Читать книгу Über die Eiserne Hand hinüber - Armin Zwerger - Страница 9

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Wenn die Tage länger werden, werden die Schmerzen nachlassen. Daran dachte sie, während sie langsam den Berg hinaufging und es im Kopf dröhnte und stach, hämmerte und bohrte, und einmal mehr erinnerte sie sich daran, dass es höchste Zeit wäre, mit der Sache endlich einen Arzt aufzusuchen.

Der Winter geht vorüber, und nicht jedes Jahr wird so kalt werden wie das letzte. Sie erinnerte sich, dass da Rekordtemperaturen erreicht wurden, die Schmerzen höllisch gewesen waren und dass es weit bis ins Frühjahr gedauert hatte, bis es wieder besser geworden war.

Jetzt musste sie sich erst einmal kurz setzen, weil sie das Gefühl hatte, ein wenig die Orientierung verloren zu haben.

«Immer den Grenzsteinen nach», hatte der Junge in seinem genuschelten Alemannisch, das sie kaum verstehen konnte, gesagt. Bis man zu einem Stein mit der Aufschrift «1700» kam. Dort würde ein schmaler Pfad abgehen, dem sie nicht weiterzufolgen brauche, weil der Bote von dort kommen würde.

So war das ausgemacht, weil, so hatte man ihr gesagt, dort rechnete man nicht mit Derartigem. Die Ecke war nicht wirklich geschickt für Konspiratives. Da hätte es bessere Möglichkeiten gegeben. Kürzere Wege hinein in die Schweiz. Genau deswegen war das der richtige Ort.

Grenzstein 81.

Aber sie selber wollte nicht in die Schweiz. Was sollte sie da? Sie kannte niemanden dort. In ganz Basel nicht und auch sonst nirgendwo. Obwohl, einfach weg und abhauen, hätte auch etwas Verlockendes gehabt. Alles zurücklassen. Möglich dass dann auch die Schmerzen verschwinden würden.

Grenzstein 82.

Geht aber nicht. Nichts geht mehr.

Der Weg ist steil. Davon haben sie nichts gesagt. Der Junge war sowieso unklar in seinen Angaben. Warum nur war der Alte nicht mitgekommen? Der Kerl war zwar ein unausstehlicher Brummbär, aber sicher einer, der hier alle Wege kannte. Warum nur hatte er sie diesem Jungen überlassen?

Grenzstein 83.

Einen Grenzstein nach dem anderen passierte sie, immer den schmalen steilen Weg entlang. Sollte das jetzt bis 1700 so weitergehen? Langsam wurde ihr klar, dass da etwas nicht stimmte. Auf den Steinen stand noch mehr. Verwittert teilweise und kaum mehr zu entziffern.

Sie setzte sich jetzt einfach neben einen Stein und wartete, bis ihr Blick wieder ganz ungetrübt war. Zur Schweizer Seite hin war ein Wappen zu erkennen. Ein anderes auf der gegenüberliegenden Seite. Einmal war das der Basler Stab. Den kannte sie. Mit dem anderen Wappen konnte sie nichts anfangen. Dann war da noch eine Jahreszahl angedeutet, die schwer zu entziffern war. Vielleicht 1840. Oder 1848.

Ihr war schwindlig geworden, und sie musste sich ein wenig am Stein festhalten. Warum musste auch ausgerechnet jetzt dieser Anfall kommen. So lange hatte sie nichts mehr davon gemerkt. Sie versuchte, ganz ruhig zu atmen.

Man hatte ihr gesagt, dass die Sache gut vorbereitet sei, dass sie sich keine Gedanken machen müsse. «Das ist alles im Vorfeld geklärt, Vreneli», hatte es geheissen.

Wenn der Vorsitzende etwas erklärte, war immer alles leicht. Überall hatten sie ihre Leute, und wenn sie kam, musste nur noch ausgeführt werden. Einer wird da sein, er wird dich finden. Ihr tauscht die Papiere aus. Und dann gehst du wieder zurück. Schon welche Papiere das waren, wusste sie nicht, das wusste sie nie.

Neben den Wappen hatten die Steine auch noch fortlaufende Nummern und gelegentlich Jahreszahlen.

Sie war den Nummern gefolgt. So hatte sie den Jungen verstanden. Immer den Berg hinauf. Sie wusste, dass oben ein Kloster war, und war in diese Richtung gelaufen, als hätte sie gespürt, dass sich dort sicheres Terrain befand. Vielleicht sogar Freiheit. Nur war sie kein Flüchtling, die Freiheit lockte sie nicht. Sie hatte nur etwas auszutauschen. Etwas abzugeben, etwas mitzunehmen.

Jetzt, das spürte sie, war sie auf dem falschen Weg. Die Jahreszahlen auf den Grenzsteinen hatten nicht die Logik fortlaufender Nummern. Die Jahreszahlen zeigten nur, dass in historisch relevanten Abständen neue Grenzsteine gesetzt worden waren.

1889, 1905, 1929 und dann wieder 1880 und 1898. Was immer geschehen war, auf den Verlauf dieser Grenze war wohl mit äusserster Akribie geachtet worden, so dass man immer von einem Stein zum nächsten blicken konnte. Offensichtlich sollte man hier die Grenze nie aus den Augen verlieren.

Ein 1700-er aber war nicht dabei. So alt schien auf dieser Seite keiner zu sein.

Was hatte der Junge noch gesagt? Dass sie nach links solle, den Berg hinauf, dann nach rechts. Wo nach rechts? Dann Zahlen, Zahlen, Zahlen. Wie genau der Stein aussah, wusste er nicht. «Wie alle anderen», sagte er immer wieder. Aber irgendetwas von 50 oder 52 hatte er auch gesagt, und das konnte eigentlich nur eines bedeuten. Wenn damit die Nummer des Steins gemeint war, musste sie zurück. Steine mit kleineren Nummern konnten nur auf dem Berg gegenüber liegen.

Ihr war klar, dass ihr nun die Zeit fehlte. Eine Stunde hatte es geheissen, mehr Sicherheit gab es nicht. Der Junge würde nicht mehr da sein. Das hatte er klar gesagt. Eine Stunde würde er warten, jede Minute würde er auf seine goldene Uhr schauen.

Sie hätte sich besser erkundigen sollen. Das rächte sich jetzt, dass sie das nicht getan hatte.

Immer wieder quälte sie dieses Hämmern im Kopf, das zunahm in dem Masse, wie der kalte Wind das kleine Tal hinaufblies und immer dickere Nebelschwaden aus dem Rheintal mitbrachte, und langsam spürte sie, wie die Gegend um sie herum immer unwirklicher wurde. Das was hier nördlich des Rheins und jenseits von Grossbasel zur Schweiz gehörte bis hinauf zu diesem Zipfel, den man die Eiserne Hand nannte, das alles war ein eigentümliches Terrain.

*

Jean hatte andere Wege finden müssen um sich mit den Genossen aus Weil und Lörrach in Verbindung zu setzen und Kontakte herzustellen, seit sie die Eisenbahnlinie zwischen Weil und St. Louis eingestellt und dann auch noch die Schiffsbrücke von Huningue aus über den Rhein gekappt hatten. Aber Jean wäre nicht Jean gewesen, wenn ihm das nicht gelungen wäre. Was nicht bedeutete, dass es einfach war. Aber einfach war ohnehin schon lange nichts mehr.

Dennoch war es ihm an diesem Vormittag einmal mehr gelungen die Grenze in die Schweiz zu passieren, den Rhein in Basel zu überqueren und recht unbeachtet im Grenzbereich der Eisernen Hand zu verschwinden.

Das alte Fahrrad führte er an der Hand, wenn es durch die engeren Gassen Basels ging oder durch unwegsames Gelände, meistens aber sass er auf seinem Drahtesel und fuhr zügig an allen, die ihm begegneten vorbei.

Nur wenn man etwas genauer hinsah, hätte auffallen können, dass die Reifen des Fahrrads eine Idee zu breit waren und der Rahmen eigenartige Nahtstellen aufwies.

Niemand schaute so genau hin. Die Menschen hatten andere Sorgen.

Aufgehalten wurde er selten, und selbstredend war er auf so einen Fall vorbereitet. Seine Geschichten waren stimmig, und die legendäre Ruhe, die er ausstrahlte, überzeugte nicht nur Basler Grenz- oder Zollbeamte. Wenn er auch sehr darauf achtete, nicht unbedingt den germanisierenden Beamten des Reichs in die Hände zu fallen.

An diesem Tag war es auffällig still im Grenzbereich. Wirklich gewundert hatte er sich nicht darüber. Man hatte schon angedeutet, dass er mit nur wenig Grenzverkehr zu rechnen habe, was ihn noch ruhiger hatte erscheinen lassen. Obwohl diese zur Schau gestellte Gelassenheit gelegentlich an Leichtsinn grenzte, war er auch diesmal wieder gut damit gefahren.

Grundsätzlich war es ihm gleichgültig, ob das Elsass, vormals Alsace, nun von Paris oder von Berlin aus regiert wurde, weil er beides gleichermassen verabscheute und er, wie viele in dieser Region, sowieso nur eine Regierung in Strassbourg, nunmehr Strassburg, akzeptiert hätte.

Es hatte aber nicht lange gedauert, und Jean, der sich jetzt Hans nennen musste, nur der Nachnahme konnte bleiben, war klar geworden, dass es da schon Unterschiede gab. Spätestens als einige der Genossen in Natzwiller verschwunden waren und einige der alten Gefährten eine engere Bindung an Berlin für nicht mehr so abwegig hielten.

Da hatte er sich verstärkt an der illegalen Parteiarbeit beteiligt und war mit seinem etwas modifizierten Fahrrad des Öfteren zwischen der Schweiz und Frankreich hin- und hergependelt.

Das Fahrrad hatte immer wieder etwas mehr oder weniger Gewicht, und das lag nicht nur an den Zigaretten, die sich Jean bei diesen Gelegenheiten besorgte, um seinen beachtlichen Konsum damit zu decken. Die waren so gut versteckt wie manch anderes Material, das nicht wenige wesentlich mehr interessiert hätte als seine Leidenschaft für den blauen Dunst.

Dass er trotzdem an diesem Vormittag eher etwas misslaunig war, lag in erster Linie daran, dass der Auftrag die Eiserne Hand betraf und damit fast zwangsweise mit dem alten Heimer zu tun hatte. Den hatte er gefressen, seit es mehr als nur ein Gerücht war, dass der gelegentlich auch bei den Braunen mitmischte.

Jean war immer für Klarheit gewesen, und eine geteilte Loyalität war ihm widerlich. Der Teufel sollte den Heimer holen.

Dass sie ihn in Zukunft da draussen lassen sollten, hatte er seinen Leuten klar gemacht. Wo der Heimer seine Finger im Spiel hatte, brauchten sie mit ihm nicht mehr zu rechnen.

Man hatte ihm aber versichert, dass er mit dem Alten keinen direkten Kontakt haben würde. Hatte ihm erklärt, wo, wann und mit wem er sich bei dieser Aktion treffe und bei dieser Gelegenheit auch klar gemacht, dass man jetzt öfter Ortsfremde einsetze, weil das unter dem Strich mehr Sicherheit bedeutete. Wer die Strukturen nicht kannte, konnte sie auch nicht verraten. Halt wieder eine dieser verrückten Ideen, aus der Not geboren, wie er fand.

Ganz eingesehen hatte er das immer noch nicht, aber ganz eingesehen hatte er so manches nicht, was da von der noch übriggebliebenen Parteispitze ausgeheckt wurde. Andererseits musste man ihm aber auch nicht erklären, wie schwierig es geworden war, noch Mitstreiter für eine Sache zu finden, bei der man Kopf und Kragen riskierte und schneller in einem KZ landen konnte, als zwei Zigarettenzüge getan waren. Eine Sache, an deren Sinn und Erfolg zu glauben immer schwerer fiel, je länger sich diese Braunhemden überall festgesetzt hatten.

Dass der Heimer einst ein zuverlässiger Genosse gewesen war, auf den man sich unbedingt hatte verlassen können, ein Kerl, der weder Tod noch Teufel und bestimmt keine Nazis fürchtete, der auch immer wieder den Kopf hingehalten und manchen Genossen rausgehauen hatte, mochte eine Rolle gespielt haben.

Wegen der alten Zeiten hatte er sich am Ende breitschlagen lassen. Hatte sein altes Gefährt genommen und sich auf den Weg gemacht, oft in Sichtweite der alten Grenzsteine. War dem alten Grenzweg gefolgt und hatte unweit des 1700-Grenzsteins gut getarnt auf das Vreneli gewartet.

Und das kam nicht.

Da hatte er Zigarette um Zigarette geraucht und gewartet und gewartet, an seine Frau gedacht, die in der Nacht davor wieder einmal im Schlaf aufgeschreckt war und an die Wand gestarrt hatte. Seit sie den Sohn eingezogen hatten, geschah das immer häufiger. Er hatte damals noch versucht, ihn zum Abhauen zu bewegen, obwohl klar war, was das für die ganze Familie bedeutet hätte.

Jacques Metz, jetzt Jakob Metz bei der Reichswehr.

Seit Monaten schon war er im Osten. Gelegentlich erhielten sie Postkarten. Ewig dauerte es, bis sie ankamen.

«Besser weit weg im Osten, als im Westen auf die eigenen Leute zu schiessen.» Hatte der Sohn zu ihm gesagt, als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte.

Dafür waren sie jetzt Reichsdeutsche, ganz offiziell. Pass, Ausweis, alles korrekt.

*

Er hatte eine beachtliche Zahl Zigaretten geraucht, als er dann doch Schritte auf dem Waldboden hörte. Im Wald lag sehr viel weniger Schnee als auf den offenen Feldern, und die Schritte wurden deshalb nicht gedämpft.

Von Ferne sah er ihren roten Schopf und dachte noch, es wäre besser gewesen, wenn sie ihren Kopf mit einem Kopftuch bedeckt hätte. Solche Haare eignen sich nicht für dieses Geschäft.

Viel geredet hatten sie nicht. Auch weil das Vreneli ziemlich blass aussah. Er hatte sie nicht einmal gefragt, warum sie so lange nicht gekommen war. Man konnte sehen, dass es ihr nicht gut ging.

Immerhin waren ihr noch die Zigarettenstummel aufgefallen, die er achtlos auf den Waldboden hatte fallen lassen. Sie hob sie allesamt auf, steckte sie in eine kleine Schachtel, die sie in ihrem Mantel verbarg.

Jean lachte trocken, als er ihr dabei zusah und sich gleichzeitig an seinem Fahrrad zu schaffen machte, den Rahmen auseinandernahm und die Reifen von den Felgen löste.

«Hast du Angst, dass den Schweizern der Wald abbrennt?»

«Weniger», meinte das Vreneli. «Da brennt vielleicht bald ganz anderes. Aber was denken die Grenzpatrouillen, wenn die hier so einen Haufen Kippen finden»?

Darauf ging Jean nicht ein, zog sorgfältig Papier um Papier aus dem Rahmen und übergab es der jungen Frau, die es in der Innenseite ihres weiten Mantels versteckte.

Gleichzeitig übergab sie dem Elsässer einiges an Material, das aus eben diesen Tiefen ihrer Taschen kam.

Als er sein Fahrrad wieder zusammengebaut hatte, meinte Jean, dass es in Zukunft wohl kaum mehr solche Gelegenheiten für Treffen dieser Art geben würde.

«Tote Briefkästen», sagte er noch und schob sein Fahrrad wieder in Richtung Riehen, «nurmehr tote Briefkästen, zu mehr wird es nicht reichen!»

Dann stieg er auf und radelte davon.

Die junge Frau liess er am 1700-Grenzstein zurück.

*

Die Schmerzen im Kopf waren auf dem Rückweg nicht besser geworden. Dennoch war er für sie weniger anstrengend. Sie vergass keinen Weg, den sie schon einmal zurückgelegt hatte. Oft musste sie nur den eigenen Spuren folgen.

Als sie glaubte, in etwa auf Höhe des Durchgangs im Zaun zu sein, musste sie sich ein wenig orientieren. Hier im Wald waren keine Spuren mehr zu sehen.

Sie war sich darüber im Klaren, dass sie spät dran war. Der Junge würde vielleicht schon fort sein. Aber das wäre so schlimm nicht gewesen. Sie wusste, wo sie den Alten finden würde.

Als sie fast sicher war, nicht mehr weit von der Stelle zu sein, an der sie den Jungen zurückgelassen hatte, ein paar Meter hinauf noch und dann nach links abbiegen, wurde die kalte Stille plötzlich durch knackendes Geäst in einiger Entfernung durchbrochen. Ihr war, als vernehme sie ein kurzes Lachen, Stimmen, die aber undeutlich blieben.

Sofort blieb sie stehen und lauschte angespannt. Obwohl sie ein ganzes Stück zwischen den laublosen Bäumen in den Wald hineinschauen konnte, war nichts zu erkennen.

Da hörte sie die Schüsse …

Natürlich erschrak sie. Man schickte sie nicht in Gebiete, in denen es gefährlich werden konnte. Zumindest war sie Schiessereien nicht gewohnt.

Sie duckte sich, versteckte sich, so gut es das Unterholz zuliess. Sie konnte nicht genau abschätzen, woher die Schüsse kamen.

Angst bekam sie jetzt, richtig Angst.

Das wurde nicht besser, als sie etwas später weiter oben Stimmen hörte. Menschen riefen etwas, wieder Äste, die knackten, Laufen.

Dann Ruhe und gerade als sie dachte, dass der ganze Spuk vorbei sei, fielen noch einmal Schüsse. Drei, vier Mal wurde geschossen. Andere Schüsse als zuvor, dumpfe mit wenig Nachhall.

Dann rief jemand. Es klang wie ein unterdrückter Schrei. Unverständlich. Sie wartete regungslos. Dann eine Stimme:

«Lass sie liegen!»

Das verstand sie, obwohl es diese schweizerische Singsangstimme war, mit der sie sich mindestens so schwer tat wie mit dem örtlichen Dialekt.

«Sie sind am Grenzstein. Lass sie liegen! Scheiss auf den Zaun.»

«Sie liegen drüben», sagte eine andere Stimme. Und dann noch einmal: «Jetzt liegen sie drüben.»

Dann entfernten sich die beiden Stimmen. Ziemlich rasch sogar, und sie konnte nicht mehr verstehen, was gesprochen wurde. Gesehen hatte sie nur Schatten weiter oben am Berg. Nun war wieder alles ruhig. Nichts mehr zu hören.

Die Angst war weg. Auch das Stechen im Kopf; wie weggeblasen. Man hatte sie nicht gesehen.

Jetzt siegte die Neugier. Sie wollte wissen, was da geschehen war und ging ein gutes Stück den Berg hinauf. Sie fühlte sich sicher in einem Hohlweg. Linker Hand die Grenze, ein Stück weiter hinten der Zaun.

Sie liess noch ein paar Grenzsteine hinter sich, bis sie im Flachbereich des Gipfels war. Der Weg war immer noch steil und anstrengend, aber ohne die Schmerzen im Kopf gelang ihr der Aufstieg. Auch weil sie immer wieder stehenblieb und in den Wald hineinhorchte.

Grenzstein 100.

Unglaublich friedlich schien es hier. Kein Mensch weit und breit. Die Schüsse müssten doch gehört worden sein, auf beiden Seiten der Grenze bis hinunter in die Täler. Aber niemand war da, niemand kam, keine Stimmen.

Auch die Stimmen der beiden leblosen Körper in ihren langen Uniformmänteln, die gegen den Zaun gedrückt jenseits des Grenzsteins lagen, würden niemals mehr zu hören sein. Eigenartig abgeknickte Köpfe. Blut im Schnee. Da schaute sie nicht hin. Sie drehte sich um, und im Weggehen sah sie den matten Goldglanz im Schnee. Die schwere goldene Uhr, die der Junge an der Hand getragen hatte. Die Uhr, die sie dem Alten gegeben hatte. Der Lohn für seine Hilfe.

*

«Mach dir keine Gedanken. Der Kleine wartet irgendwo draussen. Er wird warten, bis ich komme.»

«Und wann kommst du?»

Schulterzucken.

«Er wird das lernen müssen. Das Warten.»

Sie schaute auf die Strasse hinaus. Da war nichts los, da bewegte sich nichts. Ein selten ruhiger Wintertag. Schnee glitzerte in der Sonne, nur von der Schweiz her kamen wieder dunklere Wolken. Das würde noch mehr Schnee geben dieses Jahr.

«Was hast du dann gemacht?» Der Alte war nicht wirklich neugierig. Es war mehr der Vollständigkeit wegen, dass er Fragen stellte.

«Runter wieder. Ich bin den Berg runter, meistens eng an der Grenze entlang. Nur unten an der Strasse, da habe ich einen Bogen gemacht. Und dann wieder rauf auf den Berg. Auf die andere Seite. Zur Eisernen Hand. Das ist ein saublöder Zipfel, ist das. Wenn du nicht genau hinschaust, übersiehst du den glatt.»

«Die Braunen schauen genau hin. Darauf kannst du dich verlassen. Die übersehen nichts. Die Schweizer übrigens auch nicht. Ich finde trotzdem, dass es ein schöner Zipfel ist.»

«Ich weiss nicht. Da ist ein Bauernhof. Es sieht so aus, als ob man dahinter einen Stein über die ganze Schweiz werfen könne.»

«Das ist der Maienbühlhof.»

«Dort nicht gesehen zu werden, ist eigentlich gar nicht möglich. Aber da war heute niemand. Nur der viele Schnee. Es war mühsam da durchzustapfen. Still war es da, absolut still. Nirgendwo hat man Spuren im Schnee sehen können. So als hätten heute alle keine Zeit für die Grenze.»

Ihr war, als hellte sich das Gesicht des Alten ein wenig auf, kurz nur, dann wieder der eher teilnahmslose Blick. Immerhin fühlte er sich genötigt eine Erklärung abzugeben.

«Der Schacht war in Weil unten. Wenn der kommt, geht’s immer um viel Geld. Alle Mann sind dann dort, die einen weil sie gebraucht werden, die anderen, weil sie nicht zukurzkommen wollen. Aber offen war die Grenze nicht. Schon möglich, dass sie dich irgendwo gesehen haben.»

Nur bist du heute nicht wichtig gewesen, dachte er noch.

«Oben bin ich dann wieder den Grenzweg entlanggelaufen», erzählte das Vreneli weiter. «Dort wo der Zaun plötzlich aufhört. Warum hört er dort eigentlich auf?»

«Lohnt nicht, ihn um den schmalen Zipfel weiterzuziehen. Zu viel Aufwand für die letzten paar Kilometer. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie sonst jeden Grashalm einzäunen.»

Ihm schien das als Erklärung genug, auch wenn sie ihn immer noch etwas fragend ansah, als sie mit ihrem Bericht fortfuhr.

«Um das Grenzhäuschen habe ich noch einmal einen Bogen gemacht. Irgendwie schien selbst da niemand zu sein. Aber so genau wollte ich das gar nicht wissen. Ich bin dann im Wald geblieben. Dann ist da plötzlich Jean gestanden. Er hat gewartet. Er hat sehr lange warten müssen. Es habe ihn eine ganze Schachtel Zigaretten gekostet, hat er gesagt.»

«Da hast du Glück gehabt. Solange hätte ich nicht gewartet. Die Zigaretten holt sich der Jean aus der Schweiz, die schmuggelt er.»

«Sonst haben wir nicht viel geredet. Unseren Handel gemacht und geschaut, dass wir wieder zurückgehen. Ich weiss nicht, wohin Jean gegangen ist. Einfach nach Riehen runter, denke ich.»

«Und du?»

«Wieder zurück. Wie ich gekommen bin. Ich wollte einfach wieder durch das Loch im Zaun zurück. Ich dachte, dass der Junge vielleicht noch wartet. Aber das ging nicht mehr.»

«Ah?»

Mehr sagte der Alte nicht, aber er schaute ihr jetzt direkt ins Gesicht.

«Da wurde geschossen. Nicht nur einmal.»

Dann erzählte die junge Frau, und erst jetzt hatte sie das Gefühl, dass ihr der Heimer wirklich zuhörte. Aber er stellte keine Fragen.

Als sie ihm die Uhr, nunmehr zum zweiten Mal, in die Hand gab, starrte der Heimer lange auf das goldenen Ziffernblatt, ohne etwas zu sagen. Als warte er ab, dass ihm die Uhr noch ein paar Fragen beantworte, die er dem Vreneli nicht stellen konnte oder wollte.

Nicht gut, wenn zu viele Bescheid wissen, dachte er. Das sollte man nicht vergessen. Er misstraute der jungen Frau nicht, man sollte sie aber auch nicht mit Unnötigem belasten. In ein paar Tagen würde sie ohnehin an der holländischen Grenze oben sein. Dort würde sie wahrscheinlich Mareike heissen.

«Wie bist du zurückgekommen», fragte er sie stattdessen, «wenn nicht durch das Loch?»

«Das habe ich mich einfach nicht getraut. Ich bin noch einmal zurück auf diesen Zipfel. Ich dachte, ich könne es riskieren. Rüberzugehen, wo kein Zaun mehr war. Das schien mir jetzt sicherer, als dort wo sie geschossen haben.»

Dass die Schmerzen wieder gekommen waren, schlimmer und unerträglicher als zuvor, erzählte sie dem Alten nicht. Sie wusste nicht einmal, warum sie das nicht tat. Vielleicht weil der Alte wieder seinen teilnahmslosen Blick aufgesetzt hatte und durch sie hindurchsah.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er sie aufforderte weiterzuerzählen.

«Ich bin dann vom Grenzweg abgebogen» fuhr sie fort, «durch den Wald über ein Feld hierher.»

«Kein Mensch …?

« … weit und breit.»

Noch einmal Glück gehabt, Vreneli, dachte er. Eine annähernd verlassene Grenze bis hinter die Eiserne Hand. Sonst permanent unter Bewachung mit Grenzpolizisten, Zöllnern, Soldaten, Hilfsgrenzpolizisten und manchmal sogar Typen der SS. Hunde an der Leine, die losgelassen jeden jagten, der sich dort unbefugt aufhielt. Und das war eigentlich jedermann, ausser ein paar Bauern, die Felder und Äcker im Grenzbereich bewirtschafteten.

Hunde, die Grenzsteine nicht beachteten, die auf Menschen abgerichtet waren und die, einmal von den Hundeführern auf Flüchtige gehetzt, nur mit Schüssen zu stoppen waren. Die mussten treffen. Daran musste er denken, als er dem Vreneli zuhörte.

«Manchmal geht es eben gut!»

«Irgendwie hast du aber gewusst, dass es heute gut gehen würde.» Sie schaute ihn an, aber der Alte wich ihrem Blick aus. Er stand auf.

«Ich muss den Jungen abholen. Er wird irgendwo draussen warten. Nochmals danke für alles, für die Uhr auch.»

«Keine Ursache», sagte sie noch, aber da war er schon fast durch die Eingangstür verschwunden. Die Uhr ist nicht wichtig, für mich nicht und für dich auch nicht mehr, alter Brummbär. Vielleicht wäre sie etwas für den Jungen gewesen. An den musste sie denken, während sie den Alten die Dorfstrasse hinunterlaufen sah.

Als sie wenig später das Wirtshaus verliess, um sich ohne Hast durch das Oberdorf auf die Strasse nach Lörrach zu begeben, schaute sie noch einmal beim Krugwirt vorbei, der in der Küche hantierte.

Dort legte sie ein paar Münzen auf den Tisch, lächelte dem Wirt zu, bedankte sich und bestellte noch einmal schöne Grüsse an den Onkel. Der versprach sie auszurichten und begleitete sie bis vor die Tür.

Die Gaststätte würde an diesem Tag nicht geöffnet sein, der Krugwirt würde noch eine Weile warten und dann ins Haus gegenüber gehen, wo ihn die Frau fragen würde, wen der Heimer denn da schon wieder aufgegabelt habe.

Aber er würde die Antwort schuldig bleiben, der Heimer habe eben eine weitläufige Verwandtschaft. Da käme immer mal eine Nichte oder eine Base vorbei und warum die dann nicht unten zu den Heimers ins Häuschen an die Grenze gehe, wisse er auch nicht, sei ihm auch gleichgültig, weil das Heimers Sache sei.

Die Wirtin würde sich ihren Teil denken und höchstens nachfragen, warum er denn unbedingt mit so einem Hallodri befreundet sein müsse. Eine Antwort auf diese Frage erwartete sie allerdings schon lange nicht mehr.

*

Kriminalsekretär Rosen vom Sicherheitsdienst hatte das eingefädelt. Der Agent aus der Schweiz hatte darauf bestanden, über die Eiserne Hand nach Lörrach zu kommen. Und da wollte er keine Grenzsoldaten sehen, keine Zöllner oder sonstigen Hilfsgrenzangestellten. Vor allem wollte er selbst dort nicht gesehen werden. Also war für die Grenzsoldaten an diesem Tag andere Beschäftigung angesagt.

Prominenz aus Berlin taugte da als Vorwand immer. Nur eine Art Notdienst trieb sich irgendwo im Grenzbereich herum. Den liess man allerdings eher in Rheinnähe patrouillieren.

Dass es auf Schweizer Seite nicht anders war, dafür hatte der Agent selbst gesorgt, und es war ihm annähernd gelungen. Macht sich auch in der Schweiz nicht gut, wenn ein hoher Beamter beim Grenzübertritt ins Land der Schwoben aufgegriffen wird. Da wäre doch einiges zu erklären gewesen.

Dann war da noch der Maier vom Sicherheitsdienst in Lörrach, der das ebenfalls ausnützen wollte. Er konnte sich ausrechnen, dass auch auf Schweizer Seite an diesem Tag nicht all zu viel Grenzpersonal zum Dienst eingeteilt sein würde. Das Risiko, zwei Agenten rüberzuschleusen, wäre da nicht zu gross.

An anderen Tagen wäre es auch gegangen, aber wieso eine solche Möglichkeit nicht ausnutzen? Solche Chancen boten sich nicht oft.

Später würde man den Schweizern stecken, dass sich zwei vom Reich gesuchte schwere Jungs in die Schweiz abgesetzt hätten. Denen natürlich pflichtschuldigst nachgeschossen werden musste.

Dass man sie verfehlt hatte, war eben ein unglücklicher Zufall. Deshalb die dringende Bitte, sie wenn immer möglich, an das Reich auszuliefern.

Deserteure wurden nicht ausgeliefert. Natürlich nicht.

Für all das brauchte man den Alten, der helfen würde, sie über die Grenze zu bringen.

Das tat der Alte auch. Da konnte man sich auf ihn verlassen.

Aber nicht ohne jemanden auf der anderen Seite der Grenze darüber zu informieren, dass es sich dabei um Agenten des Reiches handelte, von denen man hoffte Interessantes aus dem Schweizer Hinterland zu hören.

Was genau das sein sollte, wusste der Alte allerdings nicht. Für die Sicherheitsdienste gab es genug Möglichkeiten an Informationen zu kommen. Andererseits konnte man dort niemals genug bekommen. Möglicherweise sollte die Schweiz für die Agenten nur Durchgangsland sein, um glaubwürdiger in Kreise des französischen Widerstandes einsickern zu können.

Dass man auch auf Schweizer Seite Wind von der Aktion bekam, blieb den Amtsstuben in Lörrach allerdings verborgen.

*

So kam es, dass der Beat und auch der Urs, zwei Schweizer Grenzsoldaten, die häufig gemeinsam patrouillierten, sehr wohl wussten, dass da zwei unter falschen Segeln in die Schweiz einzudringen gedachten.

Da sie auch wussten, wo das sein würde, schauten sie, dass sie sich in der Gegend aufhielten, wenn auch in sicherer Entfernung, um selbst nicht aufzufallen.

In jedem Fall würden sie die Agenten abpassen. Gute Schützen waren sie ebenfalls, vor allem der Urs hatte einiges an Trophäen aufzuweisen. Der wesentlich jüngere Beat konnte da nicht mithalten. Aber für beide galt, dass sie nicht nur am Samstagnachmittag schossen. Eine Menge streunender Hunde hatte das an der Grenze schon mit dem Leben bezahlt. Die zwei Agenten hatten keine guten Karten.

Beat und Urs hätten sie auch festnehmen, ihnen ein wenig Angst einjagen und sie dann wieder über die Grenze zurücktreiben können. Ihnen klar machen, dass man die Geschichte ihrer Desertion nicht glaubte.

Seit sie bei der Ortswehr waren, hatten sie sich immer mit der Frage auseinandergesetzt: Was tun bei einem deutschen Überfall?

Sinnlose Märsche mitgemacht, die abstumpften. Auch der elsässischen Grenze entlang. Drüben schrien manchmal ausgepeitschte Elsässer. Die Teutonen machten ganze Arbeit.

Da kommt was auf die Schweiz zu. So sahen das der Beat und der Urs. Basel würde evakuiert, niemand würde hier ernsthaft Widerstand leisten. Wozu auch, es wäre sinnlos.

Manchmal hörte man auch Flugzeuge oder Panzer. Alles nicht weit entfernt. Wenn die eines Tages die Grenze einfach nicht mehr beachten würden, drohten Lager oder Schlimmeres. Davor hatten sie Angst.

Die Schlüsse, die die beiden daraus zogen, waren allerdings nicht dieselben. Vor allem der Urs hatte eine Vorstellung des Sowohl-als-auch. Die Heimat verteidigen, wann und wo es immer ginge, aber gleichzeitig dafür sorgen, dass in jedem Fall eine Rückversicherung da war, die das Schlimmste verhindern sollte. Der Beat dagegen, so viel jünger als der Urs, dachte nicht an das Schlimmste. Er war ein Grenzgänger und seine enge Beziehung zum alten Heimer, liess ihn die Welt mit anderen Augen sehen.

Ihre jeweiligen Ansichten aber behielten die beiden für sich.

*

All das wusste der Alte. Mindestens ahnte er es. Und setzte noch eins drauf.

Es kam immer wieder vor, dass er Aufträge für seine ehemaligen Weggefährten aus der Partei erledigte.

Die Zeiten reger Tätigkeiten waren zwar längst vorbei, die Arbeit im Untergrund war von Jahr zu Jahr schwieriger und gefährlicher geworden, aber ganz eingestellt war sie noch nicht.

Gelegentlich trat man an den Heimer heran, nicht so sehr weil man ihn für ideologisch gefestigt hielt, aber weil er als sehr zuverlässig galt.

Wenn an diesem Tag an der Grenze schon sturmfrei war, konnte auch das Vreneli mit dem Jean Nachrichten austauschen. Vor allem weil die junge Frau in der Gegend neu war. Sie hatte zwar einen netten Schweizer Namen, kam aber in Wahrheit aus den Ebenen des Nordens, kannte sich in der Gegend nicht aus. Die Namen, die man ihr gab, wechselten mit den Aufträgen, die sie durchführte, und gelegentlich passte man sie der Region an, in der sie tätig war.

Sie kam, führte aus und verschwand wieder. Dabei sollte das Gelände möglichst frei sein, wie die Schmuggler sagen. Ein hervorragender Schmuggler war der Alte immer gewesen.

Was er aber nicht wissen konnte war, dass Schönwald, der Basler Spitzenagent, dessen Dienste eine Abteilung des Sicherheitsdiensts in Lörrach gelegentlich in Anspruch nahm, seinen geplanten Ausflug über die Eiserne Hand mit anschliessender Stippvisite auf das Lörracher Amt verschieben musste. Man hatte ihn wegen einer Zeugenaussage vor das Divisionsgericht geladen. Im Rahmen eines Prozesses an dessen Ende vier Landesverräter, darunter zwei Basler, zum Tod durch Erschiessen verurteilt wurden. Eine angemessene Strafe, wie Schönwald später finden sollte. Schliesslich war Krieg.

*

Manchmal, wenn der Wind anhaltend von Osten kam, konnte es in dem kleinen Tal mit dem Wasserschloss im oberen Dorf so kalt werden, dass das Wasser um das Schloss herum fast vollständig zufror. Der Teich wurde fest. Man konnte dann um den ganzen Bau herumlaufen. Die Karpfen im Wasser hatten sich längst im Laubschlamm vergraben und warteten bei minimalem Herzschlag auf das Frühjahr. So wie es aussah, würden sie dieses Jahr lange warten müssen, denn die Kälte war früh gekommen.

Das ohnehin nicht sehr belebte Tal wirkte noch ausgestorbener. Der eiskalte Wind, der um die wenigen Bauernhöfe herum und entlang der Strasse nach Riehen blies, hatte jedermann, der nicht unbedingt im Freien arbeiten musste, in die Häuser getrieben.

So dass der Junge, der hinter der Muggenthaler Scheune auf seinen Vater wartete, von niemandem gesehen wurde. Als er den Alten die Strasse entlangtrotten sah, wie immer mit gesenktem Kopf trübe vor sich hinstarrend, entschloss er sich, den Heimweg anzutreten. Er wartete, bis der Alte kurz vor dem Zollhaus in der Kurve auf den Riehener Weg abbog und schlenderte dann hinter ihm her. Er hatte alle Zeit der Welt. Früh genug würde er die Vorwürfe wegen der Schweizer Uhr zu hören bekommen. Dass er sich wieder hatte erwischen lassen.

Wenn der Alte richtig in Fahrt kam, waren ein paar blaue Flecken das Mindeste, womit er rechnen musste. Kam darauf an, wie viel der Vater getrunken hatte. Das eilte nicht.

Obwohl er gerne gerannt wäre, um etwas gegen die Kälte zu machen.

Wenn nicht plötzlich ein Hund hinter der Scheune, aus der er gerade herauskam, wild zu bellen angefangen hätte, wäre die eigenartige Ruhe, die an diesem Tag über dem Dorf lag, durch nichts gestört worden.

*

Wie er durch die Tür stolperte, sah er ihn schon. Er sass am Küchentisch und rührte sich nicht. Sass nur da. Irgendwo im Hintergrund hörte er die Mutter mit den Geschwistern sprechen. Bis auf den Jan waren das alles Mädchen und alle jünger als er. Mit denen konnte man nichts anfangen.

Wie nur sollte er klarmachen, dass die wertvolle Uhr weg war? Im Vorbeigehen abgenommen von zwei Soldaten. Die über die Grenze in die Schweiz abgehauen waren, wo doch Krieg war, und man jeden brauchte. Hatte jedenfalls der Dorflehrer gesagt.

«Soldaten können sterben, Deserteure müssen sterben», das sagte er immer wieder, der Lehrer.

Dann sah er den Arm des Alten, der fast lässig angewinkelt auf dem Tisch lag. Unter dem abgewetzten Ärmel, dort, wo die grobe Hand begann, die zuschlagen konnte, glänzte matt etwas, was selbst im düsteren Licht des Zimmers zu sehen war. Das Gesicht des Alten wirkte nachdenklich. Auch dass er ihn kaum wahrgenommen hatte, war eigenartig. Sonst polterte er ganz gerne los, und wenn er loslegte, konnte man das vom Wasserschloss bis hinunter nach Riehen hören. Aber jetzt fragte er nicht einmal.

Nur langsam wandte sich der Blick des Alten dem Jungen zu und irgendwie schien es, als gebe es in diesen Augen etwas, was der Junge dort noch nie gesehen hatte.

Das passte gar nicht zu diesem mattgoldenen Glanz der protzigen Uhr am Arm des Alten. Der Junge konnte es kaum fassen: Der Alte hatte die Uhr wieder am Arm.

«Woher hast du die Uhr?»

Die Frage kam aus dem Jungen heraus, ohne dass er dies eigentlich wollte. Sie war einfach da.

Der Alte bewegte sich eine Idee in Richtung des Jungen.

«Welche Uhr? Von einer Uhr weiss ich nichts und du auch nicht. Keine Uhren in nächster Zeit. Hörst du? Nichts geht. Verstanden?»

Der Junge nickte. Ja, er hatte verstanden. So neu war das auch nicht. Es gab immer mal Zeiten, in denen nichts ging. Unruhige Zeiten. Passte so gar nicht zu diesem kalten Frühwintertag, da nichts an der Grenze auf irgendetwas Ungewöhnliches hinwies.

«Was hast du eigentlich der Rothaarigen gesagt, wo sie hin soll?»

Erst jetzt schien der Alte ihn richtig zur Kenntnis zu nehmen, und ein wenig neugierig war er schliesslich.

Jetzt gibt es doch noch Senge, dachte der Junge. Nur weil das blöde Weib nichts kapiert hatte. Er würde jetzt Schuld haben, dass sie nicht rechtzeitig zurückgekommen war. Dass man ihn gesehen hatte, dass er sich schon wieder hatte erwischen lassen.

Seine Erklärung kam prompt, klang wie sorgfältig vorbereitet und auswendig gelernt. Er hatte sich auf dem Heimweg viel Zeit gelassen.

«Dass sie nach der Grenze nach links hinauf soll, ein Stück den Berg hinauf und dann rechts runter. Damit sie unten am Strassenzoll keiner sieht. Und dann immer weiter zum 52-er Stein mit der ‹1700› drauf. Das hab ich ihr gesagt. Immer wollte sie wissen, wie der genau aussieht. Dass da halt eine riesige ‹1700› ist hab ich gesagt, nichts Besonderes sonst. Halt wie alle anderen Grenzsteine auch. Was weiss ich denn?»

Beinahe hätte er angefangen zu heulen, aber dann hätte es sicher eine Schelle gegeben, und er biss auf die Zähne und drückte die Augen zu.

Der Alte schaute zum Fenster hinaus.

«Hat euch jemand gesehen?» Jetzt schaute er dem Jungen ins Gesicht.

«Zwei Soldaten waren plötzlich da, die über die Grenze abgehauen sind. Jetzt, mitten im Krieg. Einfach abgehauen.»

Damit konnte er von sich ablenken. Vielleicht ging der Alte darauf ein. «Die kamen auch durch das Loch», fügte er noch hinzu.

Dass sie ihm dabei die Uhr abgenommen hatten, schien ihm nicht weiter erwähnenswert, die war ja wieder da. Diese zwei schienen den Alten allerdings nicht zu interessieren.

«Sonst jemand?»

«Im ganzen Dorf hab ich keine Menschenseele gesehen!»

«Was heisst im Dorf. Wo hast du jemanden gesehen?»

Der Alte wollte es jetzt genau wissen. Der Junge hatte das Gefühl, als könne der Vater jeden Moment explodieren.

«Naja,» druckste er herum. «Oben, über dem Loch, auf dem Ansitz dort. Da waren zwei von der Grenzwache, aber die sassen da nur.» Jetzt war es heraus.

«Wer war das?»

«Ich hab sie nicht erkannt, sie waren zu weit weg. Und dicke Mäntel hatten sie an.»

Das stimmte auch, genau jedenfalls hatte er sie nicht erkannt.

«Haben sie dich gesehen?»

«Erst nicht. Ich war im Gebüsch. Ich hab mich nicht gerührt. Bis die zwei Soldaten gekommen sind.»

«Und dann?», drängte der Alte.

«Dann war es doch egal, oder? Das mussten sie ja sehen, wie die beiden Soldaten mich gefragt haben, was ich da mache. Soll ich sagen: ‹Leute über die Grenze bringen›? Ich habe gesagt dass ich nichts mache. Da sind sie einfach weitergegangen. Ab in die Schweiz.»

«Was hast du gemacht?»

«Was sollte ich dann noch? Da bin ich halt auch weg. Wo die Frau doch nicht gekommen ist. Die Stunde war lange rum! Du hast gesagt, dass ich nicht länger als eine Stunde warten soll.»

«Dann tu in Zukunft, was ich sage, und jetzt hau ab!»

Damit drehte sich der Alte wieder um und starrte an die Wand.

Der Junge war froh so davongekommen zu sein.

*

Am anderen Tag war der alte Heimer noch eine Spur blasser geworden. Dass da etwas nicht so gelaufen war wie geplant, hatte er schon geahnt. In Lörrach erfuhr er Genaueres. Man hatte den Jungen gesehen, und es war geschossen worden. Ein paar Mal zu viel für den Geschmack des Sicherheitsdiensts. Da lagen zwei tote Soldaten an der Grenze. Deserteure angeblich.

Soldaten können sterben, Deserteure müssen sterben. Richtig laut werden sie nicht schreien können. Aber sie werden alles versuchen herauszufinden, wer dahintersteckte.

Er war wieder einmal am Spalt des Steins angekommen. Das hatte schon der Grossvater immer gesagt, wenn definitiv Schluss war. «Das ist der Spalt des Steins» und von da an war absolute Ruhe angesagt, Winterschlaf bis Entwarnung gegeben wurde. Wenn das auch andere Geschäfte waren, die man damals gemacht hatte, die Regel galt immer.

Diesmal konnte das dauern, der Bogen könnte überspannt sein, dann hatte er zu viel riskiert, etwas falsch eingeschätzt. Dass man da auf Schweizer Seite auch so schnell schiessen würde! Seit wann konnte er die Riehener nicht mehr einschätzen? Jedes Zucken der Augen, jede Bewegung des Mundes, alles sagte etwas. Das war hier so gewesen, das war auf der anderen Seite so gewesen. So lange er denken konnte. Die Braunen hatten das durcheinander gebracht, diese hochanständigen Deutschen.

Anständig war man in der Schweiz natürlich auch, zumal in Basel. Allerdings verstand man darunter nicht immer das Gleiche. Im Grenzbereich dieser Vorstellungen kann das Leben gefährlich werden.

Langsam löste er die Uhr vom Handgelenk. Nicht gut jetzt, dachte er. Es braucht jetzt keine Uhr. Auch wenn für manche nichts so wichtig ist wie die Erkenntnis, dass die Zeit, die einem noch bleibt, unbedingt von einer Schweizer Präzisionsuhr angezeigt werden muss. Er spürte, dass ihm diese Einsicht vielleicht zu spät gekommen war.

Sein Blick ging wieder zum Fenster hinaus und hinunter zum Bach. Der plätscherte trotz der Eiseskälte Richtung Riehen. Die Ränder waren ein bisschen gefroren.

Für den Bach gab es keinen Zaun. Keine Grenze konnte das Wasser aufhalten.

*

Es war lange her, dass sie ihn schon einmal in Verdacht hatten. Damals hatte er nur für die Kommunisten gearbeitet. Einen etwas übereifrigen Hilfsgrenzpolizisten hatten sie da auffliegen lassen und unten an der Strasse am Schweizer Zoll abgeliefert.

Jünger war er da gewesen, aber schon damals kannte keiner die Grenze so gut wie er. Das wussten die von der Partei natürlich auch, und Konspiratives war beim Heimer immer gut aufgehoben. Jedenfalls rund um die Eiserne Hand.

Bei der Grenzwache hatten sie des Öfteren Leute eingesetzt, die das Gebiet nicht wirklich kannten. Da hatten sie einen besonders Eifrigen aus Steinen dabei, der seit der Euphorie der Machtübernahme der Braunen, alles was links war, persönlich bekämpfen wollte. Weil er bei einer Wirtshausrangelei einmal Prügel bezogen hatte. Das war vor dreiunddreissig gewesen, und er war damals mit seinen politischen Ansichten an die Falschen geraten.

Der hatte nun herausbekommen, dass da über die Eiserne Hand etwas laufen solle, und spitzelte hinter zweien mit linken Flugblättern her, wobei er sich durchaus zutraute, die beiden zu stellen und an einschlägiger Stelle vorzuführen. Da er die Lorbeeren für sich allein einschieben wollte, verzichtete er auf jede Mithilfe. Ein folgenschwerer Fehler, wie sich bald herausstellte.

Denn die Eiserne Hand ist ein eigenwilliger Wurmfortsatz. Schnell ist man auf Schweizer Boden, ebenso schnell ist man wieder draussen aus der Schweiz. Es gibt ungezählte Grenzsteine, über die man stolpern kann, ohne wirklich mitzubekommen, wo man eigentlich ist. Besonders wenn das Auge zwei abtrünnige und hinterhältige Spione, Agenten und Feinde des Reichs verfolgt. Dabei nicht wahrnimmt, dass man selbst ins Visier derer gekommen war, die man gerade noch verfolgt hatte. Weil man nicht gemerkt hatte, dass man das Reichsgebiet verlassen hatte, weil man ohnehin nicht verstehen kann, dass ein derartiger Zipfel nicht Teil des grossen und mächtigen Reiches sein sollte, Basel hin oder her.

So gab es nach der Prügelei im «Hirschen» zu Steinen einen weiteren unsanften Hieb über den Schädel des Hilfsgrenzangestellten. Mitten in der Eisernen Hand. Und wieder waren diese Linken Urheber des Anschlags. Dass die dabei noch die Unterstützung zweier im Gebüsch versteckter Schweizer Genossen hatten, machte die Sache für den Hilfsgrenzwächter nicht einfacher. Er wurde hinunter zum Zollhaus an der Strasse nach Riehen geschleppt und den Schweizer Grenzbeamten ausgeliefert. Dort wollte man die Angelegenheit nicht unbedingt an die grosse Glocke hängen, und so liess man ihn wieder laufen. Aber seiner Bitte, nicht Meldung zu machen, konnte aus staatsrechtlichen und territorialen Gründen einfach nicht entsprochen werden.

Es gab einen mittleren Skandal mit einer beachtlichen Presseschlacht auf beiden Seiten, und das Ganze wurde richtig öffentlich. Es hätte für eine Provinzposse getaugt, aber Grenze war Grenze!

Es dauerte nicht lange, bis der Verdacht aufkam, dass der Heimer hinter der Aktion stecke, weil der sich schon immer mehr als gut mit einigen Riehenern, auch manchem Grenzbeamten und denen von der Gendarmerie verstanden hatte. Wenig an dieser Grenze blieb letztendlich wirklich geheim, was nicht bedeutete, dass es jedem bekannt wurde.

Da aber auch die Braunen unter den Eidgenossen einige Sympathisanten mit allerlei Beziehungen hatten, sickerte durch, dass dies ganz nach heimerscher Handschrift schmecke. Nur der sei dreist genug, Schweizer Hoheitsgebiet für seine vielfältigen, meist illegalen Geschäfte zu nutzen und gleichzeitig die Hilfe Schweizer Behörden in Anspruch zu nehmen, um seinen Widersachern im Reich, wer immer das sein mochte, eins auszuwischen.

Klar, dass man später dem Steinener ordentlich zusetzte, weniger wegen der Grenzverletzung, eher weil er blöd genug gewesen war, sich so stümperhaft überrumpeln zu lassen.

Das dem Heimer eines Tages heimzuzahlen, hatte der sich geschworen.

Inzwischen hatte der Hilfsgrenzpolizist von einst eine nicht ganz unwichtige Stelle beim Sicherheitsdienst in Lörrach inne, und auch seine grenzüberschreitenden Verbindungen mussten als gut bezeichnet werden.

Der Alte war sich zwar sicher, dass die Herren sämtlicher einschlägiger Abteilungen von Lörrach bis Freiburg und weiter bis Berlin Agenten wie ihn immer wieder brauchen würden. Da gab es ein paar Kleinigkeiten, die nur mit ortsansässiger Hilfe einigermassen reibungslos abliefen, so wie sie in der Vorstellung des Sicherheitsdiensts, dem Zollamt in Lörrach oder dem militärischen Abwehrdienst laufen sollten.

Er wusste aber, dass man seine Karten nicht überreizen dürfte. Bis zum Ende der Dreissiger Jahre hatten sie noch Juden über die Grenze gebracht. Dies geschah durchaus mit Wissen und Genehmigung der Nazibürokraten. Juden wollte man ja los werden. Da man ihnen alles abgenommen hatte, Geld, Pässe und sämtliche Wertsachen, musste wenigstens der Weg der richtige sein. Auch danach gab es noch Möglichkeiten, jüdische Flüchtlinge in die Schweiz zu bringen, und auch dabei hatte der Heimer seine Hände im Spiel gehabt. Ihm war letztlich nur übrig geblieben, mit allen Seiten zusammenzuarbeiten. Die Grenze war sein Geschäft. Immer gewesen, auch wenn es nicht immer das gleiche Geschäft war. Wenn man ein Häuschen im Niemandsland hat, und sei es noch so schäbig, dann ist die Grenze das Geschäft.

*

Niemandsland, das war das Land, das sich über ein paar hundert Meter zwischen dem Grenzbalken an der Strasse und dem Zollhaus in der Kurve im unteren Dorf erstreckte. Dieses Zollhaus war ein ansehnliches altes Fachwerkhaus, das man nicht unmittelbar an die Grenze hatte bauen können, weil dort eine Engstelle war und der Platz nicht gereicht hatte.

Viel gab es da nicht auf diesen paar Metern in diesem kleinen engen Tal. Ein unscheinbarer Bach und das kleine Haus unweit der eigentlichen Grenze, das da eher versehentlich stand. Die Heimers wohnten seit Generationen in diesem Schattenloch. Etwas oberhalb führte die Strasse vorbei, direkt in die Schweiz.

Patrouilliert wurde an der Grenze immer und geschmuggelt natürlich auch, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Reich werden konnte man dabei eigentlich nie, aber es half gelegentlich zu überleben.

Wer immer im Niemandsland lebte, war zum Schmuggeln geschaffen und musste die Grenze kennen. Trotzdem wurden sie alle irgendwann einmal erwischt, auch der alte Heimer. Nachlässigkeit, Überheblichkeit oder Übermut waren die Ursachen, und beim Heimer konnte auch alles zusammenkommen.

Seit das geschehen war, hatten sie ihn in der Hand. Von da an musste er für sie arbeiten. Für die Braunen, die Hakenkreuzler, die ihn für einen konvertierten Kommunisten hielten. Einer, der das Lager gewechselt hatte, was schon immer wieder mal vorgekommen war. Man versprach sich von einer Zusammenarbeit mit ihm einiges, gerade weil seine Verbindungen vielfältig waren.

Die Möglichkeit, das rundweg abzulehnen, sah er nicht. Frau und Kinder mussten versorgt werden. «Die Grenze ernährt dich», hatte er schon immer gesagt. Aber seit sie diesen Stacheldrahtverhau gebaut hatten, war alles komplizierter geworden. Sie sassen ihm im Genick, und einträgliche Nebengeschäfte waren immer schwerer durchzuführen.

Über die Eiserne Hand hinüber

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