Читать книгу 1842. Der große Brand von Hamburg - Arne Buggenthin - Страница 7

3. Mai

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Fernab vom Lärm und Gestank der Gängeviertel lag der Jungfernstieg im hellen Sonnenschein. Hier fuhren die Kutschen ohne Eile dahin, dort spazierten wohlgenährte Bürger mit ihren Damen im Schatten alter Bäume. Nur allzu gern ließ man sich erfrischen vom kühlen Atem der Alster, dem schönen Fluss, der wie ein prächtiger See inmitten Hamburgs lag.

St. Petri schlug die Mittagsstunde, als zwei Männer sich im Speisesaal des STREIT’S zum Essen trafen.

Der eine, William Lindley, war ein Ingenieur aus England, der es in den vergangenen Monaten zu einer lokalen Berühmtheit gebracht hatte. Elegant gekleidet und von kultivierter Wesensart war er ein gerngesehener Gast in den feinen Kreisen der Hamburger Gesellschaft, in denen er wie eine Trophäe herumgereicht wurde. Umso mehr genoss er nun die Ruhe und die Diskretion, die der Speisesaal des noblen Hotels ihm boten. Hier konnte er sich sicher sein, nicht mit albernen Fragen belästigt zu werden, und das Höchstmaß an Aufmerksamkeit, das man ihm schenkte, waren die wohlwollenden Blicke der Gäste an den Nebentischen.

Der andere war H. C. Meyer, ein Hamburger Kaufmann mit ungeheurem Appetit auf gutes Essen und einträgliche Geschäfte. Auch er war elegant und teuer gekleidet, doch die zurückhaltende Noblesse des Engländers fehlte ihm zur Gänze.

Zusammen mit anderen Aktionären hatten sie eine Gesellschaft namens HAMBURG BERGEDORFER EISENBAHN AG gegründet, die schnell zum Stadtgespräch geworden war.

Schon vor Jahren hatte es Bestrebungen gegeben, eine Eisenbahnverbindung von Hamburg nach Lübeck zu legen. Diese Pläne waren durch den Widerstand der dänisch regierten Herzogtümer Schleswig und Holstein verhindert worden. So hatte man sich entschlossen, eine kürzere Strecke auf eigenem Gebiet zu bauen, die von Hamburg bis ins benachbarte Bergedorf führte.

Diese Idee Wirklichkeit werden zu lassen, war alles andere als einfach gewesen. Doch schließlich war es ihrer Gesellschaft gelungen, die unglaubliche Summe von 1,5 Millionen Courant Mark aufzubringen und die Strecke in Rekordzeit zu bauen. Nun stand die große Eröffnungsfeier kurz bevor, und niemand war darüber glücklicher, als die beiden Geschäftsfreunde an ihrem gedeckten Tisch.

»Ich glaube, wir sind alle heilfroh, wenn die Feierlichkeiten vorüber sind und wir den Fahrbetrieb endlich aufnehmen können«, sagte Meyer.

Sein Teller war gut gefüllt. Zwei Spiegeleier, mehrere Lagen gebratener Speck und eine Scheibe Weißbrot warteten darauf, von ihm verzehrt zu werden. Ein großes Glas Bier, das er mit dem ersten Zug schon fast geleert hatte, stand daneben.

»Da kann ich Ihnen nur zustimmen«, meinte der Ingenieur. »Es wird bestimmt sehr interessant zu sehen, wie sich unsere Wagen im täglichen Betrieb bewähren.«

Meyer legte seine breite Stirn in Falten und sah sein Gegenüber an. »Ich hatte dabei mehr an den Gewinn gedacht, den wir dann erzielen.«

»Oh, ja«, sagte Lindley. »Das ist auch sehr wichtig.«

Sein Mittagsmahl bestand nur aus einer Scholle, ein paar Petersilienkartoffeln und einer leichten Soße mit wilden Kräutern. Er bevorzugte kleine Portionen, denn die träge Zufriedenheit, die reichhaltiges Essen mit sich brachte, widersprach ganz entschieden seinem Naturell.

»Ich weiß, es ist Ihnen ein Gräuel, vor großem Publikum zu sprechen. Aber für diesen, unseren Ehrentag möchte ich Sie bitten, eine Ausnahme zu machen … und sparen Sie nicht mit Lob und Schmeicheleien. Denn unsere Ehrengäste gehören zu den einflussreichsten Familien der Stadt, und ihr Wohlwollen sollte uns nicht gleichgültig sein.«

Lindley seufzte. Meyer konnte ein Überdruckventil nicht von einem Türknauf unterscheiden, doch was die geschäftliche Seite ihrer Unternehmung betraf, hatte er meistens recht.

»Ich werde mein Bestes tun, die Damen und Herren so gut es geht zu unterhalten.«

»William«, sagte Meyer voller Dankbarkeit. »Sie sind mein Retter … und ein Heiliger noch dazu.«

»Das ist übertrieben«, meinte Lindley und zerlegte seine Scholle gekonnt mit dem Fischbesteck.

»Da wir gerade von Ehrengästen sprechen.« Der Kaufmann griff in seine Westentasche und holte eine kleine Karte hervor. »Die Druckerei hat gestern Nachmittag endlich die Billetts geliefert. Ich finde, sie sind sehr gelungen. Was halten Sie davon?«

Der Ingenieur nahm die Karte entgegen und betrachtete das aufgedruckte Motiv. Das Bild zeigte ein langgestrecktes Bahnhofsgebäude mit einem von Säulen getragenen Dach. Vor dem Bau versammelten sich Fahrgäste auf der Straße, dahinter zog eine dampfende Lokomotive mehrere Wagen hinaus ins Land.

HAMBURG BERGEDORFER EISENBAHN stand über der Zeichnung, ERÖFFNUNGSFAHRT darunter. Dann war Platz gelassen für den Namen des Ehrengastes, der handschriftlich eingetragen werden sollte. Weiterhin war zu lesen: AM 7 MAI MORGENS 10 UHR. ABFAHRT VOM INNERN BAHNHOFE PRÄCISE 10 UHR, RÜCKFAHRT VON BERGEDORF 11 ½ UHR. DIESE KARTE GILT NUR FÜR DIE DARAUF BEZEICHNETE FAHRT.

»Eine schöne Karte«, meinte Lindley. »Sie wird den Gästen bestimmt gefallen.«

Meyer stach in eines der Spiegeleier und sah mit einer beinahe kindlichen Freude zu, wie sich das Eigelb auf dem Teller ausbreitete. Dann fuhr er mit einem Stück Speck hindurch, führte es zum Mund und ließ es sich schmecken.

»Haben Sie schon Pläne für die nächsten Monate?«, fragte er schließlich. »Sie haben doch sicher schon wieder neue Aufträge in Aussicht.«

»Eigentlich nur einen. Der Senat hat mich gebeten, ein großflächiges Abwassersystem für die Innenstadt zu entwerfen.«

Meyer horchte auf. »Ist es lukrativ?«, fragte er. »Ich meine, dass Hamburg eine Kanalisation braucht, steht außer Frage. Aber wer soll sie bauen? Und woher kommen die Gelder?«

»Ich nehme an, es wird durch neue Steuern finanziert.«

»Und wie wollen Sie es angehen?«

»Nun, ich habe mir noch nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht. Aber … es wäre bestimmt von Vorteil, wenn man eine Art Schwemmkanalisation entwerfen würde.«

»Eine Schwemmkanalisation?«

»Ja, das Wasser, mit dem die Kanäle gespült würden, müsste aus der Alster kommen. Aber man sollte hier nicht den gleichen Fehler begehen, den man in London gemacht hat. Das Abwasser darf nicht in die kleinen Flüsse gelangen, sondern muss in die Elbe geleitet werden. Sie ist groß genug und hat die nötige Strömungskraft, um die Kloake fortzuschaffen. Allerdings sind die Gezeiten ein Problem, sodass man auf der Elbseite Fluttore installieren müsste, die sich bei Hochwasser selbsttätig schließen.«

Während Meyer aß, setzte der Ingenieur seine Ausführungen fort, bis er das Thema ausführlich und in allen Einzelheiten beschrieben hatte.

»… und sollten daher aus gebrannten Ziegelsteinen bestehen. Um eine optimale Wartung zu gewährleisten, müssten die Abwasserkanäle selbstverständlich begehbar sein.«

»Selbstverständlich«, sagte Meyer und tupfte sich den Mund mit seiner Serviette ab.

Lindley machte ein zufriedenes Gesicht. »Ja, ich glaube, eine derartige Konstruktion sollte mindestens hundert Jahre halten … Aber, wie gesagt, ich habe noch nicht allzu viel darüber nachgedacht.«

»Ich bin jedenfalls sehr froh, dass Sie sich entschlossen haben, noch eine Weile in der Stadt zu bleiben«, meinte Meyer. »Sie wissen ja, meine Töchter haben sich feierlich geschworen, Ihnen alsbald eine Braut aus Hamburg zu suchen. Und was sich meine Grazien in den Kopf setzen, das gelingt ihnen meistens auch.«

»Die jungen Damen in dieser Stadt sind überaus charmant, das kann ich nicht bestreiten«, meinte Lindley. »Aber als Ehefrau kommt für mich nur eine Engländerin in Frage.«

Meyer lächelte. »Wir werden sehen, mein lieber William. Wir werden sehen.« Versonnen betrachtete er die herrlich duftende Nachspeise, die an einem der Nebentische serviert wurde. »Ich glaube, ich nehme süße Waffeln zum Dessert.«

Marie war guter Dinge. Der Botengang zum Hotel erlaubte es ihr, durch die Straßen zu schlendern und den Spaziergängern auf dem prächtigen Jungfernstieg zuzusehen. Mit einem Gefühl, an das sie sich nur aus ihrer Kindheit erinnerte, wanderte sie an der Binnenalster entlang. Fast hätte sie dabei die Arme geschwungen und kleine Tanzschritte vollführt.

So ganz konnte sie ihr Glück noch gar nicht fassen. Meistens wurde Catharina für derartige Gänge ausgewählt, da sie nun einmal die Schönste von ihnen war und den besten Eindruck auf die Kunden machte. Doch heute hatte die Waschhausmutter sie ausgesucht. Vielleicht war es der Dank dafür, dass sie rechtzeitig das Feuer bemerkt hatte. Am Ausgang hatte ihr Catharina einen Blick voller Neid und Gift zugeworfen, doch das trübte ihre Hochstimmung nicht.

Sie hatte den Weg zum Hotel sehr genossen. Natürlich war es schade, dass man ihr die Lieferung am Boteneingang abgenommen und nicht erlaubt hatte, den berühmten Herrn Lindley zu sehen. Aber ein paar neugierige Blicke über die Schulter des Dieners hatten sie davon überzeugt, dass ein großes Hotel ein ausgesprochen guter Arbeitsplatz sein musste. Marie überlegte, ob sie eine Chance hätte, als Zimmermädchen angenommen zu werden. Ihre Manieren waren nicht so schlecht, dass man sie auslachen würde, und was sie nicht wusste, konnte sie lernen.

Sie bekam eine regelrechte Gänsehaut, wenn sie daran dachte, wie sich ihr Leben verändern könnte. In ihrer Fantasie trug sie ein hübsches, sauberes Kostüm und schritt über weiche Teppiche durch hohe Marmorsäle. Lächelnd strich sie sich über die Arme, deren feine Haare sich aufgestellt hatten.

Sorgsam darauf achtend, nicht von einer der schnell dahinrollenden Kutschen angefahren zu werden, überquerte Marie die Promenadenstraße und machte sich auf den Rückweg. Zurück in die verwinkelte, dunkle Welt des Gängeviertels.

Die Häuser drängten sich enger und immer enger aneinander und die Straßen bevölkerten sich mit schmutzigen, bleichen Kindern. Aus einem offenstehenden Fenster wehte das Geschrei eines Säuglings und begleitete Marie durch die Gassen. Vom ersten Stockwerk bis hinauf zu den kleinen Dachwohnungen waren unzählige Wäscheleinen gespannt. Tücher, Decken und Kleidungsstücke flatterten im Wind. Der Himmel darüber war fast nicht zu erkennen.

Als Marie die hohen Mauern des Waschhauses erblickte, wusste sie, dass die Zeit für Träume vorbei war. Während sie noch zögerte, durch das rostige Tor zum Gnadenhof zu treten, kamen ihr auf der anderen Straßenseite zwei gutgelaunte junge Männer entgegen. Einen der beiden, den Kerl mit der Zahnlücke, hatte sie schon ein oder zwei Mal in dieser Gegend bemerkt. Er war ein Spaßvogel, der nur herumzulungern und Frauen nachzusteigen schien. Den anderen, der Hübschere wie sie fand, hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Marie fragte sich gerade, ob sie den beiden auffallen würde, schon hatte der Weiberheld sie entdeckt und seinen Freund auf sie aufmerksam gemacht. Ohne Eile kamen sie über die Straße auf sie zu.

»Wohin des Wegs, schöne Frau?«, fragte der Spaßvogel. »Drängt es dich zu deinem Liebsten?«

Da Marie es nicht eilig hatte, an die Arbeit zurückzukehren, blieb sie stehen und betrachtete die beiden. Besonders den Hübschen sah sie sich genauer an. Er erwiderte ihren Blick und lächelte.

»Hast du keine Manieren, Jasper?«, fragte er. »Du musst dich ihr erst vorstellen, vielleicht redet sie dann mit uns.«

»Ja, glaubst du? Nun, ich bin Jasper, schönes Fräulein, und dies ist mein Freund Adam.«

Wie zwei Hundewelpen, die erwarteten, dass man mit ihnen spielte, sahen sie Marie an.

»Ich bin auf dem Weg zur Arbeit«, erwiderte sie kühl.

Adam wandte den Blick zu den grauen Mauern. »Du arbeitest im Waschhaus?«

»Ja, das tue ich«, antwortete sie. Dafür brauchte sie sich schließlich nicht zu schämen, oder?

Jasper kratzte sich über dem Ohr. »Ich kannte mal eine Wäscherin, ein tolles Weib, die nie was drunter trug … Ich hab mich immer gefragt, ob das bei Wäscherinnen so üblich ist?«

Marie versuchte, die beiden jungen Männer einzuschätzen. Sie schienen nicht zudringlich werden zu wollen, aber man konnte nie wissen. Es war besser, sie machte ihnen klar, dass sie sich nichts mit ihr erlauben durften. »Wenn ihr mich anfasst, reiß ich euch was ab, das ihr vermissen werdet«, sagte sie mit ruhiger Stimme.

Jasper lachte, dann sah er sie mit treuem Hundeblick an. »Ich würde doch niemals etwas tun, das gegen die guten Sitten verstößt. Im Gegenteil, ich empfinde tiefe Abscheu für diese unverschämten Kerle, die sich an keusche Mädchen heranmachen.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Es könnte allerdings sein, dass mich der Umgang mit lockeren Weibern, wie besagter Wäscherin, ein wenig verdorben hat.«

»Du musst meinen Freund entschuldigen«, sagte Adam. »Er glaubt, Aufdringlichkeit sei eine Tugend. Das hat man ihm als Kind erzählt.«

»Ja, es könnte tatsächlich stimmen«, meinte Jasper, der zu sich selbst zu sprechen schien. »Die Frauen sind womöglich schuld daran, dass ich so … so bin, wie ich bin.«

Marie stemmte die Hände in die Hüften. »Habt ihr heute Morgen nichts anderes zu tun, als euch hier zum Narren zu machen?«, fragte sie.

»Und ob!«, rief Jasper. »Nachher müssen wir uns da vorne zum Narren machen.«

»Und nach dem Mittag ist der Marktplatz dran«, sagte Adam. »Dort machen wir uns dann zu kompletten Idioten.«

Marie versuchte, ernst zu bleiben. »Nun, das dürfte euch nicht schwerfallen. Leider kann ich euch keine Gesellschaft dabei leisten, denn ich muss wieder an die Arbeit. Also, auf Wiedersehen, ihr Kindsköpfe.« Sie schob Adam aus dem Weg.

»Jetzt werd ich nie erfahren, ob Wäscherinnen was drunter haben«, beklagte sich Jasper. »Es ist grausam, einen Mann so leiden zu lassen.«

»Ja. Grausam und gemein«, ergänzte Adam.

Marie hielt kurz vor dem Tor inne. Dann raffte sie ihren Rock hoch und gestattete ihnen einen flüchtigen Blick auf ihr blankes Hinterteil.

Adam und Jasper fuhren überrascht zusammen, bevor sie zu lachen begannen.

Marie war schon halb über den Gnadenhof, als sie in ihr Lachen einstimmte. Einen Moment später war sie im Waschhausgebäude verschwunden.

Victor knöpfte seine Hose zu und zog seinen Gürtel fest.

Auch die Hure ordnete ihre Kleidung und schüttelte ihren Rock auf.

Obwohl ihm eine Bemerkung über ihren Körpergeruch auf der Zunge lag, schwieg er. Er hatte die junge Frau bezahlt und ihre bescheidenen Dienste in Anspruch genommen. Mit ihr zu reden, wäre nur eine Vergeudung seiner wertvollen Zeit gewesen. Dennoch hatte er mit dem Anziehen keine Eile, denn der Hofdurchgang bot mit seiner kalten, feuchten Luft eine willkommene Erfrischung an diesem heißen Tag.

Er spürte, dass sie ihn ansah. Mit dem gleichen Blick hatte sie ihn beobachtet, während er ihren knochigen Leib gegen die kalte Mauer gedrängt hatte.

»Du bist Victor, nicht wahr?«, fragte sie mit einer Stimme, die ebenso fade wie ihr Körper war.

Er wandte ihr das Gesicht zu.

»Du bist Victor«, wiederholte sie, diesmal als Feststellung. »Du hast dem August die Bande abgejagt.«

»Ja, das habe ich.«

»Dann bist du jetzt ein wichtiger Mann im Viertel«, meinte sie und verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Mein Name ist Fri…«

»Wen schert’s, wie du heißt?«, fuhr er sie an.

Die junge Frau sah gekränkt zu Boden.

Sie war also nicht nur unansehnlich, sondern auch noch leicht zu beleidigen, dachte Victor. Es ärgerte ihn, dass er einem Weib, das offensichtlich nicht zur Hure taugte, einen so guten Preis gezahlt hatte.

»Los, nimm den Kopf hoch«, sagte er schroff.

Als sie seine Aufforderung nicht beachtete, packte er ihr Gesicht und zwang sie, ihn anzusehen.

»Du hast keinen Grund, dich zu beschweren. Ich habe dir mehr bezahlt, als du wert bist, und geschlagen habe ich dich auch nicht. Findest du nicht, dass du dich dafür bedanken solltest, anstatt so ein Gesicht zu machen?«

Er zwang sie zu einem Nicken.

»Wieso höre ich dann nichts?«

»Danke«, sagte sie undeutlich.

Er ließ sie los und hielt ihr seinen Handrücken entgegen.

»Zeig mir, wie dankbar du bist.«

Nach einem Moment der Überwindung begann sie, ihm die Hand zu lecken. Die Knöchel, die Finger, schließlich die Handinnenseite. Ihre Unterwürfigkeit erregte ihn und er überlegte, ob er sie noch einmal nehmen sollte.

Sie sah ihm seine Gedanken an und versuchte, sich aus seinem Griff zu winden. Seltsam, dachte er, dass sich ausgerechnet eine Hure so zieren sollte. Seine Rechte wanderte von der Schulter zu ihrer Brust hinab und begann, sie zu kneten, als ein paar spielende Kinder am Hofende des Durchgangs erschienen.

Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, die Störenfriede davonzujagen, doch Victor wusste, wie schnell sich Menschenmengen versammelten, wenn es Lärm und Aufregung gab. Das war ihm das kleine Vergnügen nicht wert.

Er kniff sie zum Abschied in die Wange. Dann schlenderte er auf die Straße hinaus, zurück ins helle Sonnenlicht.

Die Uhr von St. Nikolai, deren stolzer Turm weit über die Dächer ragte, schlug gerade die Mittagsstunde. Auf der einen Straßenseite rollten vollbeladene Wagen in Richtung Hopfenmarkt. Ausgehungerte Hunde liefen hinter ihnen her, um nach den Bissen zu schnappen, die von den Ladeflächen herunterfielen. Auf der anderen Seite nahm ein Wirt eine Lieferung Bier entgegen. Die Fässer wurden mit Seilen gesichert und langsam über eine Rutsche in den Keller hinuntergelassen.

Victor lächelte, als er die Straße überquerte. Die Hure hatte von ihm gehört. Er wurde also langsam bekannt im Viertel. Das hatte er sich all die Monate, in denen er unter Augusts Befehl gestanden hatte, gewünscht. Endlich war er in der Lage, die Bande nach seinen Vorstellungen zu führen. Die kleinen Diebereien würden ein Ende haben, dachte er, und seine Männer konnten sich größeren Aufgaben zuwenden. Seine Männer. Victor gefiel der Klang dieser Worte. Er gefiel ihm sogar sehr. Bisher waren sie nur ein Haufen diebischer Elstern gewesen, doch unter seiner Führung würde sich die Bande bald einen Ruf gemacht haben.

Doch zunächst musste es einige Veränderungen geben. Jene Jungen, die ohne Nutzen waren, mussten verschwinden. Peer, zum Beispiel, war geistig schwach und nicht in der Lage, seine Anweisungen genau zu befolgen. Freder war schlau genug, aber zu redselig und konnte kein Geheimnis für sich behalten.

Ja, er kannte seine Männer. Ihre Fähigkeiten und Schwächen. Nur einen wusste er nicht recht einzuschätzen. Jaspers Freund, Adam. Der Bursche war schlau und gewandt und kletterte wie ein Affe. Doch sich unterzuordnen und Befehle auszuführen, fiel ihm schwer. Vielleicht war es daher besser, wenn er die Bande verließ, bevor er die anderen mit seinem Ungehorsam ansteckte.

Diese Auswahl würde ihre Reihen ein wenig lichten, aber er plante, schon in den nächsten Wochen fähige Männer aus Altona anzuwerben. Nein, die Bande würde gewiss nicht schwächer werden. Im Gegenteil, sie würde an Stärke und Größe gewinnen, bis sich ihr niemand mehr in den Weg stellen könnte.

Victor hatte die Straße überquert und entschied sich, die Abkürzung über den Müllplatz zu nehmen. Er folgte einem schmalen, dreckigen Gang, der zwischen zwei Gebäuden hindurchführte. Der Weg öffnete sich auf ein großes Grundstück und eine tiefe Erdsenke, der Müllplatz, lag vor ihm. Wie dieser Trichter entstanden war, wusste niemand mehr. Wahrscheinlich war die Erde vor Jahrzehnten abgetragen und für den Bau der Häuser ringsum verwendet worden.

Victor stieg den leichten Abhang hinunter und versuchte, den überwältigenden Gestank nicht zu beachten. Die Menschen im Gängeviertel besaßen nicht viel, und das, was sie besaßen, warfen sie nicht leichtfertig fort, nur weil es alt oder angeschlagen war. Dennoch gab es immer wieder Möbel oder Hausrat, der zu verdorben war, um weiterhin benutzt zu werden. Aus diesen Gegenständen suchten sich die Ärmsten der Armen ihre Schätze und was dann noch übrigblieb, endete hier, im Trichter.

Victor fand einen Pfad festgetretener Erde und folgte ihm. Er wusste, dass man gut beraten war, auf diesen Wegen zu bleiben und sich nicht umzuschauen. Er hatte keine Lust, dass der Anblick eines Tierkadavers oder, schlimmer noch, eines toten Säuglings ihm die Laune verdarb.

Als er aus dem Umland nach Hamburg gekommen war, hatten ihn einige Großmäuler verspottet. Ein Bursche vom Lande sei dem Leben in der Stadt nicht gewachsen, hatten sie behauptet, und sich einen Moment später mit blutiger Nase auf dem Pflaster wiedergefunden. Dachten diese Schwachköpfe etwa, das Leben auf den Dörfern sei weniger hart? Was wussten sie schon von den bitterkalten Wintern und den Missernten im Sommer danach? Was wussten sie von den Tragödien, die die Armut dort mit sich brachte? Oder von dem letzten, schimmeligen Rest Brot, den er seiner kleinen Schwester entrissen hatte?

Wieder sah er das Brot vor sich und die kleinen Hände, die es festhielten. Wieder stellte er überrascht fest, dass die kurzen, schwachen Finger sich nicht daran klammerten, sondern es ihm bereitwillig überließen. Damals hatte er nicht darüber nachgedacht. Er hatte nur kurz gezögert, als müsse er einen schwächer werdenden Ekel überwinden, und hatte den Brotrest dann verschlungen. Nein, damals hatte er nicht darüber nachgedacht, aber seither hatte er sich unzählige Male dieselbe Frage gestellt. Waren die Hände zu schwach gewesen oder hatten sie sich freiwillig geöffnet, um ihm zu überlassen, was er zum Überleben brauchte?

Trotz des Gestankes atmete Victor tief ein. Die Gedanken an sein Dorf waren stets bedrückend, aber diese eine besondere Erinnerung war schlimmer als alle anderen. Mit einer enormen Willensanstrengung zwang er sich, an etwas anderes, an die Zukunft zu denken.

Victor war so damit beschäftigt, seine Pläne zu schmieden, dass er nicht bemerkte, wie sich ihm jemand von hinten näherte. Erst als sich eine Hand auf seinen Arm legte, fuhr er herum. Fäuste geballt und bereit zuzuschlagen.

Jasper sprang zur Seite und hob die Hände empor. »Victor! Ich bin’s doch nur!«

»Wieso schleichst du dich so an?«, rief der Überraschte ärgerlich. »Mach das nie wieder!«

»Kann ich was dafür, dass du wie ein Schlafwandler durch die Gegend läufst? Ich hab dich doch gerufen.«

Sein Cousin Jasper konnte eine gottverdammte Plage sein, dachte Victor und senkte die Fäuste. »Wo ist dein Freund?«, fragte er. »Ihr seid doch sonst so unzertrennlich.«

»Heute nicht. Eine hübsche kleine Wäscherin hat ihn aus der Bahn gebracht.«

»Ach, ja?«

Jasper lachte. »Er ist einfach zu ehrlich. Der kommt bei so ’nem Mädchen auf dumme Gedanken und wird sesshaft.«

»Ich habe mich schon gefragt, ob er bei der Bande bleiben soll.«

»Was? Wieso das denn?«

»Ich plane einige Veränderungen, damit wir endlich richtig ins Geschäft kommen. Vielleicht ist Adam nicht der Richtige für so etwas. Wie du selbst sagst, er ist einfach zu ehrlich.«

»Du kannst ihm das Stehlen doch nicht verbieten! Wovon soll er denn leben?«

»Solange er uns nicht in die Quere kommt, kann er tun und lassen, was er will.«

»Das gefällt mir nicht«, meinte Jasper schmollend. »Wir waren immer zusammen, soweit ich zurückdenken kann. August hat nie verlangt, dass wir uns …«

Victor schlug ihm ins Gesicht.

»Was soll das? Warum schlägst du mich?«

Victor sah ihn ernst an. »Ich will dein Bestes, Jasper«, sagte er. »Du bist mein Cousin und ich möchte, dass du dabei bist, wenn wir reich werden. Aber du musst aufhören, mir zu widersprechen. Verstehst du das? Wenn du mir andauernd widersprichst, denken die Männer, sie könnten mir auf der Nase herumtanzen. Das kann ich nicht dulden.«

Jasper rieb sich die gerötete Wange. »Ja, ich glaube, das verstehe ich. Aber komm bloß nicht auf den Gedanken, mich noch mal zu schlagen.«

»Liegt ganz bei dir.« Victor lächelte, um zu zeigen, dass er ihm wieder gut war. »Reich zu sein, würde dir doch gefallen, nicht wahr? Denk nur mal daran, was du den Frauen alles bieten könntest.«

Das Grinsen kehrte auf Jaspers Gesicht zurück. »Also gut, ich werde mich beherrschen. Aber du musst mir versprechen, Adam noch eine Chance zu geben.«

Victor nickte. »Ich werde es mir überlegen.«

»Das wollte ich hören«, meinte Jasper und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Ich glaube, du wirst uns ein guter Anführer sein.«

In einer baumgesäumten Nebenstraße, in der die Alster nicht zu sehen, ihre wohltuende Kühle aber stets zu spüren war, stand eine alte Villa. Es war ein rechtschaffenes Haus und obwohl die Familie, die darin lebte, bitteres Leid erfahren hatte, herrschten Lebensfreude und Dankbarkeit in ihm.

An der Straßenseite, von einer niedrigen Mauer und einem filigranen Stabzaun begrenzt, lag der Vorgarten. Die ersten Frühlingsblumen blühten darin und gaben eine Ahnung der bunten Schönheit, die sich in den kommenden Wochen entfalten sollte.

Auf der Rückseite des Gebäudes lag ein weiterer, großer Garten, den man von der Straße aus nicht einsehen konnte. Hier wuchsen mächtige, alte Kastanienbäume, und Sonnenlicht und Schatten malten ein träumerisches Muster auf den Rasen.

Im Schutz der Bäume war eine Reihe hübscher, sauberer Bienenkörbe aufgestellt. Ihre kleinen, lebhaften Bewohner schwebten vor den Eingängen auf und ab, flogen aus und ein und schienen von einer außergewöhnlichen Aufregung ergriffen.

In diesem Garten, diesem kleinen Paradies, stand eine junge Frau in einem leichten, weißen Kleid. Sie genoss die Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht und erfreute sich an all den Düften, die der Frühling mit sich brachte.

Sie hatte weder Scheu noch Furcht vor den Bienen und, obwohl sie hin und wieder gestochen wurde, auch keine Angst vor ihren Stacheln.

Vielmehr liebte sie es, inmitten der schwärmenden, emsigen Tiere zu stehen. Ihr Brummen und Summen zu hören und die ständige Bewegung zu spüren, geradeso als sei die Luft um sie lebendig.

Franz, der alte Gärtner, der sich mit Hingabe um das Wohlergehen der Bienenvölker kümmerte, war bei ihr. »Die Tiere kennen weder Rast noch Ruh in diesen Tagen«, sagte er. »Es wird wohl ein Unwetter kommen. Ein Unwetter … oder etwas anderes …« Seine Stimme, die immer liebevoll und heiter klang, wenn er von den Bienen sprach, wurde ernst, sogar besorgt. »Ich hoffe, es wird keinen Krieg geben.«

Für Elisabeth, die mit ihren neunzehn Jahren niemals einen Krieg erlebt hatte, klang seine Bemerkung seltsam, ja, sogar ein wenig dumm. Aber dann dachte sie daran, wie alt der gute Franz schon war. Sicher hatte er die Franzosenzeit erlebt, jene dunklen Jahre, in denen sich erst Napoleons Truppen und dann die russische Armee der Stadt bemächtigt hatten. Sicher war ihm, wie den meisten alten Leuten, seine Jugend besonders lebhaft in Erinnerung. War es da ein Wunder, dass er an vergangene Schrecken dachte?

»Ach, mein guter Franz«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass es einen Krieg geben wird. Die Tiere sind nur aufgeregt, weil es endlich Frühling ist.«

»Vielleicht haben Sie ja recht, Fräulein Cornelsen«, meinte der Alte zögerlich. »Ich hoffe es … Oh ja, ich hoffe es.«

Elisabeth horchte auf. Über den weichen Rasen näherten sich ihnen Schritte, die ihr wohlvertraut waren und sie zum Strahlen brachten.

Es war ihr Vater, der zu überraschend früher Stunde nachhause kam. Denn für gewöhnlich blieb er bis zum Abend in seinem Bureau, in dem es immer viel zu viel Arbeit gab.

»Vater, was für eine Freude, dass du heute so früh nachhause kommst.«

»Ich hatte plötzlich Sehnsucht nach meinem Liebelein«, sagte er und ein Lächeln war in seiner Stimme wohl zu hören. »Deshalb habe ich meine Sachen zusammengepackt und bin flugs zu dir geeilt.«

»Das glaube ich dir nicht«, sagte sie gutgelaunt. »Du hattest sicher noch einen anderen Grund.«

»Wollen wir einen Spaziergang machen?«

Er bot ihr seinen Arm und gemeinsam gingen sie im Schatten der alten Bäume einher.

»Ach, wie herrlich kühl es in unserem Garten ist. Die Stadt ist so heiß und stickig, dass man sich vorkommt wie auf den Plantagen.«

»Wir sind auf den Plantagen?«, fragte sie mit gespielter Verwunderung.

»Aber ja«, sagte er. »Hörst du nicht, wie lustig die Mulatten auf den Feldern singen?«

Sie lachten gemeinsam, und Elisabeth fühlte sich glücklich und zufrieden. Es war so schön, wenn ihr Vater, der immer so ernst und geschäftlich war, sich jung und albern gab.

Gottfried Cornelsen war der Patriarch des Hauses. Ein Hamburger Geschäftsmann von tadellosem Ruf und beträchtlichem Vermögen. Begonnen hatte er als junger Kaufmann, der versuchte, mit billigen Spirituosen sein Geld zu machen. Glückliche Umstände und die Erkenntnis, dass man mit gerösteten Bohnen ein besseres Geschäft als mit Alkohol machen konnte, hatten ihm schließlich den Erfolg gebracht. So war er über die Jahre zu einem der größten Kaffee- und Kakaohändler des Landes geworden.

Doch dem gesellschaftlichen Aufstieg war eine familiäre Tragödie gefolgt. Seine Frau, die er inniglich geliebt hatte, war bei der Geburt ihrer Tochter gestorben.

Dieser Schicksalsschlag hatte seine Welt zutiefst erschüttert und dass er nicht daran zerbrochen war, hatte er allein seinen beiden Kindern zu verdanken.

Sein Sohn Johann war ein gescheiter Bursche, der seit dem Herbst des vergangenen Jahres auf der Militärakademie in Berlin studierte. Der Vater war sehr stolz auf ihn und obwohl die Laufbahn des jungen Mannes nun vorgezeichnet schien, hoffte er immer noch, dass der Sohn sein Geschäft übernehmen würde.

Und Elisabeth, seine Tochter, die schuldlos den Tod der Mutter verursacht hatte? Nun, er hegte keinerlei bittere Gefühle gegen das Kind. Im Gegenteil, die tiefe Liebe zu ihr erhellte ihm sein Leben, das ohne sie unsagbar traurig gewesen wäre.

»Es war ein Tag der Überraschungen«, sagte er schließlich. »Zunächst einmal habe ich einen Brief bekommen … Einen Brief, über den ich mich sehr gefreut habe.«

Elisabeths erster Gedanke galt ihrem Bruder. »Ist er von Johann?«, fragte sie. »Hat Johann uns geschrieben?«

»Warum sollte er einen Brief zu mir ins Bureau senden? Du weißt doch, dass er sie immer gleich nach Hause schickt, damit du sie als Erste in Händen halten kannst.«

»Aber von wem war er dann?«

»Es war ein Schreiben von Herrn Valeur. Er befindet sich mal wieder auf großer Reise und wird uns in den nächsten Tagen mit seinem Besuch beehren.«

Elisabeth packte den Arm des Vaters ein wenig fester.

Herr Valeur war ein reisender Geschäftsmann, den es immer wieder in ferne Länder zog. Elisabeth kannte ihn seit ihren Kindertagen und seine Besuche im Hause Cornelsen gehörten zu ihren schönsten Erinnerungen. Sie liebte es, wenn er von seinen Erlebnissen erzählte und sie ihn in ihrer Fantasie begleiten durfte. Seine warme, ruhige Stimme machte seine Erlebnisse so lebendig, dass es eine reine Freude war, ihm zuzuhören.

»Ist das nicht eine schöne Nachricht? Sag, freust du dich, mein Liebelein?«

Wie gut der Vater sie doch kannte! Ja, sie freute sich sehr über den Besuch des alten Freundes. »Er ist der klügste Mann, den ich kenne«, sagte sie und fügte schnell hinzu, »außer dir natürlich.«

Der Vater lachte. »Ja, er ist ein kluger Kopf. Das kann man nicht bestreiten, auch wenn ich einige seiner Ansichten nicht teilen kann.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie.

»Diese seltsamen, französischen Ansichten, die er propagiert. Dass es in Zukunft dem gemeinen Mann obliegen wird, die Geschicke eines Landes zu lenken und nicht den Fürsten oder Königen.«

»Aber müsste nicht gerade Hamburg, vor allen anderen Städten, diesen Ideen aufgeschlossen gegenüberstehen? Schließlich sind wir seit Jahrhunderten eine freie Hansestadt, die ohne die Weisheit dieser Herren auskommt.«

Cornelsen sah sie überrascht an. »Du erstaunst mich immer wieder, mein liebes Kind. Was für ernsthafte Gedanken in deinem hübschen Köpfchen herumspuken!«

»Aber es stimmt doch, Vater. Hamburg wird seit Jahrhunderten von einfachen Kaufleuten regiert und trotzdem sind wir eine blühende Metropole.«

»Du vergisst dabei, dass diese einfachen Kaufleute, wie du sie nennst, weise Ratsherren und hohe Würdenträger sind, die ihre Aufgabe mit Umsicht und Geschick erfüllen.«

»Dennoch sind sie dem gemeinen Manne näher als dem Adel. Wozu also brauchen wir Monarchen, wenn wir auch ohne sie recht gut bestehen?«

Cornelsen lachte. »Lassen wir es gut sein, mein liebes Kind. Ich bin sehr stolz darauf, dass du dir so eifrig deine eigenen Gedanken machst. Aber ein junges Fräulein wie du kann diese Dinge nicht verstehen … Außerdem gibt es da noch eine andere Sache, über die ich mit dir reden muss.«

Er machte eine kleine Pause. Diese Nachricht schien ihm nicht so glatt und so gefällig über die Lippen zu kommen.

»Ich hatte heute ein kurzes, aber sehr bedeutsames Gespräch mit Herrn Rapier. Wie du dir denken kannst, ging es dabei um dich und deine Zukunft. Deshalb habe ich ihn morgen Abend zum Essen eingeladen. Ich glaube, er wird bei dieser Gelegenheit um deine Hand anhalten.«

Elisabeth erstarrte. Ihre heitere Laune war mit einem Schlag verflogen. Es war, als hätte jemand einen Eimer kalten Wassers über sie geleert.

»Er … er wird was?«, fragte sie entsetzt.

Herr Rapier war der Compagnon ihres Vaters und hatte die Familie in den vergangenen Monaten des Öfteren besucht. Sie bemühte sich, stets höflich und respektvoll zu ihm zu sein, aber in Wahrheit war ihr der Mann zutiefst zuwider. Sie ekelte sich vor den Berührungen seiner Hand, die so freundschaftlich und zuvorkommend erschienen und doch von einer anderen, niederen Absicht sprachen.

Cornelsen, dem das Unbehagen seiner Tochter sehr zu Herzen ging, seufzte. »Ach, Elisabeth, wenn es dem lieben Gott gefallen hätte, dir ein gesundes Augenpaar zu schenken, hätte ich keine Sorgen um die kommende Zeit. Die Verehrer würden dich umschwärmen, geradeso wie es deine Freunde, die Bienen, tun. Glaube mir, du hättest freie Wahl. Mit jedem guten, ehrlichen Mann wäre ich einverstanden gewesen. Aber leider hat unser Schöpfer es anders bestimmt … und so schön du auch bist, mein Liebelein, die meisten Männer werden davor zurückschrecken, einer Blinden den Hof zu machen.«

»Das weiß ich wohl, Vater«, sagte sie. »Aber warum muss es denn gerade Herr Rapier sein?«

»Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und steht bei allen, die ihn kennen, in hohem Ansehen. Außerdem ist er noch jung genug, um jahrelang für dich zu sorgen … und er hat wiederholt sein Interesse an einer Verbindung mit dir bekundet. Ich finde, er ist eine sehr gute Wahl. Die Beste, die du unter diesen Umständen treffen kannst.«

Elisabeth schauderte. Sie wollte ganz gewiss keine Verbindung mit Herrn Rapier eingehen. Weder in der Kirche, vor Gott und der Welt, noch daheim im Schlafgemach. Schon der Gedanke an die Nacht, die der Hochzeit folgen würde, war ihr unerträglich.

»Ich … ich will ihn nicht«, sagte sie leise. »Es ekelt mich vor ihm.«

Der Vater nickte verständnisvoll. »Glaub mir, das ist nur eine dumme, mädchenhafte Unsicherheit, Elisabeth. Aber wenn du auf mich hörst, wirst du schon bald erkennen, dass deine Befürchtungen unbegründet waren.« Er küsste sie auf die Stirn. »Es wird sich alles zum Guten wenden. Ganz so, wie es dein Vater vorausgesehen hat.«

Adam saß auf einer niedrigen Fleetmauer und wartete geduldig darauf, dass das Waschhaus auf der anderen Straßenseite schloss.

Zu dieser Stunde waren nicht mehr viele Menschen unterwegs. Die Familien hatten sich in den Häusern zum Abendessen niedergelassen und der Geruch von gebratenem Fisch, Kohlsuppe und Eintopf mischte sich mit dem fauligen Gestank der Kanäle. An der Ecke grub ein Hund seine Schnauze in die Abfälle.

Adam streckte sich. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was er hier verloren hatte, und ebenso oft gab er sich die gleiche Antwort. Er wollte die junge Frau wiedersehen.

Die Frage, warum er sie wiedertreffen wollte, war dagegen nicht so einfach zu beantworten. War es die Art gewesen, wie sie auf Jaspers Spielchen reagiert hatte? Die Mischung aus Trotz und Stolz, mit der sie ihnen die kalte Schulter und mehr gezeigt hatte? Adam wusste es nicht genau, aber das schmälerte nicht sein Verlangen, das kleine Biest wiederzusehen.

Die Lampen in den Fenstern waren schon früh angezündet worden, und die Dämmerung legte ein fast herbstliches Licht in die Straßen. Adam hatte das Waschhausgebäude so lange beobachtet, dass er schon beinahe glaubte, die hohen, schmalen Türen würden sich niemals öffnen. Doch dann schwang einer der Türflügel nach außen auf und eine Gruppe schweigsamer Frauen kam die Stufen herab. Einige blieben stehen, um sich wärmende Tücher über die Schultern zu legen, bevor sie wie Schlafwandlerinnen in der Dunkelheit verschwanden.

Adams Hoffnungen, seine schöne, namenlose Wäscherin wiederzusehen schwanden bereits, als sie plötzlich aus dem Waschhaus trat. In der einen Hand hielt sie eine kleine Tabakspfeife, in der anderen ein brennendes Hölzchen. Die Flamme mit der Hand beschützend, entzündete sie den Tabak, nahm einen Zug und ließ den Rauch langsam in die Abendluft aufsteigen.

Einen Moment lang wusste Adam nicht, was er tun oder sagen sollte, doch dann nahm er seinen Mut zusammen und sprach sie an.

»Guten Abend, Wäscherin.«

Marie sah zu ihm hinüber. Als sie ihn erkannte, nahm ihr Gesicht einen neugierigen Zug an. »Hast du etwa den ganzen Tag auf mich gewartet?«, fragte sie.

»Nur eine knappe Stunde.« Adam ließ sich von der Fleetmauer herunter. »Aber es hat mir nichts ausgemacht. Ich wollte dich wiedersehen.«

Sie nahm noch einen Zug. »Ich denke, du hast schon genug von mir gesehen«, meinte sie in Anspielung auf ihre letzte Begegnung.

»Ach, so genau hab ich gar nicht hingeschaut.« Adam strich sich unbeholfen durch die Haare.

Ohne es zu wollen, musste Marie lächeln. Er war ein hübscher Bursche, fand sie, und die Verlegenheit machte ihn noch anziehender.

Adam sah sie von der Seite her an. Ein bewundernder Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

Schließlich wurde es Marie zu viel. »Warum grinst du so blöde?«, fragte sie.

Er hob die Schultern. »Ich hab eben gute Laune.«

»Aha.« Sie nickte ihm zu. »Hast du auch einen Namen?«

»Adam … Und du?«

Sie stellte sich dumm. »Und ich was?«

»Dein Name. Wie heißt du?«

Ohne zu antworten, wandte Marie sich um. Sie glaubte, Catharina unter den näherkommenden Frauen ausgemacht zu haben. Die Vorstellung, Gegenstand des Klatsches zu werden, wollte ihr nicht gefallen. »Komm, gehen wir ein Stück weiter«, drängte sie ihn.

Schweigsam spazierten sie durch die abendlichen Gassen.

Marie legte ihre Hände an die Schultern.

»Du frierst«, sagte Adam. Es war mehr Feststellung als Frage.

»Das würdest du auch, wenn du aus der Hitze kämst.«

Adam sah sich um und blickte schließlich nach oben. Über der Straße hingen Hemden, Unterhosen und andere Kleidungsstücke auf einer Leine, die zwischen den Häusern gespannt war. Ohne zu zögern, ging er zu einem der Gebäude hinüber. Dort setzte er einen Fuß auf einen Mauervorsprung, hielt sich mit der Hand an einem Sims fest und kletterte ein Stück weit hinauf.

Marie beobachtete ihn erst mit Überraschung, dann mit Bewunderung.

Adam kletterte weiter, bis er mit einer freien Hand die Leine erreichen konnte. Mit ein paar geschickten Bewegungen zog er das Wäschestück, auf das er es abgesehen hatte, zu sich heran. Dann kletterte er hinab, erreichte den Boden und lief zu ihr hinüber.

»Sie ist ganz trocken«, sagte er und legte die Decke sanft um ihre Schultern.

Einen Moment lang zögerte Marie, dann zog sie die Decke fest um sich. »Das ist schön warm.« Sie blickte hinauf, zu den geschlossenen Fenstern, in denen schwach das Lampenlicht flackerte. Niemand schien den Raub bemerkt zu haben. »Lass uns gehen.«

Leise lachend liefen sie zur nächsten Seitenstraße und bogen um die Ecke. Wie zuvor spazierten sie nebeneinander her und doch hatte sich etwas verändert.

Irgendwann begann Adam zu erzählen. Von sich, seinem Vater und seinem Leben mit der Diebesbande. Von all dem berichtete er ihr und war dabei so ehrlich, dass es ihn selbst überraschte.

Schließlich blieb Marie stehen.

Adam, der den Weg ganz ihr überlassen hatte, sah sich um. »Warum hältst du an?«, fragte er.

»Weil ich hier zuhause bin«, war die Antwort.

Er blickte an dem Gebäude empor. Es war eines jener Mietshäuser, in denen eine ärmliche Kammer neben der anderen lag. Rattenlöcher oder Pesthöhlen nannten die Jungen sie. Aber nun, da er wusste, dass sie in einem dieser Häuser wohnte, schämte sich Adam, derartige Namen benutzt zu haben.

Marie erriet seine Gedanken und nickte. »Ja, es ist genauso scheußlich, wie es aussieht«, meinte sie.

Adam suchte in ihrem Gesicht nach einem Zeichen, was er tun oder sagen sollte. Die Vorsicht, mit der er ihr begegnete, erstaunte ihn selbst. Er wollte sie küssen, sie in ihre Kammer begleiten und sich an ihrem Körper erfreuen. Doch gleichzeitig erkannte er, dass seine eigenen Wünsche unwichtig waren. Viel stärker war sein Verlangen, ihre Wünsche zu erfüllen. Er wollte, was sie wollte … Aber was wollte sie?

»Du … du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du heißt.«

»Wer weiß, ob du es je erfährst.« Sie lächelte und blickte ihn mit gespielter Grausamkeit an. »Stell dir vor, ich würde mir eine andere Arbeit suchen und in einem anderen Haus wohnen. Wir würden uns vielleicht niemals wiedersehen … Manchmal ist das Leben so.«

»Das wäre schrecklich.« In seiner Stimme lag echte Angst.

Sie stieg die kleinen Stufen zur Tür hinauf. »Aber … vielleicht treffen wir uns schon morgen wieder. Wenn du willst.«

Adam atmete erleichtert auf. »Wo? Wann?«

»Nach der Arbeit. Eine halbe Stunde später. An der Holzbrücke.«

»Ich bin da«, rief er. »Ich warte auf dich.«

Schon war sie halb im Haus verschwunden. Dann drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Marie«, sagte sie.

Es dauerte einen Moment, dann begriff er und wiederholte liebevoll ihren Namen. »Marie.«

Sie lächelte und schloss die Tür.

1842. Der große Brand von Hamburg

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