Читать книгу E-Fam Exodus - Arno Endler - Страница 5
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ОглавлениеIch spielte auf Zeit, stellte zahlreiche Nachfragen, sah mir einige Kunden der POETS länger an, als wolle ich mich davon überzeugen, dass keine Bodysuits im Einsatz waren. Mir war klar, dass ich Kore Gangnes so nicht finden würde.
Peabloid verkörperte Zuversicht und zugleich Verachtung meiner Person. Er lauschte immer wieder seiner Stimme im Ohr, geleitete mich von Baum zu Baum, bis er schließlich stoppte. »So, Bürger Mayer. Zufrieden?«
Ich sah mich um. Die Landschaft wirkte endlos, bis zum Horizont erstreckten sich die regelmäßig aufragenden Poetrees, doch kein Mensch saß an den Stämmen. »Das ist die virtuelle Darstellung?«, vergewisserte ich mich.
»Korrekt, Privatermittler Mayer«, entgegnete Peabloid unhöflich. »Es ist die Wand. Sie haben beide Bereiche gesehen und inspiziert. Hier endet die Tour. Weder im Poeten- noch im Journale-Bereich ist der Gesuchte zu finden. Kein Grund, die Capcops zu rufen, kein Grund, Ihren Aufenthalt zu verlängern. Ich muss Sie daher bitten ...«
»Bürger Mayer?«, hörte ich eine Stimme in meinem Ohr.
»Otto!«, antwortete ich subvokal und zutiefst erleichtert. »Das hat lange gedauert.«
»Stets zu Diensten, Bürger Mayer. Ich würde vorschlagen, Sie begeben sich acht Schritte von Ihrer derzeitigen Position nach links, dann zu der OLED-Wand und tasten sich vor.«
Ich fragte nicht, weshalb, war nur froh, dass ich endlich Unterstützung hatte, und folgte den Anweisungen.
»Hey!«, rief Peabloid. »Was tun Sie da?«
Ich ignorierte ihn, nahm Ottos Richtungskorrekturen auf und berührte die Wand mit den organischen Lichterzeugern.
»Weiter linke Richtung. Es sind nur wenige Zentimeter«, behauptete Otto.
Meine Hand griff plötzlich ins Leere, glitt in die Landschaft hinein und verschwand direkt vor mir. »Ist doch nicht das Ende?«, fragte ich und hoffte, dass Peabloid den Sarkasmus heraushörte.
»Stopp!«, brüllte er mich an. »Sie dürfen diesen Bereich nicht betreten. Der Sicherheitsdienst ist informiert.«
Ich tippte mir ans linke Ohr und lächelte ihn an. »Hier erklärt mir gerade mein E-Fam, dass POETS PLC einen weiteren Service anbietet. Einen, der unter Umständen hart am Rande der Legalität verläuft, nicht wahr?«
»Ihr E-Fam?«, stammelte der POETS-Angestellte. »Das ist unmöglich.«
»Otto?«, fragte ich halblaut, zog meine Hand wieder aus dem 3-D-Hologramm zurück, das einen Durchgang verbarg. »Könntest du kurz Bürger Peabloid einen Beweis für deine Existenz liefern?«
Der elektronische Famulus musste nicht lange überlegen. Ich schmunzelte, als dunkle Wolken im Bilderzeuger der Wand auftauchten, daraus zuckten Blitze hervor und dazu simulierte Otto prasselnde Regenschauer. Zu allem Überfluss nutzte er wohl auch noch versteckte Lautsprecher und übertrug die entsprechenden Geräusche eines Sommergewitters. Er liebte das Drama und spielte auf der vollen Klaviatur.
Dutzende dunkler Punkte tauchten am virtuellen Horizont auf, wurden rasch größer.
Peabloids Augen weiteten sich. Er keuchte.
Otto ließ Drachen auf uns zufliegen. Je näher sie kamen, umso kräftiger und deutlicher traten Farben und die extravaganten Accessoires der Fabeltiere hervor.
Ich ging davon aus, dass auch der POETS-Angestellte noch nie einen rosafarbenen Drachen mit einem geteilten Schwanz, einem Einhorn auf der Stirn und acht wirklich mächtigen Brüsten gesehen hatte, der den Walkürenritt von Wagner schmetterte.
»Genug«, rief ich und hob die Hand.
Die Landschaft kehrte abrupt zur alten Ruhe zurück. Schimmernde Poetrees, eine goldfarbene Sonne und einige weiße Schäfchenwolken am blauen virtuellen Himmel. »Pfeifen Sie Ihre Wachleute zurück, Bürger Peabloid. Mir ist egal, welche krummen Geschäfte Sie hier machen. Ich will nur Gangnes aufspüren, ihn befragen. Dann bin ich weg. Verstanden?«
Peabloid musste sich einen längeren Vortrag anhören, nickte einige Male sogar, während er lauschte. »Nun gut. Die Geschäftsleitung hat Ihrem E-Fam eine Geheimhaltungsvereinbarung zukommen lassen, die er in Ihrem Namen akzeptiert hat. Ich bin befugt, Sie in den S-Bereich zu begleiten.«
Ich sparte mir die Frage, was der Buchstabe S in diesem Zusammenhang bedeutete. Secret oder super oder sonderbar, mir war es egal.
»Es ist ein Durchgang mit einem holografischen Projektor, Bürger Mayer«, erklärte der POETS-Mitarbeiter nun wieder höflich. Er kam auf mich zu. »Folgen Sie mir bitte.« Er tauchte in die Landschaft ein und verschwand.
Ich tat es ihm gleich, bekämpfte das mulmige Gefühl mit Zuversicht. Für einen Moment wurde es nachtschwarz, dann war ich hindurch und mich erwartete eine Überraschung.
Sanftes Vogelgezwitscher, das leise Rauschen blättergeschmückter Baumwipfel, ein dunkler Himmel und die Illusion eines weichen Waldbodens unter meinen Schuhen war nun wirklich nichts, was ich vermutet hätte. Ich stand zusammen mit Bürger Peabloid in einem Wald. Zwischen einigen deutlich als Poetrees erkennbaren künstlichen Pflanzen hatten die Landschaftsdesigner der PLC echt wirkende Attrappen eines gemischten Urwaldes gesetzt. Der Boden bestand aus einer Mischung von Kunstmoos, Gras und einem Labyrinth aus kiesbedeckten Gehwegen.
»Ich bringe Sie zu Bürger Gangnes«, riss mich Peabloid aus meinen Gedanken.
»Er ist hier? Sie geben es zu?«
»Ja, Bürger Mayer. Kommen Sie. Und bitte verhalten Sie sich ruhig. Unsere Kunden wollen nicht gestört werden.« Peabloid betrat einen Kiesweg und marschierte gemessenen Schrittes los. Es knirschte leise unter seinen Sohlen. Der Kies schien echt zu sein.
Während ich mit einigen raumgreifenden Schritten zu ihm aufschloss, sah ich an einem Poetree eine ausgemergelte Gestalt lehnen. »Der Mann braucht Hilfe«, entfuhr es mir unwillkürlich.
»Leise!«, fuhr mich Peabloid an. »Und nein«, flüsterte er als Antwort auf meine Bemerkung, »er ist genau da, wo er sein möchte. Er ist ein Suizidaler.«
»Otto?«, erkundigte ich mich subvokal, da Peabloid keine Anstalten machte, ausführlicher zu erklären.
»Es ist der zweite, durchaus lukrativere Geschäftsbereich von POETS PLC, Bürger Mayer«, berichtete der E-Fam. »Die Firma bietet einen Service für Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen.«
»Es gibt aktive Sterbehilfe«, widersprach ich. »Jeder kann die Leistung in Anspruch nehmen, Otto.«
»Wenn er älter ist als siebzig oder schwerstkrank, nach eingehender psychologischer Untersuchung. Nicht jeder möchte sich diesem Prozedere unterziehen.« Otto legte eine Kunstpause ein, bevor er weitersprach. »Im Übrigen ist die Sterbehilfe teuer. Nicht jeder kann sie sich leisten. Es sieht so aus, als biete POETS PLC eine deutlich günstigere und weniger aufwändige Dienstleistung an.«
»Sie töten Menschen?«
»Wir helfen ihnen, Bürger Mayer«, wies mich Peabloid energisch zurecht. Offenbar hatte ich den letzten Satz laut gesprochen. »Es sind Suizidale. Sie bitten um Hilfe. Wir tun, was ihnen die Gesetze verbieten.«
»Dennoch sterben sie.«
Bürger Peabloid blieb abrupt stehen. Er starrte mich mit müdem Gesichtsausdruck an und deutete dann auf den nächststehenden Poetree. Eine Frau saß dort, die Wangen eingefallen und faltig, die Augen geschlossen. Ihr flacher Brustkorb bewegte sich nur unmerklich. Der Stoff ihrer Hose umhüllte spindeldürre Beine. Sie war so abgemagert, als hätte sie mit einer Diät nicht aufhören können, und war nun zu schwach, um sich zu rühren.
»Das ist Kade 1024-Be-Null. In ihrem Kopf wachsen acht Tumore, die bald schon jegliche Bewegung unmöglich machen werden. Sie konnte bereits nicht mehr sprechen, erkannte keine Farben mehr und die einzige Geruchsnuance, die ihr geschädigtes Gehirn noch wiedergab, war Schwefel. Sie ist 32 und wollte sterben, durfte jedoch nicht, da es Behandlungsmethoden gegeben hätte, die ihr das Sterbehilfezentrum empfohlen hat.«
»Sie hat es abgelehnt?«
»Sie konnte es sich nicht leisten, Bürger Mayer. Unsere Gesellschaftsstruktur basiert auf der freien Interaktion von Marktteilnehmern. Vereinfacht. Es gibt für nahezu jedes Bedürfnis eines Kunden einen entsprechenden Anbieter der Leistung. Man muss es sich jedoch finanziell erlauben können. In der Mega-City Neun existiert so etwas wie ein Sozialstaat nicht. Kade 1024-Be-Null sah keinen Ausweg, wollte sich nicht halbherzigen Operationen unterziehen, die ihre Lebensqualität noch weiter eingeschränkt hätten. Also kam sie zu uns.«
»Zum Sterben.«
»Wirkt sie unglücklich? Nein! Sie spürt keine Schmerzen. Die Verbindung mit dem Poetree erlöst sie von allem. Hier flüstert der Poetree dem Kunden Geschichten direkt ins Gehirn. Unsere Klienten lauschen den Stimmen bis in den Tod hinein. Über die Filamente werden Medikamente zur Schmerzstillung übertragen und so müssen sie einfach nur warten.«
»Sie verdursten, verhungern?« Ich wusste nicht, ob ich wütend oder nur fassungslos sein sollte.
»Es ist ein schöner Tod.«
»Bürger Gangnes will sterben?«, stieß ich hervor. »Los! Ich muss mit ihm sprechen. Führen Sie mich zu ihm. Schnell!«
Es waren Dutzende. In unterschiedlichen Stadien der Dehydrierung lehnten sie an den Bäumen. Niemand tat etwas gegen das Sterben, niemand spendete Trost. Diese bitgefuckten Aasgeier von den Poeten scheffelten das Geld und überließen Bürger einfach ihrem Schicksal.
»Wie teuer?«, schleuderte ich die zornigen Worte Peabloid an den Hinterkopf.
»Wie meinen?« Er veränderte seine Schrittlänge nicht, hielt stur den Kurs auf dem Kiesweg und wandte nur leicht den Kopf, um mich aus dem Augenwinkel heraus anzuschauen.
»Was kostet es, hier sterben zu dürfen?«, präzisierte ich.
Der Weg verlief in einer scharfen Rechtskurve. Drei, vier Bäume standen zu einer Gruppe vereint. Links dahinter ein Poetree und an diesem lehnte Kore Gangnes. Mein Auftrag. Und er lebte noch.
»Sie bezahlen mit ihren Erinnerungen, Bürger Mayer. Mit nicht mehr und nicht weniger.«
»Sie sind keine Mediziner, wie können Sie es verantworten, dass die Bürger ...?« Ich beendete meine Vorwürfe. Genauso gut hätte ich mit einem simplen Sprachassistenten diskutieren können. Peabloid würde die Falschheit seines Handelns nicht einsehen.
Wir erreichten den Poetree, an dem Bürger Gangnes auf sein Ende wartete.
Ich kniete mich vor ihn, musterte das entspannt wirkende Gesicht. »Otto?«, subvokalisierte ich. »Hast du Zugriff auf seine Vitaldaten?«
»Zu meinem Bedauern, nein, Bürger Mayer. Diese Abteilung von POETS PLC ist stärker abgeschirmt. Mir gelingt es gerade so, den Videokontakt zu halten.«
»Meinst du, dass ich ihn einfach von dem Poetree trennen kann?«
»Die Datenlage ist nicht gesichert. Sie sollten Bürger Peabloid befragen. Soll ich die Abteilung drei der Capital-Crime-Einheit informieren?«
»Warte noch. Ich möchte nicht hier sein, wenn die Capcops eine Razzia abhalten.«
Ich wandte mich an den POETS-Angestellten. »Kann ich ihn ansprechen?«
Peabloid zuckte mit den Schultern. »Er wird Sie nicht hören, Bürger Mayer. Er lebt in seiner ganz eigenen Welt, die er sich selbst ausgesucht hat.«
»Wie lange dauert es bis ...?«
»Zum Tod?«, vervollständigte Peabloid meine Frage. »Nun, im Schnitt etwa vier Tage. Bürger Gangnes ist in sehr guter körperlicher Verfassung gewesen. Ich denke, es könnten bei ihm auch acht Tage werden.«
Ich bemerkte den Krampf in den Fingern meiner rechten Hand. Eine Faust, die unbedingt in Peabloids Gesicht landen wollte. Ich löste die Anspannung und versuchte es betont neutral zu formulieren. »Kann ich ihn von dem Poetree lösen?«
»Er hat einen Vertrag mit uns geschlossen, Bürger Mayer«, widersprach Peabloid und wirkte tatsächlich empört. »Es wäre gegen seinen erklärten Willen.« Er blickte hoch in den Baumwipfel. An einem der Äste glitzerte ein Kristall.
»Das habe ich nicht gefragt.« Ich stemmte mich hoch und trat näher an den hochgewachsenen Mitarbeiter der PLC heran.
Er wich gewohnheitsmäßig zurück. Seit den Seuchen in den späten 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts galt so etwas wie ein Berührverbot in der Mega-City Neun. Eine gesellschaftlich verankerte Verhaltensweise, die ich nun bewusst missachtete. Meine Hand zuckte vor und ich tippte ihm mehrfach mit dem Zeigefinger gegen die Brust. An seinen Wangen bildeten sich augenblicklich rote Hektikflecken. Er schnappte nach Luft und machte mehrere Schritte rückwärts, was ihm nichts nutzte.
Ich setzte sofort hinterher, hielt den zu kurzen Abstand. »Los jetzt! Kann ich ihn von dem bitgefuckten Baum lösen? Reden Sie schon!«
An seiner Stelle hätte ich längst den Sicherheitsdienst benachrichtigt, doch meine Unverschämtheit blockierte wohl seine Nervenbahnen. »Ja, ja. Die Filamente ziehen sich automatisch zurück, sobald der Kunde sich nach vorne bewegt. Er ist nicht gefesselt. Jetzt lassen Sie mich in Ruhe!«
Ich sah Tränen in seinen Augen, daher ließ ich von ihm ab. »Danke! Bürger!«, stieß ich wütend hervor. Ich musste mir eingestehen, dass es befriedigend gewesen war, meine Wut an Peabloid auszulassen, auch wenn er wahrscheinlich nur einen Subalternen in der Hierarchie der PLC darstellte. Ich näherte mich Gangnes, packte ihn vorsichtig an den Schultern und zog ihn zu mir heran.
Seine Augenlider flatterten nahezu augenblicklich, ein Stöhnen kämpfte sich durch die rissigen Lippen. Da war plötzlich eine dichte Geruchswolke aus Urin, Schweiß und ungewaschenen Füßen. Ich atmete nur noch durch den Mund. Bürger Gangnes wehrte sich nicht, sackte mir in die Arme. Endlich öffnete er die Augen.
»Es ist alles gut, ich bin hier, um Sie mitzunehmen«, flüsterte ich ihm zu. Gangnes kannte mich nicht. Ich sah ihm die Verwirrung an. Er versuchte zu sprechen, doch sein Mund war wohl zu trocken. Er schaffte es nicht.
»Können Sie stehen?«, fragte ich. Ohne seine Antwort abzuwarten, zerrte ich ihn hoch. Zu verwirrt, um Widerstand zu leisten, stand er bald schon auf den eigenen Beinen. Er begaffte mich, ließ es jedoch zu, dass ich mir seinen Arm um die Schulter legte und ihn mit mir zog. »Wir gehen jetzt.«
Bürger Peabloid wirkte konsterniert. Er verharrte mit verschränkten Armen auf dem Weg, ohne uns zu blockieren. »Sie können doch nicht einfach ...«
»Ich kann. Und ich werde!« Gangnes ließ sich widerspruchslos von mir führen. Schritt für Schritt schien er an Kraft zu gewinnen. Die Einschätzung Peabloids über die körperliche Verfassung des Bürgers war korrekt gewesen. Gangnes war schlank und ich spürte seine Muskulatur. Wahrscheinlich trieb er viel Sport. Mit seinen 25 Jahren war der Programmierer so fit, wie er nur sein konnte. Ich fragte mich, weshalb er überhaupt hatte sterben wollen. Und warum wehrte er sich nicht, weil ich ihn gerade daran hinderte?
Wir wurden schneller. Ich registrierte, dass die Last sich in dem Maße verringerte, wie Gangnes eigenständiger wurde. »Was tun Sie hier?«, gelang es ihm nach einigen Metern, die Worte zu formulieren.
»Ich bringe Sie hier raus«, entgegnete ich, ohne auf den Kern seiner Frage einzugehen. »Otto? Irgendwelche Hindernisse auf dem Weg? Sicherheitsleute, verschlossene Türen? Selbstschussanlagen?«
»Mit wem sprechen Sie?«, erkundigte sich Gangnes.
»Mit meinem E-Fam?«
»Ihrem ...?« Er verstummte abrupt, löste seinen Arm und blieb stehen. »Wer schickt Sie? Synnove?«
»Wer ist Synnove?«, fragte ich verwirrt. »Wir sollten übrigens dringend weiter.«
Ottos Stimme drang zu mir durch. »Sie sind sicher, Bürger Mayer. POETS PLC hat beschlossen, den Kunden aufzugeben. Niemand wird Sie aufhalten.«
Gangnes rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, knetete seine Schläfen. »Ich gehe nirgendshin. Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Mayer. John Mayer. Ich bin Privatermittler und von Cybersearch beauftragt, einen Mitarbeiter aufzuspüren, der plötzlich verschwunden ist.«
»Cybersearch?«, echote Gangnes.
»Ja. Ihr Arbeitgeber. Bürgerin Gundebar hat sich Sorgen gemacht. Sie haben sich seit einigen Tagen nicht mehr gemeldet. Um es mit ihren eigenen Worten wiederzugeben: Ihr bestes Pferd im Stall ist unerwartet abgetaucht. Sie hat angenommen, dass es mit Ihrem letzten Job zu tun hat.«
Bürger Gangnes schüttelte den Kopf. »Hat es nicht, nein.«
Er log. Ich sah es ihm so deutlich an, dass ich es beinahe herausgeschrien hätte. Doch dies war nicht Bestandteil meines Auftrags. Ich sollte ihn lediglich aufspüren und ihn Kontakt aufnehmen lassen. Daher ging ich auf die Lüge nicht ein. »Okay, verstanden. Ich schlage vor, wir verlassen diesen morbiden Ort und Sie machen sich frisch, melden sich bei Ihrer Chefin und danach können Sie tun, was auch immer Sie wollen.«
Es war offensichtlich, dass Bürger Gangnes noch nicht ganz bei sich war. Gefühlte Minuten lang starrte er mich an, ohne eine Äußerung. Er packte sich an die Stirn, presste seine Finger so fest dagegen, dass sich die braune Haut hell verfärbte.
»Ja, gut. Einverstanden. Gehen wir.«
Niemand hielt uns auf. Otto hatte nicht übertrieben. Peabloid führte uns auf dem Weg zu einem Durchgang in einen kahlen, zweckmäßigen Gang hinein. Er plapperte unkontrolliert vor sich hin, erwähnte, dass der Raum mit den Suizidalen im firmeninternen Sprachgebrauch »Erinnerungen schöpfen« genannt wurde. Er zeigte mir im Vorbeigehen eine Art Andachtsraum für die Angehörigen der Toten. Ich ignorierte ihn einfach und atmete auf, als er zurückblieb. Wir verließen das Firmengelände und überquerten den Platz. Gangnes hatte mir überflüssigerweise gesagt, wo er wohnte. Sein Apartment befand sich ganz in der Nähe meiner Wohnung. Dort hatte ich die Suche gestartet. Ich ging nicht darauf ein, sondern fragte ihn, während wir zu den Trans-Segment-Liften marschierten, nach seinen Beweggründen, obwohl sie mich nichts angingen. Aber in mir steckte ein unverbesserlicher Ermittler, dessen Neugier nie gestillt war. »Sie haben einen Job, sind jung und nicht krank. Warum wollten Sie sterben?«
Gangnes beschleunigte noch mit raumgreifenden Schritten, so dass ich kaum mithalten konnte, ohne außer Atem zu geraten. »Ich leide an schweren Depressionen, Bürger Mayer.«
»Das ist kein Grund. Dafür gibt es Medikamente.« Ich erwähnte nicht, dass ich von seiner Medikamentenpumpe wusste. Ein implantiertes chipgesteuertes Depot unterhalb seines linken Schulterblattes sorgte für eine automatische Bekämpfung der depressiven Schübe. Es war ein ziemlich modernes Verfahren, nicht billig, aber er konnte es sich leisten. Ich vermutete, dass er es abgeschaltet hatte.
»Sie wissen nicht, wie das ist«, widersprach er.
»Das mag sein.« Kaffeeduft stieg mir in die Nase. Flinalls mobile Café-Bar, mit dem Eigentümer an der Maschine, war nahe. »Einen Espresso?«, schlug ich Gangnes vor. »Der wird Sie munterer machen.«
»Nein. Danke. Ich will nur nach Hause und die Firma kontaktieren.«
»Gut.« Ich gab mich geschlagen, ignorierte die suchterzeugenden Düfte, die der Barista der Maschine entlockte.
Flinall reinigte mit geschickten Handgriffen Tassen, wurde auf uns aufmerksam und hob beide Arme in die Höhe. »Wie haben Sie das gemacht?«, rief er laut zu mir herüber.
Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte, und sagte ihm das auch. »Was gemacht?«
»Die Zahlung. Plötzlich stehen dort ganz andere Konten. Dabei ist die Anweisung einer Zahlung nicht manipulierbar.« Flinall war sichtlich aufgeregt. »Es ist, als hätte jemand anderes für Sie bezahlt.«
»Reden wir beim nächsten Mal drüber«, wiegelte ich ab. Meine Konzentration galt dem Auftrag. Gangnes wirkte zwar stabil, aber wer wusste schon, was in einem Depressiven vorging. Ich wollte den Bürger so schnell wie möglich in seiner Wohnung abliefern. Flinalls merkwürdige Hinweise würde ich später mit Otto diskutieren. Wie hatte der Famulus die Zahlung verändern können?
Gangnes strauchelte. Ich stützte ihn. »Ist nicht mehr weit bis zu den Liften«, versicherte ich ihm.
Das Apartment des Programmierers hätte einem Zwangsneurotiker gefallen. Penibel im rechten Winkel zueinander ausgerichtete Möbelstücke und kein sichtbarer Staub oder Schmutz. Auf dem Boden zog ein Saugroboter seine Bahnen, die deaktivierten Videoleinwände reinigte eine Antistatik-Vorrichtung, die an jeder der vier Wände von der Decke hing.
Ich suchte zunächst vergeblich nach einer Tür zum Bad, bis mir klar wurde, dass die Videoprojektion keineswegs ausgeschaltet war. Sie gab nur eine schmucklose Wand wieder, was bedeutete, dass die Tür zur Nasszelle nicht erkennbar war.
Ich zählte neben zwei Stühlen und einem VR-Sessel noch einen quadratischen Tisch und das Einzelbett als Mobiliar.
In einer Beziehung steckte Gangnes sicherlich nicht.
Er bot mir tatsächlich einen Platz an, durchquerte den zwanzig Quadratmeter großen Raum, und endlich zeigte sich die Tür, die er aufdrückte. Kurz darauf war ich allein im Zimmer. Bürger Gangnes blieb im Bad verschwunden.
Der kleine Saugroboter verschwand in einer bodennahen Wandöffnung. Auch die Wischanlage für die Wände stellte ihre Arbeit ein. Ich wartete geduldig, bemerkte erst nach einer Weile, wie neutral der Wohnraum roch. Weder die üblichen designten Raumerfrischer, die die Bürger der Mega-City allgegenwärtig bedufteten, noch ein erkennbarer Eigenduft ließen sich feststellen.
Bürger Gangnes kam aus dem Bad zurück. Er trug eine blassblaue Ganzkörperkombination, aus der nur seine nackten Füße, die Hände und natürlich der Kopf ragten. Die Haare waren nass, er hatte offensichtlich geduscht. Künstlicher kräftiger Apfelduft begleitete sein Erscheinen.
Er runzelte die Stirn, als er mich ansah, seufzte und ging zu dem VR-Sessel, in dem er Platz nahm. Er drehte ihn, so dass er mich direkt ansehen konnte. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen danken soll, Bürger Mayer«, meinte er.
»Es war mein Job«, erklärte ich.
»Nun, schon. Allerdings bezweifle ich, dass Sie von meinen Selbstmordabsichten wussten.« Er hob beschwichtigend die Hand, bevor ich antworten konnte. »Sie müssen sich keine Sorgen machen. Es besteht keine akute Gefahr, dass ich mir vor Ihren Augen etwas antun werde. Die pharmazeutische Pumpe ist aktiv. Mir geht es so gut, wie es jemandem mit meinem Krankheitsbild gehen kann. Also kein Grund zur Besorgnis.«
»Warum wollten Sie sich töten?«, fragte ich.
»Sie besitzen einen E-Fam?«, erwiderte er.
»Ja, sagte ich schon, obwohl besitzen ein sehr dehnbarer Begriff ist.«
»Stimmt.« Gangnes aktivierte die Bedienkonsole des VR-Sessels. Ein faustgroßer Stempel hob sich aus der rechten Seitenlehne. Der Programmierer umfasste ihn, indem er die Finger in einer vielgeübten Bewegung um den Griff legte. Man sah kaum ein Muskelzucken, als er eine der Wände zu einem Kontaktmonitor umwandelte. Ich sah das Rufsignal und die Adresse, an die der Anruf erfolgte. Es war seine Firma Cybersearch, die Gangnes kontaktierte. Während wir auf die Bestätigung warteten, hörte ich ihn eine Frage stellen, die ich nicht verstand, weil er so leise sprach. »Wie bitte?«, bat ich ihn, das Gesprochene zu wiederholen.
»Vertrauen Sie Ihrem E-Fam?«, fragte er fast monoton.
»Warum nicht?«
»Hört er mit?«
Ich schüttelte den Kopf und verneinte es dann noch einmal verbal, da Gangnes mich nicht ansah. »Nein. Ich bin kein High-Con. Um mit Otto zu kommunizieren, muss ich aktiv werden.«
»Otto?«, hakte Gangnes nach.
»Ja. Das ist sein Name. Warum?«
Die laute Akzeptanzfanfare unterbrach uns. Auf der Videoleinwand prangten überlebensgroß das Gesicht und der Oberkörper von Bürgerin Gundebar, der Chefin von Cybersearch. Sie lächelte nicht, lächelte nie, soweit ich das in Erfahrung hatte bringen können. Auf dem Schreibtisch, der den Rest ihres Körpers verdeckte, lagen eine ganze Armada an Speicherkristallen, eine oder zwei an Spielzeug erinnernde kleine Statuen und ein Daten-Cube.
»Kore. Banzai«, erklang ihre sehr männlich klingende Stimme. Dabei bewegten sich ihre Lippen kaum. Fast wie bei einem Bauchredner. Sie setzte sich zurück und schien erst jetzt meine Anwesenheit wahrzunehmen. Vielleicht war das Aufnahmeobjektiv auf Weitwinkel gestellt worden. »Bürger Mayer. Banzai auch Ihnen.«
»Banzai, Bürgerin Gundebar. Ich habe Ihren Mitarbeiter aufgespürt.«
»Ich sehe es.« Sie konzentrierte sich wieder auf Gangnes. »Kore? Was ist geschehen? Ich habe hier einen Kunden, der äußerst unangenehme Nachfragen stellt. Was haben deine Nachforschungen ergeben? Und warum sind die Resultate nicht in der Firmencloud gesichert worden?«
Der Programmierer schien unbeeindruckt. Er lehnte sich provokativ entspannt in die weiche Polsterung, faltete seine Hände im Schoß und schüttelte den Kopf. »Der Job, ach ja«, sinnierte er gedehnt. »Ich bin mir im Unklaren, ob ich die Ergebnisse teilen möchte.«
»Wie bitte?«, fragte die Chefin von Cybersearch gefährlich leise und beherrscht. »Wir werden nicht vertragsbrüchig, Kore. Das können wir uns nicht leisten. Nicht bei einem solchen Kunden.« Ein Seitenblick von ihr, der mich traf, entging mir nicht. »Es ist riskant, wie du weißt!«
»Du hast diesen Kunden akzeptiert. Nicht ich.« Gangnes wirkte wie ein Mann, der sich seiner Sache sicher war.
»Hat diese Frau etwas damit zu tun?«, herrschte Bürgerin Gundebar ihren Mitarbeiter befehlsgewohnt an.
Bei mir hätte der Tonfall gewirkt, bei Gangnes nicht. Er lächelte, offenbar war er sehr zufrieden. Für einen Menschen, der bis vor wenigen Stunden versucht hatte, zu sterben, schien ihm das Leben ungemein Spaß zu machen.
»Wie hieß sie gleich?«, ergänzte Gundebar. »Akorangi, nicht wahr? Was hat sie mit dem ganzen unsinnigen Verhalten zu tun, das du an den Tag gelegt hast? Du bist mein bestes Pferd im Stall. Ich will dich nicht feuern müssen.«
»Dann tu es nicht.«
»Wo warst du, verdammt nochmal?«
»Das geht dich nichts an. Entlasse mich ruhig. Aber meine Datensuche ist bereits gelöscht. Niemand wird die Ergebnisse wiederherstellen können. Und das ist auch besser so.«
Mir wurde klar, dass Gangnes nichts von seinen Selbstmordabsichten erzählen würde. Und es war nicht an mir, Bürgerin Gundebar darüber aufzuklären. Es wurde Zeit, zu gehen.
»Bürger Mayer!«, ließ mich Gundebars Stimme erstarren.
»Ja, bitte?«
»Danke für Ihre Tätigkeit. Der Kontrakt ist erfüllt, die Erfolgsprämie angewiesen. Sie verlassen jetzt den Raum. Der Rest fällt unter Firmengeheimnisse.«
Ich sah, dass Gangnes mir zunickte, und erhob mich.
Der Programmierer drehte seinen Sessel, saß nun frontal zu mir. »Denken Sie daran, Bürger Mayer. Wer verschwinden will, dem gelingt es in der Regel auch. Ich war nur nicht gut genug da- rin.« Er deutete eine Verbeugung an, die ich erwiderte.
Als die Wohnungstür ins Schloss geglitten war, atmete ich mehrfach tief ein und aus. Die Schallisolierung der Wohnung war gut. »Otto?«, subvokalisierte ich.
»Bürger Mayer?«
»Können wir dem Gespräch im Inneren beiwohnen?«
»Sie wollen lauschen? Heimlich?«
»Nein. Ja. Du weißt schon.«
»Das ist unethisch, Bürger Mayer.«
»Kannst du es oder kannst du es nicht?«, drängte ich.
»Nein. Es handelt sich um eine Home-Office-Workstation, gesichert durch ein VPN. Cybersearch achtet auf Datensicherheit. Mir sind die Hände gebunden.«
»Schade.«
»Die Erfolgsprämie ist eingegangen.«
»Dann sind wir ja endlich mal wieder flüssig. Gut so. Kann ich mir mal wieder einen Drink leisten.«
»So flüssig sind wir nicht, Bürger Mayer.«
»Spielverderber!«
»Stets zu Diensten.«
»Ich bin sowieso müde. Der Tag war lang. Ich mache Feierabend. Irgendwelche Auftragsanfragen?«
»Nein, derzeit nicht. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.«
»Danke, Otto«, sagte ich.
Der Weg zu meinem Apartment war nicht weit. Ich musste nur rund hundert Meter weiter, kam dabei sogar an meinem Büro vorbei. Otto öffnete mir die Tür zu meinem Heim, einem Zweizimmerloft mit Ausblick auf die Zentral-Mall des Sektors drei. Ein sanftes Zischen begleitete den Vorgang. Es war spät, beinahe Mitternacht. Ich hatte nicht gelogen, als ich gesagt hatte, dass es ein langer Tag gewesen sei.
Unten im funkelnden Licht hunderter LED-Werbungen tummelten sich die Massen. Es war die Mall, die niemals schlief. Konsumiert wurde immer. Von meinem Fenster aus wirkten die Menschen wie Ameisen. »Wer verschwinden will, dem gelingt es auch«, hatte Gangnes philosophiert. Weshalb nur?
Ich gähnte. Die Matratze rief.