Читать книгу Wozu soll ich denn noch leben? - Armin Kaster - Страница 6

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„Leon! Jetzt komm endlich zum Essen“, rief die Mutter.

Sofort bekam Leon schlechte Laune. Seine Mutter hatte wieder ihren Kreischton drauf. Fehlten nur noch der Hauskittel aus geblümtem Stoff und der Putzlappen über der Schulter.

„Schaut die eigentlich auch mal in den Spiegel?“, fragte sich Leon.

„Guten Abend, Schlaffi“, begrüßte ihn Angelina, seine ältere Schwester. Sie saß schon am Tisch und grinste ihn spöttisch an.

„Haste gepennt?“

Leon setzte sich. Der Joint wirkte nicht mehr. Er war nur noch müde.

Hinter sich hörte er den Vater in die Küche kommen. Wortlos setzte der sich an den Tisch und füllte seinen Teller. Dabei drehte er jede Kartoffel 3-mal rum. Anscheinend war ihm nur das Beste gut genug.

„Hier nimm mal“, sagte die Mutter.

Weil Leon nicht sofort reagierte, bekam er einen Schlag in den Rücken. Marlon war gerade in die Küche gekommen und knurrte:

„Mensch, Leon, schlaf nicht.“

Angelina verdrehte die Augen.

„Wo haben wir den nur her?“, sagte sie und sah Leon mit funkelnden Augen an.

„Das frage ich mich auch“, ergänzte die Mutter und knallte die Schale mit dem Gemüse auf den Tisch.

Leon fühlte heiße Wut in sich aufsteigen. Gleichzeitig war er machtlos und wusste nicht, wie er sich gegen seine Familie wehren konnte. Hier hatten es wohl alle auf ihn abgesehen. Und obwohl er wütend war, hielt er seinen Mund. Gegen diese Überzahl fühlte er sich einfach unterlegen. Er spürte ganz deutlich, dass hier alle gegen ihn waren.


„Ich möchte mal wissen, von wem er das hat?“, sagte die Mutter und setzte sich an den Tisch.

Angelina und Marlon warfen sich viel sagende Blicke zu. Die Mutter kaute ihr Essen mit saurer Miene. Sie hatte nie verheimlicht, dass sie nur zwei Kinder gewollt hatte.

Und dann war noch Leon geboren worden. Als ungewollter Nachzügler.

„Jeden Tag das Gleiche“, sagte sie. „Ich gehe die ganze Woche putzen, mache auch noch den Haushalt, und Leon schafft es nicht mal, pünktlich zum Essen zu kommen. Marlon verdient wenigstens Geld, und Angelina macht im nächsten Jahr ihr Abi.“ Mit einer knappen Kopfbewegung deutete sie auf Leon.

„Hey, was soll das?“, platzte Leon, der endlich genug hatte.

Jetzt hob der Vater den Kopf.

„Sei still, und iss“, sagte der nur knapp und sah Leon kurz an. Dann aß er schweigend weiter.

Marlon und Angelina grinsten.

Leon stopfte sich das braune Gulasch in den Mund und versuchte, zu schlucken, ohne sich übergeben zu müssen. Er hatte schon lange keine Lust mehr auf das Abendessen mit seiner Familie. Leon wünschte sich weit weg. So weit, dass ihm niemand folgen könnte. Aber wo sollte er hin?


„Klar, Oma. Morgen Mittag bin ich da. Sag noch mal kurz, was du alles brauchst.“

Leon telefonierte mit seiner Oma.

Frau Strack, die Mutter seines Vaters, lebte zwei Blocks weiter in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung und brauchte manchmal Hilfe.

Seine Geschwister waren meistens weg, seine Mutter arbeitete, und auch der Vater ließ sich bei seiner Mutter nur zu Geburtstagen und an Weihnachten blicken. So kam es, dass meist Leon für seine Oma sorgte.

„Alles klar, ich hab’s aufgeschrieben: Butter, Salami, Schokolade und eine kleine Flasche Sekt“, wiederholte Leon die Bestellung seiner Oma.

„Geben die dir schon Sekt?“, wollte die alte Dame wissen.

„Geht schon klar“, sagte Leon. „Lass das mal meine Sorge sein.“

Die Oma war der einzige Mensch, bei dem sich Leon wirklich gut fühlte. Sie war immer für ihn da gewesen. Bei ihr gab es keine Nörgeleien. Sie liebte ihren Enkel. Ohne Gemecker, einfach wie er war. Das kannte Leon vom Rest seiner Familie nicht.

„Ich bin dann um drei bei dir. Schlaf gut, Oma.“


Den restlichen Abend verbrachte Leon auf seinem Bett und hörte Musik. Eigentlich musste er seinen Praktikumsbericht schreiben. Die anderen aus seiner Klasse hatten den Bericht schon abgegeben, nur seiner fehlte noch.

„Es ist einfach zum Kotzen …“, sprach Leon mit sich selbst. Ihm fehlte einfach die Power, sich an die Arbeit zu machen. Am liebsten hätte er sich die Decke über den Kopf gezogen und wäre bis zum Wochenende im Bett geblieben. Aber auch das Wochenende war nicht der Knaller. Jetzt würden die anderen das Versteck kennen lernen.

Sein Versteck. Seine Höhle, in die er kriechen konnte, wenn es ihm mies ging.

Und es ging ihm mies. Ihm war alles zu viel. Die ständigen Nörgeleien seiner Familie, Bennys neue Freundin und überhaupt alles.


„Ich verrate dir was, Leon Strack. Wenn du nicht bald mal die Kurve kriegst und deinen Allerwertesten hoch bekommst, dann stehst du am Ende der zehnten ziemlich blöd da“, polterte Herr Gerber, Leons Deutschlehrer.

„Morgen sehe ich deinen Praktikumsbericht. Letzte Ansage.“

Leon sah zu Benny.

Der machte irgendwelche Mundbewegungen und verdrehte die Augen.

Doch Leon war genervt und sah aus dem Fenster. Plötzlich durchfuhr Leon eine Welle der Wut. Ohne es recht zu merken, sprang er auf und lief durch den Klassenraum, direkt auf die Tür zu.

Leon fühlte sich wie ferngesteuert. Hinter ihm rief Herr Gerber:

„Leon?! Was wird das jetzt?“

Doch Leon kümmerte sich nicht darum, drückte die Klinke und war draußen. Er stand im Flur und hörte Herrn Gerber ein zweites Mal rufen: „Leon! Komm sofort zurück …“

Den Rest hörte er nicht mehr. Er war schon fast am Ende des Flures.

Das tat gut. Das tat mal so richtig gut.

Leon lief den Gang hinunter.

Als er kurz vor der Glastür war, rief Herr Gerber durch den Flur: „Leon! Das hat Konsequenzen!“

Doch Leon war das egal. Er hob die rechte Hand und streckte seinen Mittelfinger aus.

Sollte der Gerber ruhig sehen, wie egal ihm alles war. Dann war er weg.


„Und den Sekt hast du auch bekommen“, sagte die Oma und strahlte ihren Enkel an.

„Hab’ ich doch gesagt“, grinste Leon und setzte sich an den Küchentisch.

‚Wenn die wüsste, was man sonst noch so bekommt‘, dachte er.

Vor ihm stand eine Tasse Kakao. Längst war sein größtes Glück nicht mehr Kakao. Aber die Oma stellte ihm noch immer eine Tasse heiße Schokolade vor die Nase, wenn er bei ihr war. Als Kind hätte er für Omas Kakao alles getan.

Aber jetzt wurde er erwachsen.

‚Schade‘, dachte Leon. Denn als Kind hatte er noch keine Sorgen gehabt. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern.


„Und, was macht dein Freund Benny?“, wollte die Oma wissen.

„Der hat eine Freundin“, antwortete Leon und verdrehte die Augen. „Die große Liebe.“

Die Oma lächelte und nickte mit dem Kopf. Dann sah sie Leon an.

„Und du? Wie sieht’s bei dir aus?“

Schlagartig braute sich eine Gewitterwolke über Leons Kopf zusammen.

„Ach, Oma …“, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Das hat noch Zeit.“

Aber wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er gesagt: ‚Wer will schon einen wie mich? Und am liebsten habe ich meine Ruhe. Irgendwie hab’ ich immer mehr Ärger in meinem Leben, und alles geht mir auf die Nerven.‘

Aber das konnte Leon nicht sagen. Dafür fehlten ihm die Worte. Aber tief in sich spürte er es. Jeden Tag. Jede Minute. Jede Sekunde. Seine Familie behandelte ihn wie einen Aussätzigen, und Leon verstand nicht, warum. Und dann wunderten sie sich, dass ihm irgendwann wirklich alles egal geworden war.


Leon stand auf und stellte die Sachen in den Kühlschrank. Als er sich wieder setzte, fiel ihm auf, wie alt seine Oma geworden war. Sie saß mit krummem Rücken am Tisch. Sie wirkte richtig müde.

„Alles klar, Oma?“, fragte Leon.

Die alte Frau fuhr zusammen. Mit einem traurigen Lächeln sah sie ihren Enkel an.

„Ja, mein Lieber“, sagte sie und streichelte seinen Arm. „Unkraut vergeht nicht.“


„Setz dich bitte mal da hin.“

Der Vater zeigte mit der ausgestreckten Hand auf den Küchenstuhl.

Leon wusste, was das bedeutete. Sein Magen zog sich zusammen, und er setzte sich wortlos an den Tisch. Seine Mutter stand vor dem Herd und rührte in einem Topf.

„Ich hatte gerade einen Anruf von Herrn Gerber“, sagte der Vater. Seine Hände lagen ordentlich gefaltet auf dem Tisch. Man hätte denken können, er wäre ein freundlicher Mann, der mit seinem Sohn spricht. Doch er war ein Tyrann. Einer, der mit ruhiger Stimme die fiesesten Dinge sagte.

Leon wurde zunehmend übel. Die Art, wie sein Vater sprach, war irgendwie bedrohlich.

„Dein Lehrer hat mir da etwas sehr Unangenehmes erzählt.“

„Das war nur …“, stammelte Leon.

„Still“, zischte der Vater und schloss die Augen. Er atmete gleichmäßig ein und aus, und es schien, als könnte er sich nur schwer zurückhalten, sich auf seinen Sohn zu stürzen.

„Ich fange noch einmal von vorne an“, sagte er, jetzt wieder ruhig. Er öffnete die Augen und sah Leon kalt an.


„Herr Gerber hat mich heute angerufen.

Du hast den Unterricht verlassen und dich unverschämt benommen. Außerdem steht noch dein Praktikumsbericht aus.“

Leon starrte auf den Tisch. Neben ihm klapperte die Mutter am Herd. Sie hielt den Kopf gesenkt und schwieg.

Der Vater beugte sich vor und sprach sehr leise weiter, fast flüsternd:

„Ich bin sehr enttäuscht. Aber was will man von dir auch groß erwarten?“

Leon spürte, wie sich der Blick seines Vaters tief in ihn bohrte. Er konnte es kaum ertragen. Dieser Blick war so vernichtend und kalt, dass sich Leon wie ein Stück Dreck fühlte. Wieso verstand sein Vater nicht, dass er nur so war, weil er ihn so behandelte?

„Du gehst jetzt in dein Zimmer. Dort wirst du dich an deinen Schreibtisch setzen. Und erst, wenn der Praktikumsbericht fertig ist, darfst du es wieder verlassen. Verstanden?“

Leon war wütend. In ihm kochte es, und am liebsten hätte er alles zerschlagen. Aber gleichzeitig fühlte er sich so machtlos. Er glaubte, an seiner Wut ersticken zu müssen. Gegen seinen Vater kam er einfach nicht an. Leon nickte nur. Dann stand er auf.

Als er im Flur war, hörte er seinen Vater rufen:

„Und das Essen fällt für dich heute aus!“

Wozu soll ich denn noch leben?

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