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Normalität geht anders. Eine Einleitung

Julia Egbers und Armin Himmelrath

Wer sich im Sommer 2020 unter Lehrerinnen und Lehrern, Ministerinnen und Ministern, Eltern und Schulpersonal und sogar unter Kindern und Jugendlichen umhört, der stößt nach wochen- und monatelangem Corona-Ausnahmezustand immer wieder auf den Wunsch nach Normalität. «Endlich wieder richtig Schule haben», sagen die einen, «Regelbetrieb nach der Stundentafel, soweit es das Infektionsgeschehen zulässt», die anderen. Allen aber ist der Wunsch nach einer Perspektive, nach Alltag und Gewohnheit gemein und danach, Schule wieder als berechenbar und verlässlich zu erleben. Ein sinnvolles und notwendiges Ziel, keine Frage.

Von der Vorstellung allerdings, dass Unterricht wieder genau so sein wird wie vor der Pandemie, sollten sich alle Beteiligten besser verabschieden. Denn es gibt zahlreiche Gründe, warum das Schuljahr 2020/21 – und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch alle weiteren Schuljahre – in vielen Bereichen ganz anders sein wird als alles, was wir bisher mit Schule verbunden haben.

–Medizinische Gründe: Die Forschung hat bisher – Stand: Sommer 2020 – keine gesicherten Erkenntnisse darüber, welche Rolle Kinder und Jugendliche in der Infektionskette spielen. Dass sie seltener an Covid-19 erkranken, scheint gesichert – aber wie übertragen sie das Corona-Virus? Da außerdem eine Impfung oder ein gut wirkendes Medikament noch nicht in Sicht ist, kann es jederzeit sein, dass Schulen auf neue medizinische Erkenntnisse reagieren und ihren Unterricht um- oder gar einstellen müssen.

–Organisatorische Gründe: Wollen Schulen verschärfte Hygienebedingungen einhalten, brauchen sie – je nach Vorgaben – mehr Räume, mehr Personal und andere bauliche Gegebenheiten. Vier Waschbecken für 200 Kinder reichen eben für regelmäßige und ausführliche Handhygiene nicht aus. Und der ohnehin schon bestehende Fachkräftemangel im Bereich der Lehrerinnen und Lehrer wird noch einmal verschärft, wenn Lehrkräfte, die Risikogruppen angehören, im Präsenzunterricht nicht mehr eingesetzt werden können – oder wenn Lehrpersonal nicht nur den Unterricht in der Klasse, sondern zusätzlich auch noch Fernunterricht für Kinder erteilen soll, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in die Schule kommen können oder dürfen.

–Pädagogische Gründe: Bildungsforscherinnen und -forscher erwarten, dass der wochenlange Schul-Lockdown die Unterschiede beim Leistungs- und Wissensstand innerhalb der einzelnen Klassen und Lerngruppen noch vergrößert hat. Im neuen Schuljahr wird deshalb die Verringerung dieser Leistungsspreizung zu den wichtigsten pädagogisch-didaktischen Aufgaben der Lehrkräfte gehören. Doch wenn man diese Aufgabe ernst nimmt, dann werden Abstriche bei den fachlichen Anforderungen gemacht werden müssen – ein Effekt, der auch noch durch kurzfristige, regionale oder lokale Schulschließungen verstärkt werden könnte, wenn diese vor Ort durch die Corona-Pandemie notwendig werden.

–Psychologische Gründe: Durch den Unterricht zu Hause, stärker aber noch durch die generelle Corona-Ausnahmesituation haben Kinder und Jugendliche jede Menge Erfahrungen gemacht, die verarbeitet werden müssen – und Schule ist auch immer der Raum für den Austausch solcher sozialen Erlebnisse. So zu tun, als könne man nach der Wiedereröffnung oder mit Beginn eines neuen Schuljahrs einfach zur schulischen Tagesordnung übergehen – im schlimmsten Fall mit einem unangekündigten Leistungstest am ersten Schultag –, würde diese breiten psychologischen und gesellschaftlichen Erfahrungen schlicht negieren.

” Eine Rückkehr im Schulalltag zum Stand von Anfang März 2020 wird es also nicht mehr geben, von der bisherigen Normalität wird Schule in Zukunft weit entfernt sein.

Doch was heißt das konkret? 23 Fachleute – von der Schulforscherin bis zum Elternvertreter, von der Lehrkraft bis zur Bildungspolitikerin – hatten im Frühjahr 2020 innerhalb weniger Wochen im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie1 mit Ideen erstellt, wie es im neuen Schuljahr konkret weitergehen könnte. Dabei hatten die Forscherinnen und Forscher drei Szenarien entwickelt, wie guter Unterricht nach der Pandemie aussehen kann: mit Präsenzunterricht als Regelfall, mit einer Mischung aus Präsenz- und Fernunterricht oder allein mit dauerhaftem Lernen zuhause. Die Gestaltung des Fernunterrichts sei dabei «eine originäre Aufgabe» der Schule und der Lehrkräfte, heißt es in dem Papier: «Zurzeit werden wesentliche Bestandteile dieses Auftrags wie selbstverständlich weitgehend auf die Eltern und Erziehungsberechtigten übertragen.» Mit anderen Worten: Schule dürfe sich nicht länger um ordentliche Fernlernkonzepte drücken. Denn: «Die Planungen des neuen Schuljahres sollten nicht von einer Wiederkehr des gewohnten ‹schulischen Regelbetriebs› ausgehen.»

Für die Zukunft empfiehlt die Expertenkommission daher einen umfangreichen Maßnahmenkatalog mit insgesamt 18 Einzelpunkten. Dazu gehören unter anderem:

–Präsenzunterricht, so die Bildungsexpertinnen und Bildungsexperten, sei vor allem für die jüngeren Kinder wichtig. Mit steigendem Alter der Schülerinnen und Schüler sollte der Anteil des Fernunterrichts zunehmen.

–Mindestens ein persönlicher Kontakt pro Woche zwischen einer Lehrkraft und dem Schüler oder der Schülerin sei notwendig – per Telefonat, Videokonferenz oder bei einem persönlichen Treffen.

–Auch für das Lernen zuhause müsse es verbindliche Stunden- und Wochenpläne geben.

–Alle Schülerinnen und Schüler müssen mit digitalen Endgeräten ausgestattet sein. Haben sie kein eigenes Gerät, müsse die Schule ihnen ein Tablet oder einen Laptop leihen.

–«Im Schuljahr 2020/21 sollten Kürzungen in den Lehrplänen bzw. in den erwarteten Leistungszielen aller Fächer vorgenommen werden», schreiben die Expertinnen und Experten. Damit sollten Lehrerinnen und Lehrer «Freiräume für den pädagogisch-konstruktiven Umgang» mit den Folgen der Coronakrise bekommen. Auch die Zahl der Prüfungen und Klassenarbeiten sollte demnach reduziert werden.

–Auch bei der Benotung und ihren Folgen fordern die Expertinnen und Experten einen Sonderweg im kommenden Jahr: «Übergangsentscheidungen und die Vergabe von Abschlüssen sollten soweit möglich von Zensuren entkoppelt und auf das klassische Sitzenbleiben verzichtet werden», heißt es in der Studie.

Die Vorschläge erfordern, wenn sie denn konsequent umgesetzt werden, viel Mut auf Seiten der Bildungspolitik. Bei vielen Fachleuten allerdings stoßen sie auf überwiegend positive Resonanz. Denn die Corona-Krise wird von Schulakteurinnen und -akteuren auch als Chance begriffen: als Chance zum Umbau bisher verkrusteter Strukturen, als Möglichkeit zum Ausprobieren neuer Lernwege, als Anstoß zum Denken bisher ungedachter Möglichkeiten.

Die Autorinnen und Autoren, die innerhalb weniger Tage und Wochen ihre Beiträge zu diesem Sammelband erstellt haben, wollen zu diesem Umdenken ermutigen: Schule kann und darf nicht einfach wieder zurückfallen in den früheren Modus, sondern sollte den Schwung nutzen, der vielerorts gerade zu spüren ist; und sie sollte da, wo in den vergangenen Wochen und Monaten schwierige oder gar schmerzhafte Erfahrungen gemacht wurden, Lernbereitschaft zeigen und Neues wagen. Allerdings: Das eine Rezept, nach dem überall in Deutschland, der Schweiz und Österreich ab sofort der perfekte Unterricht gemacht werden kann, gibt es nicht. Die Anregungen sind so vielfältig wie die Autorinnen und Autoren, und so finden Sie in diesem Band wissenschaftliche Studien ebenso wie Essays, konkrete Handlungshinweise ebenso wie persönliche Erfahrungsberichte. Wir haben versucht, diese Vielfalt der Stile und Vorlieben so weit wie möglich beizubehalten.

Allen, die mit ihren Gedanken und Ideen dieses Buch bereichern, sind wir zu großem Dank verpflichtet – für die unkomplizierte und schnelle Zusammenarbeit, vor allem aber für die zahlreichen pädagogischen, strukturellen und politischen Anregungen, die das Buch für Sie als Leserinnen und Leser hoffentlich genauso interessant und spannend machen wie für uns als Herausgebende. Lassen Sie sich inspirieren – und nutzen Sie den Schwung für Veränderungen in Ihrer Schule und im gesamten Bildungssystem, wo sie nötig sind!

Julia Egbers, Armin Himmelrath

Cuxhaven/Köln, im Juli 2020

Das Schuljahr nach Corona (E-Book)

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