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Оглавление[15]1 | Die Befragung als sozialwissenschaftliche Methode |
1.1 | Kurzer historischer Abriss der Umfrageforschung |
Die wissenschaftliche Anwendung der Befragung setzt historisch erst spät ein. Noelle-Neumann / Petersen (1996: 21, 620) datieren sie auf das Ende des 18. Jahrhunderts. Dies liegt zum einen daran, dass die Methode an die Auskunftsfähigkeit und Auskunftsbereitschaft der befragten Personen gebunden ist. Die Befragung erfordert – soll sie Themen übergreifend und alle Bevölkerungsteile erfassend eingesetzt werden – eine moderne Gesellschaftsform. Zum anderen haben sich die Gesellschaftswissenschaften erst im Lauf des 19. Jahrhunderts entwickelt1: Die Soziologie wurde von Auguste Comte (1798-1857) quasi erfunden. Der Begründer der positiven Wissenschaft, des »Positivismus«, gilt als Vorläufer für die empirisch-analytische Sozialforschung, obwohl erst der Soziologe Emile Durkheim (1858-1917) methodologisch für diese Richtung prägend wurde. Aber auch zwei andere empirische Zweige der Soziologie gehen auf berühmte Vorbilder zurück, die bereits mit der Methode der Befragung arbeiteten: Karl Marx (1818-1883) steht für die kritische Sozialforschung2 und Max Weber (18641920) für die verstehende Soziologie (vgl. Kaesler 2000: 206).
Zwei wesentliche Impulse für die Befragung speziell in der Kommunikationswissenschaft haben Max Weber und das Forscherteam um Paul F. Lazarsfeld gesetzt. Weber stieß bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die empirische Journalismusforschung an und arbeitete eine »Soziologie des Zeitungswesens« aus, [16]die er auf dem ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt 1910 vorstellte. Die geplante Zeitungsenquête sollte Erkenntnisse über die Materialbeschaffung der Medien und über die Merkmale der Journalisten erbringen.3 Dass die Untersuchung nicht realisiert werden konnte, lag an einem Professorenstreit und an mangelnder Unterstützung. Außerdem wurde in der Folgezeit eine Redakteursumfrage – allerdings ohne Beteiligung Webers – geplant und durchgeführt. Ihre Auswertung kam aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr zustande. Die Fragebögen gelten heute als verschollen (vgl. Kutsch 1988: 5f., 15).
Lazarsfeld wurde neben der eher soziologischen Untersuchung über die »Arbeitslosen von Marienthal« mit der 1931 durchgeführten Befragung von Radiohörern für die »Radio und Verkehrs-AG« (RAVAG) bekannt, die als Beginn der Rezipientenbefragung gelten kann. In standardisierten Fragebögen wurden 50 Radioprogramme aufgelistet, zu denen die Hörer angeben sollten, ob sie diese Programmelemente »häufiger, weniger oder in der bisherigen Menge« zu hören wünschten. Daneben wurden die soziodemografischen Merkmale erhoben, um Korrelationsanalysen durchführen zu können. Insgesamt wurden von den überall ausgelegten Fragebögen 38.000 von insgesamt 110.000 Personen (zum Teil Familienmitglieder) ausgefüllt (vgl. Neurath 1990: 77ff.).
Beide Pionierstudien der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft, die über das Planungsstadium nicht weiter verfolgte Zeitungsenquête Webers wie die in wissenschaftlicher und praktischer Hinsicht folgenreiche Radiohörerstudie Lazarsfelds, gingen mit einer großen Selbstverständlichkeit theoretisch interdisziplinär vor und verknüpften methodisch quantitative und qualitative Verfahren (vgl. Reimann 1989: 34, 37). Während Webers Forschungsvorhaben trotz der Relevanz der Fragestellungen keine Resonanz erzeugte und lange Zeit von keinem Publizistik- oder Kommunikationswissenschaftler aufgenommen wurde, konnte Lazarsfeld die Radiohörerforschung nach seiner Emigration in die USA im Rahmen des »Radio Research Project« am »Office of Radio Research« fortsetzen, mit dem er 1937 an der Princeton University begann und das er 1939 an der Columbia University in New York weiterführte. Daraus entstand 1944 das »Bureau of Applied Social Research« (vgl. Jacob / Eirmbter / Décieux 2013: 12f.), von dem auch die ersten Panelbefragungen zur Erforschung des Wahlverhaltens konzipiert und durchgeführt wurden. Diese Studie »The People’s Choice« und die Folgestudien stießen die Forschung um die Hypothese des »Two-Step-Flow of Communication« an und bauten sie empirisch aus.
[17]Die empirische Erforschung der öffentlichen Meinung mit Umfragen reicht wahrscheinlich bis ins 19. Jahrhundert zurück: Bereits im Vorfeld der U.S.-Präsidentschaftswahl von 1824 sollen erste »straw polls« als Probeabstimmungen der Öffentlichkeit stattgefunden haben. Die Zeitschrift »Literary Digest« verschickte 1928 rund 18 Millionen Wahlzettel an die Abonnenten und sagte den Präsidentschaftskandidaten in der Wahl von 1928 korrekt voraus. Allerdings schlug die Vorhersage von 1936 fehl. Das von George Gallup 1935 gegründete »American Institute of Public Opinion« war erfolgreicher, weil Gallup eine Zufallsstichprobe nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Regeln zog, welche die U.S.-amerikanische Gesellschaft repräsentierte, während die Stichprobe von »Literary Digest« offensichtlich politisch verzerrt war. Gallup erlebte zwar 1948 ebenfalls ein Debakel, als sein Institut den falschen Kandidaten als Sieger prognostizierte, aber er gilt in zweierlei Hinsicht als wegweisend: aufgrund seiner theoretisch fundierten Stichprobenziehung und weil er mit Meinungsumfragen nicht nur Wahlen vorhersagen wollte, sondern sie von Anfang an konsequent an die Erfassung der öffentlichen Meinung koppelte (vgl. Keller 2001: 31ff., 47ff.).
Die akademische Erforschung der öffentlichen Meinung geht auf Hadley Cantril und sein 1940 in Princeton gegründetes »Office of Public Opinion Research« zurück. 1941 wurde das »National Opinion Research Center« (NORC) an der Universität Chicago gegründet, das sich zum führenden akademischen Institut der Meinungsforschung entwickelte (vgl. Jacob / Eirmbter / Décieux 2013: 13f.).
In Deutschland wurde das erste »Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften« unter der Leitung von Leopold von Wiese 1919 an der Universität Köln gegründet, das sich später zur Hochburg einer empirischen Forschung nach den Regeln des »Kritischen Rationalismus« entwickeln sollte. 1924 entstand in Frankfurt/Main das »Institut für Sozialforschung«, an dem die »Kritische Theorie« von Max Horkheimer (Institutsdirektor seit 1930), Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm u.a. erarbeitet wurde (vgl. Diekmann 2011: 110). Die Befragungen in der Zeitungswissenschaft, dem Vorläuferfach der heutigen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, blieben dagegen sporadisch (vgl. Meyen 2002: 60ff.).
In der Nachkriegszeit wurde die empirische Sozialforschung vor allem in Westdeutschland durch die Kölner Soziologen René König (als Nachfolger von Leopold von Wiese) und Erwin K. Scheuch vorangetrieben. Das an der Universität Köln 1960 gegründete (und von 1963 bis 1990 von Scheuch geleitete) »Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung« (ZA) sowie das 1974 gegründete »Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen« (ZUMA) in Mannheim fördern die Entwicklung empirischer Methoden, führen aber kaum im engeren Sinn Kommunikationsforschung durch. Der vom ZUMA seit 1980 im zweijährigen Abstand [18]durchgeführte »ALLBUS« hat 1998 (einmalig) auch einige Fragen zur Mediennutzung aufgenommen.4 Das ZA dokumentiert und archiviert empirische Datensätze und stellt sie für wissenschaftliche Sekundäranalysen zur Verfügung. Daneben bibliografiert das Bonner »Informationszentrum« (IZ) die empirisch ausgerichtete sozialwissenschaftliche Forschungsliteratur. ZUMA, ZA und IZ schlossen sich Ende der 80er Jahre zur »Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen« (GESIS) zusammen (vgl. Diekmann 2011: 114), die sich seit 2008 »GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften« nennt.
In der DDR war eine eigenständige Meinungsforschung weitgehend unbekannt bzw. blieb unsichtbar. Dabei gab es durchaus Befragungsstudien mit wissenschaftlichem Anspruch. So führte die Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees bereits 1951 eine Kombination aus Einzelgesprächen (in Haushalten und in Betrieben), Gruppendiskussionen (in Betrieben) mit Akten und Statistiken zur Akzeptanz der Parteipresse in den Verbreitungsgebieten der Sächsischen Zeitung und der Chemnitzer Volksstimme durch. Mitte der 50er Jahre wurden auch Hörer von Radio DDR zum Programm befragt. Die vom Staatlichen Rundfunkkomitee der DDR 1956 gegründete Hörerforscherabteilung orientierte sich an den Standards in den USA und in der Bundesrepublik (vgl. Meyen 2002: 75f.). Das Zentralkomitee der SED institutionalisierte 1964 mit der Einrichtung des »Instituts für Meinungsforschung« sogar die Umfrageforschung, um die Wirksamkeit staatlicher Propaganda zu erforschen. Aber weder war nach außen sichtbar, dass es sich um ein Institut der SED handelte, noch wurden die Ergebnisse veröffentlicht. 1979 wurde es aus politischen Gründen geschlossen und das Archiv vernichtet, sodass nur wenige Forschungsberichte und Unterlagen existieren (vgl. Niemann 1993: 17ff.).
Neben der akademischen Sozialforschung betreiben kommerzielle Markt- und Meinungsforschungsinstitute angewandte Markt-, Meinungs- und Medienforschung. Wegweisend für ihre Entwicklung nach dem Krieg ist der Zusammenschluss von mittlerweile 40 deutschen Markt- und Meinungsforschungsinstituten zum »Arbeitskreis Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute e.V.«, der 1955 – damals noch unter dem Namen »Arbeitskreis für betriebswirtschaftliche Markt- und Absatzforschung e.V.« – gegründet wurde. Er vertritt die Interessen der Mitgliedsinstitute und entwickelt für sie Qualitätskriterien und ethische Standards (vgl. ADM / AG.MA 1999: 159ff.).
Der Aufbau eines ADM-Stichproben-Systems erfolgte in den 50er und 60er Jahren aufgrund der zunehmenden praktischen und rechtlichen Schwierigkeiten, [19]auf die Daten der Einwohnermeldeämter zurückzugreifen. Außerdem sollte auf diese Weise ein für alle beteiligten Institute einheitliches und verbindliches System der Stichprobenplanung geschaffen werden. Dieses System wurde schrittweise entwickelt und dabei mehrfach verändert (vgl. Löffler 1999).
Ebenfalls von großer Bedeutung für die angewandte Medienforschung ist die 1954 gegründete »Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V.« (AG.MA), damals noch unter dem Namen »Arbeitsgemeinschaft Leser-Analyse e.V.« (AGLA). Sie ist ein Zusammenschluss von Unternehmen der deutschen Werbewirtschaft zur Erforschung der Massenkommunikation (vgl. ADM / AG.MA 1999: 164f.). Zunächst wurden vergleichbare Daten zur Größe und Struktur der Leserschaft von Publikumszeitschriften erhoben, heute zum Publikum aller Medienbereiche (→ www.utb-shop.de, Kapitel 1.2). Um die steigende Internetnutzung erforschen zu können, wurde 2002 die »Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung« (AGOF) von Online-Vermarktern und Online-Werbeträgern gegründet. Sie ist 2004 der AG.MA beigetreten (vgl. www.agof.de; Welker / Werner / Scholz 2005: 11).
Eine Sonderstellung nimmt das 1947 gegründete »Institut für Demoskopie Allensbach« ein. Die Gründerin Elisabeth Noelle-Neumann steht für die Verbindung zwischen akademischer (Grundlagen-)Forschung und angewandter kommerzieller Markt- und Meinungsforschung. Dafür ist auch kennzeichnend, dass das IfD zahlreiche methodische Experimente durchgeführt hat und in diesem Bereich weltweit führend sein dürfte (vgl. Meyen 2002: 67ff.).
Trotz der Zusammenschlüsse der Institute und der Verbindung zur universitären Forschung ist die angewandte private Meinungsforschung kommerziellen Interessen ausgesetzt. Insbesondere die harte Konkurrenz führt dazu, dass die Umfragen in der Regel nicht vergleichbar sind, weil die Fragebögen und die Zusammensetzung der Interviewerstäbe unterschiedlich sind. Die Abhängigkeit vom Auftraggeber mündet in einen Zielkonflikt, sich einerseits durch hohe Qualität von der Konkurrenz abzuheben, aber andererseits die Kosten zu senken.
Eine besondere Problematik (aber auch Chance) ergibt sich durch die vor politischen Wahlen durchgeführten Wahlumfragen zur Prognose der Wahlergebnisse. Hier konkurrieren die kommerziellen Institute direkt, und die Ergebnisse sind durch den tatsächlichen Wahlausgang überprüfbar. Immer wieder diskutiert wird auch der Zweck solcher Wahlumfragen: Machen sie die Demokratie transparenter und geben den Wählern eine rationale Informationsgrundlage für ihre Wahlentscheidung, oder werden sie von Politikern zu manipulativen Zwecken instrumentalisiert? Sie sind auf jeden Fall ein Element der öffentlichen Meinungsbildung neben den Medien, aber auch in den Medien, die immer wieder auf demoskopische Ergebnisse zurückgreifen.
[20]1.2 | Einordnung, Definition und Ziele der Befragung |
Die Befragung gehört zu den sozialwissenschaftlichen Methoden wie die Beobachtung (von Personen, Handlungen, Ereignissen) und die Inhalts- oder Textanalyse (von mündlichen und schriftlichen Texten, von Bildern, Fotos oder Filmen). Oft wird in Lehrbüchern zwischen empirischen und nicht-empirischen Methoden getrennt. Dabei werden empirische Methoden als Sammlung und Systematisierung von Erfahrungen über die (soziale) Realität charakterisiert, während nicht-empirische Methoden das Verstehen singulärer Sachverhalte aufgrund der eigenen Erfahrung des Forschers oder seines theoretischen Wissens zum Ziel haben. Die empirischen Methoden lassen sich wiederum in quantitative und qualitative unterscheiden (vgl. Brosius / Haas / Koschel 2012: 2ff.). Eine solche Unterscheidung beruht auf einem engen und exklusiven Empiriebegriff.5
In einem weiten Empiriebegriff wird dagegen Empirie als komplementäres Gegenstück zu Theorie verstanden (vgl. Loosen / Scholl / Woelke 2002: 38f.). Während Theorie demnach die rein gedankliche – spekulative oder logisch strenge – Beschäftigung mit einem Forschungsgegenstand ist, erfordert Empirie immer den direkten forschungspraktischen Bezug auf einen außerwissenschaftlichen Forschungsgegenstand.6 Hermeneutische Methoden wären dann insofern empirisch, als sie den Forscher systematisch an einen bestimmten Forschungsgegenstand, etwa ein Gedicht oder ein aufgezeichnetes Gespräch, »koppeln«.
Der Vorteil eines weiten Empiriebegriffes besteht darin, dass er keine Trennung zu nicht-empirischen Verfahren vollziehen muss, was trotz gegenteiliger Bekundungen in der Regel praktisch auf den Ausschluss dieser Verfahren aus dem Lehrkanon des sozialwissenschaftlichen Fachs Kommunikationswissenschaft hinausläuft. Der Nachteil besteht darin, dass die notwendigen Unterscheidungen dann auf Binnendifferenzierungen verlegt werden müssen. Diese werden im nächsten Kapitel mit der ebenfalls gängigen Gegenüberstellung standardisierter und offener Befragungsmethodologie nachgereicht.
[21]Die Befragung hat die (Alltags-)Kommunikation als Grundlage und benutzt diese für die Gewinnung von Informationen über das Forschungsobjekt. Gleichzeitig ist (öffentliche) Kommunikation der Forschungsinhalt der Kommunikationswissenschaft. Daraus ergeben sich besondere Chancen, aber auch Risiken für diese Methode. Die Chancen bestehen darin, dass sie prinzipiell an die alltägliche Kommunikation anknüpfen und in allen Teilen der Bevölkerung eingesetzt werden kann. In westlichen Kulturen ist die (wissenschaftliche) Befragung mittlerweile so weit etabliert, dass sie als Sozialtechnik mit ihren Regeln allgemein bekannt und auch weitgehend akzeptiert ist.
Allerdings ist die (sozial)wissenschaftliche Befragung nicht identisch mit informellen Gesprächsformen und bedarf insofern einer gewissen Transferleistung der alltäglichen Gesprächssituation auf die wissenschaftliche Befragungssituation durch die Forscher (Interviewer) und durch die Befragten. Diese Übertragungen sind einerseits erwünscht, um die Auskunftsbereitschaft der Befragten überhaupt zu sichern; sie sind andererseits riskant, weil bestimmte soziale Normen, wie sie in Gesprächen praktiziert werden, nicht zu gültigen Informationen über den Befragten führen. So ist es in alltäglichen Konversationen üblich, nichts über sich zu kommunizieren, was den Eindruck bei den Gesprächspartnern negativ beeinflussen könnte. Man versucht in der Regel, sich selbst gut darzustellen oder zumindest keinen Anlass zu geben, dass ein schlechter Eindruck entsteht (»impression management«). Abgesehen von offenen Provokationen und witzig-ironischen Gesprächsformen verläuft das Gesprächsverhalten im Rahmen dessen, was sozial erwünscht ist oder dafür gehalten wird.
Bei der Befragung geht es dagegen um valide, authentische Informationen des Befragten über sich selbst, über andere oder über Organisationen, die der Befragte repräsentiert, aber nicht darum, einen möglichst guten Eindruck von sich (oder der eigenen Organisation) beim Interviewer oder bei der Forschungsinstitution zu hinterlassen. Die Befragungssituation ist deshalb vom Prinzip her weitgehend entlastet von den konformitätserzeugenden sozialen Regeln. Weder der Forscher noch der Interviewer haben irgendeine Möglichkeit, das Auskunftsverhalten des Befragten oder die Auskunftsinhalte der Antworten zu sanktionieren, die Befragung beruht auf der Freiwilligkeit der Teilnahme und der Auskunftserteilung. Die einzige Ausnahme von dieser Regel sind (die nicht-wissenschaftlichen) Volkszählungen, bei denen die Auskunft vom Gesetzgeber erzwungen werden kann. Für die (sozial)wissenschaftliche Befragung stehen dagegen nur Appelle und Überzeugungsversuche zur Verfügung, die den Befragten zur Teilnahme an der Befragung und zur ehrlichen Auskunft bewegen sollen.
[22]Das Ziel der (sozial)wissenschaftlichen Befragung besteht zusammengefasst darin, durch regulierte (einseitig regelgeleitete) Kommunikation reliable (zuverlässige, konsistente) und valide (akkurate, gültige) Informationen über den Forschungsgegenstand zu erfahren. Die Befragung ist eine Art Aufforderung zur Selbstbeschreibung des Befragten. Der Forschungsgegenstand, das Selbst dieser Beschreibung, kann, muss nicht identisch mit der Auskunftsperson, dem Befragten, sein; es kann sich auch um einen dem Befragten nahen Forschungsgegenstand handeln, etwa um eine Organisation, für die der Befragte arbeitet bzw. in der er Mitglied ist, oder um eine dem Befragten nahestehende Person; man spricht im letzt genannten Fall von einer »Proxy-Befragung«.
Je nach Stellenwert, der dem Befragten seitens des Forschers eingeräumt wird, variieren die Bezeichnungen: In der angewandten Sozialforschung wird häufig von Zielpersonen gesprochen, die auch diejenigen mit einschließen, die sich dem Interviewversuch entziehen oder die nicht erreichbar sind. In experimentellen Untersuchungen ist die Rede von Versuchspersonen, die eine vergleichsweise passive Rolle einnehmen, während in Lehrbüchern zur Befragung auch die Bezeichnung Untersuchungsteilnehmer gewählt wird, die eine aktivere Rolle des Befragten suggeriert. Die tatsächliche Aktivität des Befragten hängt vom Standardisierungsgrad der Befragung ab: Je offener die Befragung in der Form ist, desto aktiver muss sich der Befragte an der Strukturierung der Befragungssituation beteiligen.
Bei der Durchführung von (sozial)wissenschaftlichen Befragungen wird zwar versucht, an die Alltagssituation von Befragungen (Fragestellen, Information im Gespräch) anzuknüpfen. Allerdings handelt es sich hierbei um eine künstliche (nicht selbst gesuchte), asymmetrische (einseitig themenbestimmte), distanzierte (nicht persönlich werdende), neutrale (emotional nicht extreme), anonyme (nicht zwischen Bekannten erfolgende) Gesprächsform.
Voraussetzungen für eine gelungene Befragung sind neben der methodischen Kompetenz des Forschers und der Relevanz des Forschungsthemas hauptsächlich das Interesse des Befragten am Befragungsthema, seine inhaltliche und sprachliche Kompetenz, die prinzipielle Akzeptanz von Befragungen und Wissenschaft oder Meinungsforschung und seine spezielle, auf einzelne Fragen bezogene, Kooperationsbereitschaft sowie seine Ehrlichkeit bei der Beantwortung der Fragen.
Die Grenzen der Befragung ergeben sich daraus, dass es sich um eine kommunikative Methode handelt, die streng genommen nur über Kommunikationen Auskunft geben kann. Das bedeutet, dass Bewusstseinselemente (Gedanken, Gefühle) und Verhaltensweisen nur indirekt erschließbar sind und von der Befolgung [23]der oben aufgeführten kommunikativen Regeln abhängt.7 Insofern sind in der Befragung ermittelte Einstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen stets kommunikativ vermittelt. Man kann diese kommunikative Vermittlung als (potenzielle) Verzerrung der tatsächlichen Bewusstseinsinhalte und Verhaltensweisen auffassen, die man methodisch – etwa experimentell – zu reduzieren versucht, oder als eigenen sozialen Sinnbereich, der im Alltag relevant ist. Im ersten Fall interessieren die Gedanken oder Verhaltensweisen selbst, sodass die Befragung gegebenenfalls durch andere Methoden flankiert werden muss, wohingegen im zweiten Fall deren Kommunikationen der Forschungsgegenstand sind, wofür die Befragung uneingeschränkt geeignet ist (→ Kapitel 7.3.2 zum Thema »soziale Erwünschtheit«).
1.3 | Methodologische Unterscheidungen |
Wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden ist, gibt es einerseits verallgemeinerbare Ziele und Eigenschaften der Befragung, andererseits Differenzen, die zumeist methodologischer Herkunft sind. Man kann die sozialwissenschaftlichen Methoden generell in quantitativ-standardisierte und qualitativoffene Verfahren unterteilen. Diese Unterscheidung basiert auf verschiedenen Forschungsphilosophien; sie wird oft in Unterschiedskatalogen herausgestellt.8 Die Nützlichkeit solcher prinzipiellen Unterscheidungen ist fraglich, denn es handelt sich zwar um das jeweilige Selbstverständnis der beiden Forschungsphilosophien, aber die Forschungspraxis sieht in der Regel weniger gegensätzlich aus. Man kann sich aus dieser Perspektive auf drei Dimensionen beschränken, [24]die für die Forschungspraxis speziell der Befragung konstitutiv sind und eine eindeutige Gegenüberstellung erlauben:
Standardisierte Verfahren streben in erster Linie den Vergleich zwischen den Untersuchungsobjekten an. Um die Vergleichbarkeit herzustellen, vereinheitlichen (und »objektivieren«) sie anhand eines ausführlichen Regelwerks
das Instrument, also den Fragebogen, indem die Fragen im Wortlaut und in der Reihenfolge jedem Befragten gleich gestellt und verschiedene Antwortmöglichkeiten dem Befragten zur Auswahl vorgegeben werden;
die Forschungssituation, also die Interaktion zwischen dem Interviewer und dem Befragten, indem die Interviewer zu einheitlichem Verhalten gegenüber dem Befragten trainiert werden;
die Auswahl der Forschungsgegenstände, also die Stichprobenziehung der zu befragenden Zielpersonen, indem sie unabhängig von dem Interviewer durch Zufall oder Quotenvorgaben erfolgt.
Das Auswertungsziel standardisierter Verfahren besteht darin, über Häufigkeitsverteilungen bestimmte Phänomene, wie etwa das Meinungsklima zu einer öffentlichen Kontroverse, zu beschreiben oder über Häufigkeitsvergleiche Hypothesen zu überprüfen, die als Zusammenhang von mindestens zwei Variablen formuliert werden, wie etwa der Einfluss persönlicher Motive auf das Auswahl- und Nutzungsverhalten gegenüber bestimmten Medienangeboten.
Die Gütekriterien quantitativer Forschung sind Objektivität, Reliabilität und Validität. Objektivität bezieht sich auf die Stabilität des Messinstruments unabhängig von der Erhebungssituation und von der Person, die es anwendet. Wenn unterschiedliche Interviewer beim gleichen Befragten unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage erzielten, wäre die Untersuchung wenig objektiv. Aus diesem Grund werden das Verhalten des Interviewers, die Interviewsituation und der Fragebogen möglichst standardisiert. Da der Begriff der Objektivität erkenntnistheoretisch belastet ist, wird er heute meist durch Intersubjektivität oder intersubjektive Überprüfbarkeit ersetzt. Wenn ein Instrument zu den gleichen Ergebnissen führt, egal wer es anwendet, impliziert dies nicht, dass die Messung deshalb prinzipiell unabhängig vom Anwender ist, sondern nur, dass es von allen Anwendern im gleichen Maß abhängig ist. Diese Annahme reicht aus, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu sichern.
Reliabilität meint die Reproduzierbarkeit des Instruments. Wiederholte Messungen mit dem gleichen Instrument müssen zu dem gleichen Ergebnis kommen, sofern sich in der Zwischenzeit der Forschungsgegenstand nicht verändert hat. Wenn also ein Befragter zweimal die gleiche Frage bzw. zwei sinngleiche Fragen gestellt bekommt und er jedes Mal gleich antwortet, gilt die Frageformulierung [25]als reliabel. Die Reliabilität ist insbesondere bei sehr differenzierten Messungen gefährdet, etwa wenn eine Meinung auf einer zehnstufigen Skala angegeben werden soll, oder wenn ein Befragter nur eine sehr oberflächliche Meinung zu einem Sachverhalt hat bzw. den Sachverhalt für nicht relevant hält und eine fast willkürliche Antwort gibt.9
Validität meint die inhaltliche sachlogische Gültigkeit und betrifft die Beziehung zwischen dem theoretischen Konstrukt und der empirischen Messung. Wenn man etwa das Wissen des Befragten von der bevorstehenden Kommunalwahl erfahren will, ist die Frage nach dem Datum wahrscheinlich wenig valide. Zum einen umfasst diese Frage nur einen einzigen Aspekt des Wissens, zum anderen sagt möglicherweise das Wissen dieses Datums nichts darüber aus, wie gut der Befragte sich in der Kommunalpolitik auskennt. Validität ist ebenfalls nicht gegeben, wenn der Befragte bewusste Falschaussagen macht.
Alle drei Kriterien sind methodentheoretisch diskutierbar, praktisch verbesserbar durch gute Kenntnis vom Forschungsgegenstand und durch die standardisierte Untersuchungsanlage auch messbar. Dafür können unterschiedliche statistische Verfahren eingesetzt werden (vgl. Diekmann 2011: 247-261; Brosius / Haas / Koschel 2012: 49ff.).
Offene Verfahren sind weniger stark regelgeleitet und streben in erster Linie ein tieferes Verstehen und Verständnis vom Forschungsgegenstand an. Um dieses Ziel zu erreichen, individualisieren (und »subjektivieren«) die Forscher
den Fragebogen, indem die Interviewer je nach Antwort des Befragten flexibel nachfragen und das Instrument in der Feldphase der Befragung bis zum Erreichen theoretischer Vollständigkeit (»theoretical saturation«) verändert werden kann (vgl. Rubin / Rubin 2005: 33ff.);
die Interviewsituation, indem der Interviewer offen, konversations- und alltagsnah, allerdings gewissenhafter, professioneller und tiefer als im Alltag fragt und zuhört und versucht, den Befragten nicht einseitig in die Rolle des Auskunftgebers seiner »Daten« zu drängen (vgl. Rubin / Rubin 2005: 12ff.);
die Auswahl der Befragten, indem die Zielpersonen bewusst und in Abhängigkeit von der theoretischen Fragestellung ausgesucht werden. Die Ziehung der Stichprobe kann dabei auch nach jedem Fall neu erfolgen, um weitere geeignete, für die Fragestellung auskunftsfähige Befragte auszusuchen, bis das Thema erschöpfend behandelt ist (vgl. Rubin / Rubin 2005:79-92). Ziel des qualitativen Stichprobenplans ist nicht Repräsentativität, sondern die maximale Variation und Heterogenität in Bezug auf die forschungsrelevanten Merkmale, für die hinreichend viele Befragte ausgesucht werden müssen. (vgl. Kelle / Kluge 2010: Kapitel 3).
[26]Während bei standardisierten Umfragen der Forscher viele und anonyme Daten theoriegeleitet oder ad hoc interpretiert, wird bei qualitativen Befragungen die Deutung bestimmter Sachverhalte zwischen dem Interviewer (bzw. Forscher) und dem Befragten »ausgehandelt«. Qualitative Forscher interessieren sich folglich mehr für die Alltagstheorien der Befragten als für akademische Theorien (vgl. Rubin / Rubin 2005: 12ff.; Kvale / Brinkmann 2009: 26f., 57f.).
Weiterhin korrespondieren quantitativ-standardisierte Verfahren eher mit deduktiver Vorgehensweise und qualitativ-offene Verfahren eher mit induktiver Vorgehensweise. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass standardisierte Verfahren immer theoriegeleitet sein müssen und offene Verfahren immer von den »Daten« ausgehen müssen, aber erstere erfordern schon bei der Fragebogenentwicklung eine deduktive Vorgehensweise, während letztere nur wenige Vorgaben machen und flexibel auf die Befragten reagieren.10 Die qualitative Sozialforschung bevorzugt deshalb oft eine »abduktive« Logik, welche eine eher dialektische Beziehung zwischen theoretischen Annahmen und empirischen Ergebnissen unterstellt (vgl. Kelle / Kluge 2010: 21ff.), während bei der quantitativen Sozialforschung induktive und deduktive Logik quasi nebeneinander stehen oder zeitlich einander folgen.
Die Gütekriterien qualitativer Forschung sind Transparenz, Konsistenz und Kohärenz sowie Kommunikabilität. Transparenz wird hergestellt über die möglichst vollständige Dokumentation der Transkripte vom Interviewgespräch und der Kategorisierungsschritte bei der Analyse. Konsistenz entspricht der Reliabilität in der standardisierten Forschung und bezieht sich auf die Auskünfte der Befragten. Allerdings sollen Inkonsistenzen nicht vermieden oder ausgeschlossen, sondern verstanden werden oder erklärbar sein. Konsistenz betrifft daneben auch die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Interview- und lebensweltlicher Situationen.
[27]Kohärenz bezieht sich auf die Themen der Befragung und meint den thematischen Bezug der Aussagen des Befragten, der bei der Auswertung festzustellen ist. Die Kommunikabilität in der qualitativen Forschung korrespondiert mit der Validität in der quantitativen Forschung. Die gemeinsame Aushandlung von Bedeutung wird bei der Ergebnisdokumentation sichtbar gemacht in Form von Zitaten der Befragten11 (vgl. Rubin / Rubin 2005: 264; Kvale / Brinkmann 2009: 279ff.).
Die Methoden der Auswertung unterscheiden sich ebenfalls von denen der standardisierten Forschung, aber sie unterscheiden sich auch innerhalb der qualitativen Forschung. Die Interviewer oder Befragten füllen keinen Fragebogen aus, sondern das Gespräch wird aufgezeichnet und liegt damit als Rohtext vor, der nicht wie bei der quantitativen Inhaltsanalyse in numerische Symbole überführt, sondern in abstraktere Textformen transformiert wird. Die qualitative Auswertung einer qualitativen Befragung reicht von der »quasi-nomothetischen« Vorgehensweise, die teilweise – ähnlich wie die standardisierte Auswertung – vom Kontext abstrahiert und generalisiert, bis zur »konsequent-idiografischen« Vorgehensweise, die sich auf den Einzelfall bezieht und in diesem sich ausdrückende allgemeine Strukturen aufdeckt (vgl. Flick 1995: 163f.).
Für die »quasi-nomothetische« Vorgehensweise steht die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse12, bei der induktiv (vom Einzelfall ausgehend) und iterativ (schrittweise) Kategorien13 gebildet werden (vgl. Kvale / Brinkmann 2009: 201208). Die Analyse kann in zwei Richtungen erfolgen: Durch die Abstrahierung der Aussagen der Befragten werden diese induktiv mehrdimensional typologisiert (analog dem statistischen Verfahren der Clusteranalyse). Durch die Vorgabe bestimmter soziodemografischer oder theorierelevanter Merkmale werden die Befragten in Gruppen unterteilt und in der Auswertung wird nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in Bezug auf weitere relevante Merkmale gesucht und entspricht damit in etwa der Logik des statistischen Verfahrens der Varianzanalyse (vgl. Kelle / Kluge 2010: 38f., 43ff.).
[28]Eine »konsequent-idiografische« Vorgehensweise verfolgen diverse Methoden der Textanalyse wie die Ethnografie, die Konversationsanalyse oder hermeneutische Verfahren des Textverstehens (vgl. Titscher et al. 1998: 107ff., 121ff., 142ff., 247ff.). Diese Verfahren beziehen den kulturellen Kontext und die konkrete Entstehungssituation des Textes im Interviewprozess ein und orientieren sich an der Sequenzialität des Textes.
Schließlich werden mit der Verwendung der Forschungsphilosophien auch unterschiedliche Vorstellungen von Gesellschaft verbunden: Dienen die Ergebnisse standardisierter Forschung eher der sozialtechnologischen Veränderung von Gesellschaft, weil der Auftraggeber allein über sie verfügt, wird mit qualitativer Forschung oft eine emanzipatorische Absicht verbunden; dies kommt besonders in der »Aktionsforschung« (»Handlungsforschung«) zum Ausdruck, bei der die Befragten in die Lage versetzt werden sollen, ihre Probleme (mit Unterstützung des Forschers) selbst zu lösen (vgl. Heinze 2001: 80ff.).14
Allerdings müssen die Grenzen zwischen qualitativen und quantitativen Methoden nicht scharf gezogen werden, wenn man die Differenzen nicht grundsätzlich, also forschungsphilosophisch-methodologisch, sondern abhängig von der Forschungsfrage, also pragmatisch-technisch, behandelt.15 Neben dem allgemeinen Vergleich in diesem Exkurs werden in den weiteren Kapiteln konkrete standardisierte und offene Verfahren beschrieben (→ Kapitel 3), die Vorteile und Nachteile offener Fragen im Vergleich zu Fragen mit vorgegebenen Antworten (→ Kapitel 5.4.) und die Standardisierung der Befragungssituation (→ Kapitel 6.3 und 6.4) diskutiert sowie die unterschiedliche Eignung quantitativer und qualitativer Verfahren bei der Befragung spezieller Populationen (Kinder, Alte, Ausländer, Elite-Personen) erörtert (→ Kapitel 7.4).
1 Jacob / Eirmbter / Décieux (2013: 6ff.) setzen den Beginn der Umfrageforschung zeitgleich mit der Quantifizierung und sogar mit der Entstehung der Sozialwissenschaften selbst an, in der Neuzeit also bereits im 17. Jahrhundert. Das Aufkommen statistischer Analysen kann dabei nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung der Methode Befragung sein, denn Daten lassen sich auch aus Dokumenten erfassen. Dem Fazit der beiden Autoren kann dagegen zugestimmt werden: »Umfrageforschung hat keine demokratisch verfassten Gesellschaften zur Folge, aber Umfrageforschung setzt demokratisch verfasste Gesellschaften voraus.« (Jacob / Eirmbter / Décieux 2013: 20)
2 Die Zeitschrift »Planung und Analyse« dokumentierte 1983 den »Fragebogen für Arbeiter«, den Karl Marx im Jahr 1880 in 25.000 Exemplaren als Beilage einer Zeitschrift in Frankreich verbreitete. Solche Befragungen zur wirtschaftlichen Lage der Arbeiter oder der Armen wurden im 19. Jahrhundert und bereits vorher durchgeführt (vgl. Noelle-Neumann / Petersen 1996: 620ff.; Diekmann 2011: 99ff.).
3 In diesem Kontext entwarf Weber auch eine Inhaltsanalyse, sodass er für diese Methode ebenfalls als Pionier gelten kann (vgl. Weber 1911: 52).
4 Eine ausführliche, methodisch dokumentierte Darstellung der bisherigen ALLBUS-Befragungen findet sich in www.gesis.org/dienstleistungen/daten/umfragedaten/allbus.
5 Zudem wird auf diese Weise eine Trennlinie mitten durch die qualitativen Methoden gezogen, denn diese haben oft das Verstehen ihres Gegenstands zum Ziel und wären demnach nicht-empirisch. Diese Trennung ist unpraktikabel, wenn etwa die Daten mit dem empirischen Verfahren des narrativen Interviews erhoben und mit dem nicht-empirischen Verfahren der Hermeneutik ausgewertet wird.
6 In einem Fall muss der Forschungsgegenstand nicht außerwissenschaftlich sein, nämlich wenn die Wissenschaft selbst zum Forschungsgegenstand wird, also in der Wissenschaftssoziologie. Die untersuchte Wissenschaftspraxis wird dann theoretisch und methodisch genauso wie ein außerwissenschaftlicher Forschungsgegenstand behandelt.
7 Dieses Inferenzproblem ist aber nicht typisch für die Befragung, sondern betrifft ebenso die Inhaltsanalyse, bei der vom analysierten Text auf Kontexte geschlossen wird (vgl. Merten 1995), und die Beobachtung, bei der vom beobachteten Verhalten auf sinnhafte Handlungen geschlossen wird (vgl. Gehrau 2002).
8 Solche Unterschiedskataloge werden vor allem von Vertretern qualitativer Methoden aufgestellt (vgl. Kleining 1982; Corbin / Strauss 1990; Honer 1989; Lamnek 2010: 124-127). Dies geschieht oft zur Rechtfertigung qualitativer Methoden gegenüber dem quantitativen »Mainstream«. In den Lehrbüchern, die von Methodologen mit vorwiegend quantitativer Präferenz verfasst werden, gelten dagegen die Regeln quantitativer Methoden als Standard für empirische Sozialforschung schlechthin. Die qualitativen Methoden werden dementsprechend an diesem Standard gemessen, was meistens in einer äußerst kurzen und oft ungerechten Abhandlung der qualitativen Methoden resultiert (vgl. etwa Diekmann 2011: 543ff.; Fowler 1988; Converse / Presser 1986).
9 Im Extremfall gibt der Befragte sogar eine Antwort auf eine Einstellungsfrage, obwohl er keine Meinung dazu hat (»pseudo-opinions«). Dieses Phänomen betrifft bereits die Validität der Antwort, denn sie kann als ungültig eingestuft werden, wohingegen die Antwort auf der Basis einer nur schwachen Meinungstiefe durchaus gültig sein kann, aber sehr stimmungsoder situationsabhängig ist.
10 Die induktive Forschungslogik, wie sie vor allem von der »Grounded Theory« (vgl. Corbin / Strauss 1990) bevorzugt wird, versucht zwar, die Behinderungen für die empirische Untersuchung, die von vorgefertigten Theorien und Hypothesen ausgehen (können), zu vermeiden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Forscher völlig ohne (theoretische) Vorannahmen ins Feld geht, sondern allenfalls, dass er in der Befragungssituation theoretische Sensibilität und Offenheit beibehält (vgl. Kelle / Kluge 2010: 19ff., 28f.).
11 Diese Kriterien gelten zwar nicht speziell für die qualitative Sozialforschung, sondern sind grundlegend für empirische Forschung schlechthin; sie werden allerdings von qualitativen Forschern anders interpretiert.
12 Prinzipiell kann eine offene Befragungsform auch standardisiert ausgewertet werden. Man verlässt dann allerdings die qualitative Methodologie.
13 Diese abstrakten Kategorien reduzieren zwar auch den lebensweltlichen Hintergrund des Befragten; diese Reduktion ist aber nicht als (so stark) isoliert vom Entstehungskontext zu verstehen wie bei der quantitativ-standardisierten Erhebung von Variablen (vgl. Kvale / Brinkmann 2009: 201-208).
14 Diekmann (2011: 533) bestreitet die heutige Relevanz dieses Anspruchs und vermerkt süffisant, dass der zunehmende Einsatz qualitativer Verfahren in der Markt- und Meinungsforschung ein Indiz für die Entkoppelung von gesellschaftskritischen Vorstellungen von Sozialforschung und der Anwendung bestimmter Methoden ist.
15 Ausführlich mit dem Verhältnis quantitativer und qualitativer Forschung beschäftigten sich Garz / Kraimer (1991): Puristische Positionen gehen entweder von der Inkommensurabilität (Unvereinbarkeit) oder von der Substitution (Ersetzbarkeit) beider Forschungsstrategien aus. Pragmatische Positionen halten das Verhältnis eher für komplementär (ergänzend) oder symbiotisch (kreuzvalidierend) (vgl. auch Hoffmann-Riem 1980; Kleining 1982; Brosius / Haas / Koschel 2012: 4f.).