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Von Hiddensee nach Hamburg

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Der Entschluss, Seemann zu werden, war nicht lange vorher geplant. Die Entscheidung kam fast plötzlich, denn mit dem nahenden Ende der Schulzeit, stand natürlich die Frage des beruflichen Weges unabwendbar vor mir. Es war vielleicht Ende Juni 1948. Ich besuchte die Grundschule am Frankenwall in Stralsund, die heute den Namen „Gerhart Hauptmann“ trägt, die ich im März des selben Jahres bezog, damit ich, wie meine Mutter richtig meinte, ein Abschlusszeugnis von einer ordentlichen Schule bekäme anstelle eines der Dorfschule in Kloster auf Hiddensee, die ich seit dem Beginn des Jahres 1945 mit einigen Unterbrechungen besucht hatte. Wir wohnten auf Hiddensee, nachdem wir wegen möglicher Bombenangriffe als kinderreiche Familie aus Stralsund auf das Land evakuiert wurden und bei den Großeltern im Pfarrhaus auf Hiddensee Zuflucht fanden. Großvater bekleidete dort seit 1903 das Pfarramt auf der Insel und war zu der Zeit noch im Amt, so dass wir die oberen Räume im seinem Pfarrhaus bewohnen konnten.

So wohnte meine Mutter seit dem Sommer 1943 mit ihren fünf Kindern bei den Großeltern in Kloster. Mein Vater, ein Stralsunder Tischlermeister, war seit dieser Zeit eingezogen worden und erschien hin und wieder auf Urlaub. Seit dem Herbst 1943 war ich Schüler des Stralsunder Gymnasiums, das ebenfalls ausgelagert wurde und im Gebäude des ehemaligen Pädagogikums in Putbus auf Rügen eine vorübergehende Heimstatt gefunden hatte. Wir Schüler waren auf einzelne Familien verteilt. Ich lebte mit einigen Kameraden in der kleinen Pension Schütt in Lauterbach am Greifswalder Bodden.

Alle vierzehn Tage fuhr ich nach Hause, nach Hiddensee. Ich packte jedes Mal alles, was ich besaß in einen großen Koffer. So konnte ich nichts vergessen und hatte meine Schulbücher stets bei mir. Mit diesem für meine Größe als Zehnjährigem überdimensionalen Reisebehältnis machte ich mich auf den Weg. Ich war nicht in der Lage, diesen Koffer vom Boden zu heben, ohne den Arm anzuwinkeln. So trug ich, nein, ich schleppte den Koffer mit Hilfe eines Riemens über der anderen Schulter, legte mich dann so weit auf die Seite, bis sich der Koffer vom Boden abhob. So war ich denn alle vierzehn Tage von Sonnabend früh bis Montagabend unterwegs. Dass unter solchen Bedingungen schulische Erfolge weitgehend ausblieben, braucht nicht erläutert zu werden.

Nach den Weihnachtsferien 1944 wurde uns mitgeteilt, dass die Schüler des Stralsunder Gymnasiums bis auf weiteres nicht mehr in die Schule zu gehen brauchen. Man wolle erst einmal die weitere militärische Entwicklung abwarten. Um nicht ganz ohne Schule meine Zeit zu verbringen, ging ich wieder zu Lehrer Berg in die Schule. Weder bei den Schülern noch bei Lehrer Berg kam so eine rechte Lust zum Schulehalten auf. Pfeife rauchend lief er ständig gedankenschwer vor der Tafel hin und her, bis er nach einer längeren Pause sagte: „Diesen Krieg haben wir verloren.“ Als Soldat im ersten Weltkrieg hatte er das schon einmal erlebt. Nun sah er als alter Mann sorgenvoll einem zweiten Desaster entgegen. Solche Töne waren zu dieser Zeit noch ungewohnt und auch nicht erwünscht, ja, genauer gesagt, verboten.

So nach und nach füllte sich der Klassenraum in Kloster. Immer mehr Flüchtlinge kamen auf die Insel, zunächst aus Ostpreußen, dann aus Hinterpommern. Die meisten wurden in den leerstehenden Sommerhäusern notdürftig untergebracht. Später kamen dann noch die Sudetendeutschen zu uns. Viele zogen bald weiter, aber viele von ihnen sind auf der Insel geblieben und haben dort eine neue Heimat gefunden.

Angesichts der zurückliegenden schwierigen und unerfreulichen Schulzeit hatte ich keine Lust, weiter die Schulbank zu drücken. Mich zog es in die praktische Welt, in der nun ein geeigneter Beruf zu finden wäre. Aber da taten sich Schwierigkeiten auf, denn eine Lehrstelle war nicht zu finden. Da war nun guter Rat teuer. Doch der fand sich bald bei dem alten Kapitän Heyden, der mit seiner Tochter in Kloster wohnte und freundschaftlichen Umgang mit meiner Mutter pflegte. Er hatte zwei Enkel, die auch Seeleute waren, und der eine konnte berichten, dass es in Hamburg möglich sei, auf einem Schiff als Schiffsjunge anzuheuern, um die seemännische Laufbahn einzuschlagen, deren krönender Abschluss die Ausbildung zum Kapitän wäre. Das hörte sich natürlich gut an, und welcher Junge würde nicht gern mit einem Schiff in die weite Welt hinausfahren. Da sich ohnehin keine Alternative anbot, sagte ich freudig zu, und auch Mutter war glücklich, mich auf solche Weise auf den beruflichen Weg bringen zu können, der zudem so freundlich begleitet werden würde. Doch so einfach ging das nun auch nicht, wie sich das anhörte. Hamburg lag in der britischen Besatzungszone und war so ohne weiteres nicht zu erreichen. Zwar gab es immer noch die Möglichkeit, mehr oder weniger legal über die Zonengrenze zu gehen, was sehr mühsam war, weil es keine reguläre Eisenbahnverbindung für den zivilen Personenverkehr mehr gab. Man musste sich schon zu Fuß von der letzten Bahnstation vor der „grünen Grenze“ auf den Weg nach „drüben“ machen.

Doch soweit war es noch nicht. Die Schulzeit war ja noch nicht zu Ende. Immerhin wurden so nach und nach die nötigen Vorbereitungen getroffen. Kapitän Heyden gab da fachkundigen Rat, was die Aussteuer eines Seemannes betraf und machte auch auf die gesundheitlichen Voraussetzungen aufmerksam, an denen schon mancher Jüngling auf seinem Weg zur See gescheitert war. Wichtig für einen Seemann war das Sehvermögen. Er durfte keine Brille tragen und musste absolut farbentüchtig sein. So schickte mich Mutter in Stralsund zum Augenarzt, bei dem ich mich mit dem Anliegen vorstellte, ich wolle Kapitän werden, und er möge meine Augen prüfen. „Willst du nicht erst einmal Steuermann werden?“ fragte mich sogleich der Arzt. Ich nickte, und er attestierte mir einwandfreies Sehvermögen. Die Beratungen durch Kapitän Heyden wurden intensiver, die gegenseitigen Besuche häufiger, und immer wieder erzählte der alte Fahrensmann neue Geschichten aus dem Leben der Seeleute, wobei seine blauen Augen der Gegenwart entrückt in die Ferne blickten. Aber dabei blieb es nicht. Ich sollte Kapitän Schulz in Stralsund besuchen. Er residierte in der Hafenstraße und versah dort das Amt eines Prüfers für die nautischen Geräte. Da erfuhr ich, wie ein Kompass funktioniert, wie er kompensiert wird, wie man mit dem Sextanten umgeht und wie ein Barometer geeicht wird. Dann sah er mich ein wenig fragend an und meinte; „Ob du wohl seekrank wirst? Eigentlich machst du nicht so den Eindruck“, und ich lachte ihn unbefangen an, obwohl ich darum wusste und eigentlich meiner Seefestigkeit nicht sicher war. Aber ich schob solche Bedenken einfach beiseite, denn man sagte mir auch, dass sie nur in der Anfangszeit auftreten würde und man sich nach etwa einem halben Jahr daran gewöhnt hätte. So stellte ich mir immer wieder vor, auf den schwankenden Planken zu stehen, scheute mich aber auf dem Rummelplatz in ein Karussell zu steigen, das geschwinde über Berg und Tal fuhr. Ich hatte Sorge, mir würde übel werden und meinen Elan für die Seefahrt zunichte machen. Schließlich konnte ich nicht ein halbes Jahr Karussell fahren, um mich daran zu gewöhnen. So ließ ich lieber alles auf mich zukommen. Es wird sich schon alles einrichten.

Am 30. Juni 1948 kam dann die Währungsreform in den Westzonen, und die Ostzone zog mit einer eigenen Währung dagegen, indem quasi über Nacht ebenfalls alle Reichsmarkguthaben im Verhältnis 10 zu 1 abgewertet wurden. Die neue Währung wurde mit Kupons, die auf die alten Scheine geklebt wurden, notdürftig hergestellt. Auch unsere Lehrer mussten nachts Kupons kleben, damit am nächsten Tage die ersten Geldscheine verfügbar waren. Im Gefolge dieser Reformen wurden die Zonengrenzen der Ostzone zu den westlichen Zonen hermetisch geschlossen, wie es damals hieß. Es schien also nicht mehr möglich zu sein, nach „drüben“ zu kommen. Doch so unüberwindlich stellte sich dann die Grenze doch nicht heraus. Es gab immer wieder Berichte von erfolgreichen Grenzüberschreitungen. Mutter horchte überall herum, wo denn wohl die durchlässigste Stelle sei, und entschloss sich, es im Harz zu versuchen.

So machten sie sich mit mir und meiner zwei Jahre jüngeren Schwester auf den Weg nach Süden. Ihr Ziel war Ilsenburg, denn von dort sollte es zu Fuß noch möglich sein, nach Bad Harzburg auf der westlichen Seite durchzukommen. Ilsenburg machte einen friedlichen Eindruck. Viele Urlauber bevölkerten die Gegend, und Mutter erkundigte sich unbefangen nach dem Weg zur Grenze, ohne daran zu denken, womöglich an einen Falschen geraten zu können. Ein Wanderer, dem sie freudig von dem Vorhaben berichtete, mich zur See zu schicken, winkte nur ab und sagte: „Ich bin zur See gefahren, da kriegen mich keine zehn Pferde mehr hin!“ Das klang nicht sehr ermutigend, aber die auf Hiddensee vermittelten Vorstellungen erwiesen sich doch stärker. Entmutigen ließ ich mich nicht.

Auf einsamer werdenden Waldwegen wanderten wir schließlich allein der Grenze entgegen. Niemand begegnete uns, den man nach dem Weg hätte fragen können, aber auch keine Grenzer, die uns aufgegriffen hätten. Nach einer kleinen Rast im Gebüsch erreichten wir einen Abhang, der völlig kahl geschlagen war. Rechts lugte um einen Vorsprung ein Wachturm hervor. Am Fuße des Hanges floss ein kleiner Bach. Das musste die Ilse sein, die Grenze. Kurz entschlossen rannten wir den Hang hinunter, sprangen über den Bach und fühlten uns sogleich in Sicherheit. Es dauerte auch nicht lange, als ein Grenzer von der anderen Seite kam und unsere Ausweise kontrollierte. Er wies uns dann den Weg nach Bad Harzburg, wo wir uns auf der Aussiedlerstelle melden sollten. Erleichtert schritten wir frohgemut Bad Harzburg entgegen, wo man uns mit einer Fahrkarte nach Neumünster versah, denn dort wohnten Mutters Eltern, die aus Breslau zu den Schwiegereltern ihren jüngeren Tochter geflohen waren. Dort bekamen wir nun auch gleich die Auswirkungen der Währungsreform zu wissen, denn mit dem Tage der neuen Währung gab es eigentlich alles zu kaufen, was vorher nicht zu bekommen war. So erzählte Großmutter, dass sie den Großhändler, der in einem Lagergebäude auf dem Hof ständig Waren aller Art einlagerte, vergeblich gebeten hatte, er möge ihr doch einen Kochtopf verkaufen, den sie so dringend benötigte. Die Waren waren also schon ein Jahr vorher vorrätig und wurden in Erwartung der Währungsumstellung zurückgehalten, obwohl man offiziell davon gar nichts wusste. Die neue Währung kam für die meisten nämlich völlig überraschend. Doch nun fehlte das Geld. Jeder bekam 40 Mark Kopfgeld, und im Übrigen wurden alle Guthaben im Verhältnis 10 zu 1 abgewertet. Lediglich die Lebensmittelversorgung hatte sich nicht geändert. Die Nahrungsmittel blieben weiterhin bewirtschaftet und konnten nach wie vor nur auf Lebensmittelkarten bezogen werden.

Mutter hielt sich nicht lange in Neumünster auf. Bereits am nächsten Tag fuhren wir nach Hamburg, um mich zur See zu schicken, denn mehr als für mich war das für sie ein großes Ereignis, dem sie entgegenfieberte. Wir fuhren nach Altona und fragten uns zum Heuerbüro durch. Dort saßen einige Männer, die auf ein Schiff warteten. Wir setzten uns dazu; der Heuerbaas führte gerade ein Gespräch mit einem jungen Mann aus Bayern, dem er klarmachte, dass ein Schiff kein Bauernhof sei, und er doch lieber zu Hause bleiben solle. Im Hintergrund hörte ich dann das Wort „Mutti“. Zweifellos war das auf uns bezogen, und es war mir außerordentlich peinlich, denn Seefahrt war ja schließlich Männersache. Aber daran war nun nichts zu ändern.


Als Schiffsjunge 1948 zur See – Seekrank auf bewegten Meeren


Seekrank auf bewegten Meeren – Schiffsjunge 1948-50

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