Читать книгу Wozu soll ich denn noch leben? - Armin Kaster - Страница 5

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„Wir gehen ins San Marco“, sagte Benny. „Du kommst doch mit, oder?“

Leon hörte Benny zwar, aber er schaute zu Boden und sagte nichts.

Die letzten Stunden waren ausgefallen.

Herr Hamm war krank. Auf Sport hatte Leon sowieso keine Lust. Er fühlte sich wieder richtig schlecht.

„Nee“, sagte Leon nach einer ganzen Weile, „muss noch was erledigen.“

Benny sah Leon fragend an. Die beiden waren seit der fünften Klasse Freunde.

Aber seit einigen Wochen hatte sich Leon verändert. Er zog sich immer mehr zurück und war verschlossen. Und dann wurde er plötzlich aggressiv und tobte rum. Richtig unberechenbar war Leon geworden.

„Was musst du denn erledigen?“, wollte Benny wissen.

Da kam Kathie plötzlich angebraust und hielt Benny von hinten die Augen zu. Der grinste und sagte: „Laura? Kim? Jenny?“

Dafür fing er sich von Kathie einen Stoß in die Rippen ein. Die beiden waren seit zwei Wochen zusammen. Kathie tat so, als würde sie schmollen, doch Benny zog sie an sich heran.

„Komm schon“, sagte er und gab ihr einen Kuss. Schnell war Kathie versöhnt und lächelte Benny an. Keiner der beiden merkte, dass Leon sich still und leise verdrückt hatte.


„Was machst du denn hier?“, blaffte Marlon, Leons älterer Bruder.

Er kam aus dem Bad und war halb nackt. Leon sah von seinem Bruder zur Badezimmertür. Ein Schatten huschte zur Seite. Dann flog die Tür mit einem lauten Knall zu. Vermutlich war das Bea, Marlons zickige Freundin.

Leon wollte sich an seinem großen Bruder vorbei in sein Zimmer schieben.

„Brüderchen, du störst“, sagte Marlon und stellte sich ihm in den Weg. „Die Schule kannst du auch woanders schwänzen.“

„Von wegen schwänzen. Der Hamm ist krank“, sagte Leon.

Er roch das Deo seines Bruders. Dessen Oberkörper war durchtrainiert. Marlon spielte in der 1. Mannschaft der Red Tigers und war der Quarterback seines Teams. Leon konnte American Football nicht ausstehen. Die Typen sahen aus wie aufgepumpte Actionfiguren, und die Mädels hüpften mit ihren dämlichen Puscheln rum und sangen oberbeknackte Cheerleader-Songs. Bea gehörte auch dazu.

„Kann ich mal durch?“, piepste Bea und lächelte Leon süßsauer an. Sie hatte sich ein viel zu kurzes Handtuch umgelegt und verschwand in Marlons Zimmer.

„Glotz nicht“, knurrte Marlon und gab Leon eine Kopfnuss.

Leon fühlte sich schlagartig klein und hässlich. Besonders, wenn er die Muskelpakete seines Bruders sah. Er selbst war eher schmächtig.

„Und das nächste Mal sagst du uns vorher, wenn du wieder störst“, rief Marlon hinterher. „Oder ich erzähl’ dem Alten mal von eurem Versteck.“


Der Alte, das war Leons Vater. Er war ein strenger Mensch, bei dem nur die Arbeit und Leistung zählte. Das hatte Leon schon immer zu spüren bekommen.

Und das Versteck?

Leon wurde ganz schlecht, wenn er daran dachte. Das durfte Marlon nicht tun. Das durfte er einfach nicht verraten!

Seit Marlon von dem Versteck wusste, war Leon klar, dass ihn sein Bruder unter Druck setzen konnte. Leon hatte nicht viel, was ihm Spaß machte. Das Versteck war das Einzige, was ihm wirklich wichtig war.

Das Versteck und Benny. Und natürlich auch die Clique, klar.


„Warum bist du denn so schnell abgehauen?“ Benny war am Telefon. Obwohl sie beide im selben Hochhaus wohnten, telefonierten sie. Bevor Leon antworten konnte, plapperte Benny schon lustig drauf los.

„Jenny, Betty und Fabian waren auch noch mit. Hast nur du gefehlt. Ehrlich! Ach, und das mit Kathie, das wird auch immer besser. Morgen Abend sind ihre Eltern im Kino. Und soll ich dir mal sagen, wo ich morgen Abend bin? …“

Bennys Worte erreichten Leon kaum. Er saß auf dem Bett und starrte auf die gegenüberliegende Wand. Er fühlte sich leer und kraftlos. Benny redete einfach weiter. Der merkte anscheinend gar nicht, dass Leon schwieg. Erst als Benny sagte: „… ich dachte, ich zeig’ den anderen mal den Keller“, wurde Leon wach.

„Was dachtest du?“

Leon fühlte sich wie eben, als Marlon damit gedroht hatte, ihrem Vater das Versteck zu verraten.

„Ey, komm“, sagte Benny. „Früher oder später müssen wir den anderen den Keller zeigen.“

Leon wusste nicht, was er sagen sollte. Benny hatte ja Recht. Aber heute war wieder so ein Tag, an dem sich Leon völlig beschissen fühlte. Irgendwie hatte er auf nichts Lust.

Und gegen den aufgekratzten Benny konnte er sich erst recht nicht durchsetzen.

„Hallo!? Erde an Leon! Ist da wer? Ist da menschliches Leben auf dem Raumschiff Leon Strack?“

Leon lachte. Das musste er seinem Freund schon lassen: Aufmuntern konnte er ihn.


Leon verließ die Wohnung und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten. Dort war das Versteck, ein kleiner Raum hinter dem Fahrradkeller. Den hatte er entdeckt, als er vor drei Wochen nach einer Luftpumpe gesucht hatte. In der hintersten Ecke hatte er die kleine Tür gesehen. Dahinter befand sich ein Raum, fast so groß wie Leons Zimmer. Darin stank es zwar abartig, aber nachdem Leon eine kleine Luke geöffnet hatte, verzog sich der Geruch schnell. In dem Raum war es dämmrig und gemütlich.

In dem Moment hatte Leon gewusst, dass er den Kellerraum einrichten würde. Ein Zimmer am Rande der Welt.


„Ich hab’ noch ein paar Decken organisiert“, sagte Benny, der plötzlich durch die kleine Tür gekrochen kam. „Meine Mutter wollte die schon wegtun.“

„Zieh den Karton vor die Tür“, zischte Leon. Er hatte sich das angewöhnt, weil er nicht wollte, dass jemand das Versteck fand. Doch Marlon hatte es entdeckt, weil er Leon vor drei Tagen einfach gefolgt war. So war Leons großer Bruder: Wenn er ein Geheimnis witterte, ließ er nicht mehr locker. Nicht umsonst arbeitete er bei einem Security-Dienst.

„Stell dich nicht so an“, konterte Benny. „Wird schon keiner kommen.“

Mitten im Raum stand eine Kerze und tauchte den Keller in goldenes Licht.

Benny grinste Leon an und sagte:

„Guck mal, was ich Gutes organisiert habe.“ Benny zog aus seiner Jacke einen Joint.

Nach einer Viertelstunde hatten sie den Joint geraucht. Obwohl beide erst 15 waren, kifften sie manchmal und tranken auch Alkohol.

„Ich glaub’, ich fliege“, sagte Benny und bog sich vor Lachen.

Bei Leon hatte der Joint eine ähnliche Wirkung. Er fühlte sich plötzlich besser.

Die unerklärliche Angst und die Traurigkeit, die ihn seit einigen Tagen wieder begleiteten, waren weniger geworden.

„Das Zeug ist gut“, murmelte Leon und sah lächelnd zu Benny. Der lag ausgestreckt auf einer Decke und grinste. Die Kerze warf flackernde Schatten an die Wand.

„Und was sagst du zu der Idee?“, fragte Benny.

Benny wollte mit den anderen eine kleine Party im Keller veranstalten.

Leon zuckte mit den Schultern.

„Weiß nicht …“, murmelte er.

Aber eigentlich wusste er es genau. Er wollte hier unten allein sein. Allein oder mit Benny.

„Ach komm schon“, sagte Benny. „Die sind doch in Ordnung. Außerdem bekomme ich am Freitag Gras. Total reines Zeug. So was hast du noch nicht geraucht.“

Leon kiffte gern. Wenn er breit war, fühlte er sich leicht und nicht mehr so nervös und abgeturnt.

„Von mir aus“, murmelte er und wusste gleichzeitig, dass er es nur für Benny und wegen des Grases tat.

Wozu soll ich denn noch leben?

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