frischem Weiß, aneinandergereiht in diesem weitläufigen Klostergang. Zu Ulrichs Zimmer führt der Weg eine modernere Treppe hinauf in den zweiten Stock. Hier liegt ein schlichter brauner Läufer auf dem knarrenden Holzboden. Nur die Namensschilder sind genauso hübsch anzusehen wie unten.
So eine Mönchszelle beherbergt ja auch nur das Nötigste: Bett und Schrank, auch ein Schreibtisch und ein Besucherstuhl finden gerade einmal Platz. Heimelig ist es trotzdem. Was vielleicht auch mit Ulrichs mitfühlender Art zu tun hat; sie bestimmt die Atmosphäre.
»Hat es dir denn gefallen bei uns, Armin?«
»So gut wie jetzt ging es mir schon lange nicht mehr: Ich spüre Verbindung mit mir und bin mit dem lieben Gott im Reinen. Ich freue mich, euch alle kennengelernt und Kontakte geknüpft zu haben. Selten habe ich mich irgendwo so zu Hause gefühlt wie hier, als sei dies der Ort, an den ich gehörte. Anders als in meiner Familie.«
»Die klösterliche Lebensgemeinschaft ist eben eine komplett andere Lebensform als die einer Familie«, gab Ulrich zu bedenken.
»Vor allem ist es eine Art, gemeinsam zu leben, die zu mir passen könnte.«
Und ich vertraute ihm einen Gedanken an, der mir selbst noch ganz neu war: »Ehrlich gesagt konnte ich mir bisher nie vorstellen, eine eigene Familie zu gründen, mit Frau, Kindern, allem Drum und Dran. Ich glaube nicht, dass ich so leben will.«
Die Ruhe des klösterlichen Schweigens hatte mich auf ganz neue Einsichten gebracht und mir ungeahnte Perspektiven eröffnet.
»Das ist gut möglich. Vielleicht bist du der geborene Mönch«, meinte er ernst.
»Weißt du was?« Ich nahm nach einer Weile den Gesprächsfaden wieder auf.
»Sag’s mir«, sagte er mit einem kleinen Lächeln.
»Ich komme mir nicht mehr so komisch vor wie früher, sondern als wäre nun alles am rechten Platz.«
»Ich würde mir für dich wünschen, dass es auch zu Hause dabei bleibt.«
Ulrichs Lächeln ist herzerwärmend.
Ein buchstäblich frommer Wunsch. Denn ich weiß, dass es anders kommen wird. Ich weiß um den langen Schatten, der über meinem Leben hängt und mühelos die vielen Kilometer überwinden kann, die zwischen meiner Heimatstadt und der Aussicht auf ein neues Leben liegen. Ulrich hat davon absichtlich nichts erfahren. Weil ich nicht zugeben mochte, wie es wirklich um mich bestellt ist. Aus diesem Grund ist natürlich auch der Name ›Arnulf‹ nie gefallen, obwohl meine Gedanken regelmäßig um ihn kreisen.
Arnulf ist genauso schlecht in der Schule wie ich, in der gleichen Jugendgruppe der Katholischen Studierenden Jugend wie ich, gläubig und empfindsam wie ich. Auf vielerlei Weisen fühle ich mich zu ihm hingezogen und von ihm angezogen. Ich genieße es, ihm nahe zu sein, ihn zu umarmen, mit ihm zu beten. Mit ihm erlebe ich erste Vertrautheit. Und natürlich wünsche ich mir, er empfände wie ich – in jeder Hinsicht.
Wie meine Neigung zu Jungen mit meinem tiefen Glauben zu vereinbaren ist, kann ich mir selbst nicht beantworten. Ist das der Grund, warum ich in meinen Albträumen genau diese Angst formuliere? »Entweder ich werde ein Heiliger oder ich lande in der Gosse, obdachlos unter einer Brücke.« Das scheint alternativlos und ich erwache stets in Schweiß gebadet.
Wie soll ich meinen Wunsch nach der Nähe Gottes mit meinen lebhaften Fantasien vereinbaren können, ohne ausgegrenzt zu werden? Sexualität ist für mich schlecht. Und Homosexualität doppelt schlecht. Mich zu anderen Jungen hingezogen zu fühlen, ein Homosexueller zu sein, unvorstellbar in dieser Welt, wie ich sie kenne. Folgte ich meiner Lust, würde nie etwas aus mir werden – dessen bin ich mir sicher. Einen Moment frage ich mich, wie viele Ausrufezeichen ich in meinem Tagebuch schon neben dem Datum vermerkt hatte. Ein jedes markiert einen Tag, an dem ich wieder die Kontrolle verloren, ejakuliert hatte und mich schämte.
Unwiderruflich hat sich mir die angewiderte Miene meines Vaters eingeprägt, als er einmal über einen Mann ›vom anderen Ufer‹ sprach, der einsam am Dorfrand gelebt hatte – »und plötzlich war der unter Hitler weg«, erinnerte er sich. Allein den Gedanken an Homosexualität findet mein Vater ekelhaft. Und gerade von ihm soll ich Verständnis erwarten?
Kein Wunder, dass ich schon als Kind vor dieser Engstirnigkeit die Flucht ergriff und versuchte, so viel Zeit wie möglich außer Haus zu verbringen. Als wäre ich ein ›Dorfbesen‹, krittelte mein Vater missbilligend, wenn ich mit meinem Drang nach Freiheit voller Neugier wieder im Dorf unterwegs gewesen war. Licht, Sonne, Wasser, frische Luft waren schon damals meine Elemente und ließen mich aufblühen, mich meine unbändige Lebensfreude fühlen.
Aber das Leben bleibt nicht so simpel. Ich werde nicht immer weglaufen können. Spätestens nach dem Abitur wird der Ernst des Lebens auf meine Grundangst treffen: Wie kann ich ein Leben führen, das sich echt anfühlt? Wie lässt sich Homosexualität mit meinem Wunsch nach einem Leben im Einklang mit Gott verbinden?