Читать книгу Sherlock Holmes' Buch der Fälle - Arthur Conan Doyle, Исмаил Шихлы - Страница 5

Der erbleichte Soldat

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Die Ideen meines Freundes Watson sind begrenzt, aber um so hartnäckiger hält er an ihnen fest. Seit langem schon drängt er mich, eines meiner Erlebnisse einmal selbst niederzuschreiben. Womöglich habe ich diese Aufsässigkeit ein wenig provoziert, da ich schon oft Ursache hatte, ihn auf die Oberflächlichkeit seiner Darstellungen hinzuweisen und ihn dafür zu tadeln, daß er dem Massengeschmack willfahre, anstatt sich streng an Fakten und Personen zu halten. »Versuchen Sie es doch selbst, Holmes!« gab er darauf zurück, und ich muß bekennen, daß ich nun, die Feder in der Hand, doch einzusehen beginne, daß der Stoff auf eine Weise präsentiert werden muß, die das Interesse des Lesers zu wecken vermag. Diesen Zweck kann die folgende Begebenheit kaum verfehlen, da sie zu den seltsamsten Fällen meiner Sammlung zählt – auch wenn sich zufälligerweise darüber nichts in Watsons Sammlung findet. Wo ich schon von meinem alten Freund und Biographen spreche, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, um folgendes anzumerken: Wenn ich mich bei meinen vielfältigen kleinen Untersuchungen mit einem Begleiter belastet habe, so nicht etwa aus Gefühlsduselei oder aus einer Kaprice heraus, sondern weil Watson einige bemerkenswerte Eigenschaften besitzt, denen er – bescheiden, wie er ist – in seiner übertriebenen Wertschätzung meiner Leistungen bisher nur geringe Beachtung geschenkt hat. Ein Verbündeter, der einem Schlußfolgerungen und Vorgehensweise vorwegnimmt, ist immer gefährlich; aber jemand, dem jede Entwicklung stets als Überraschung daherkommt und dem die Zukunft allzeit ein versiegeltes Buch ist, stellt in der Tat einen idealen Gehilfen dar.

Meinem Notizbuch entnehme ich, daß ich im Januar 1903, just nach Beendigung des Burenkrieges24, Besuch von Mr. James M. Dodd erhielt, einem großen, frischen, sonnengebräunten und aufrechten Briten. Der gute Watson hatte mich damals um einer Gattin willen verlassen, im Lauf unserer Kameradschaft die einzige eigennützige Tat, deren ich mich entsinnen kann. Ich war allein.

Gewöhnlich sitze ich mit dem Rücken zum Fenster und plaziere meine Besucher auf den Stuhl gegenüber, wo das Licht voll auf sie fällt. Mr. James M. Dodd schien ein wenig in Verlegenheit, wie das Gespräch zu beginnen sei. Ich machte keinen Versuch, ihm zu helfen, denn sein Schweigen ließ mir mehr Zeit zur Beobachtung. Es hat sich als klug erwiesen, die Klienten mit einer Kostprobe meiner Fähigkeiten zu beeindrucken, daher teilte ich ihm einige meiner Schlußfolgerungen mit.

»Aus Südafrika, Sir, stelle ich fest.«

»Ja, Sir«, antwortete er ziemlich überrascht.

»Imperial Yeomanry25, nehme ich an.«

»Genau.«

»Middlesex Corps, ohne Zweifel.«

»So ist es. Mr. Holmes, Sie sind ja ein Hexenmeister.«

Ich lächelte über seine verblüffte Miene.

»Wenn ein kräftig wirkender Gentleman mein Zimmer betritt, mit einer Gesichtsbräune, wie sie die englische Sonne niemals erzeugen könnte, und mit dem Taschentuch im Ärmel statt in der Tasche, fällt es nicht schwer, ihn einzuordnen. Sie tragen einen kurzen Bart, was zeigt, daß Sie kein Berufssoldat waren. Sie sehen aus wie ein Reiter. Was Middlesex betrifft, so hat mir bereits Ihre Karte verraten, daß Sie ein Börsenmakler aus der Throgmorton Street sind. Welchem Regiment sollten Sie sonst angehören?«

»Sie sehen alles.«

»Ich sehe nicht mehr als Sie, aber ich habe mir angewöhnt zu Beachten, was ich sehe. Wie auch immer, Mr. Dodd, Sie sind heute morgen nicht zu mir gekommen, um die Wissenschaft der Beobachtung zu erörtern. Was ist denn in Tuxbury Old Park geschehen?«

»Mr. Holmes ...!«

»Mein lieber Sir, daran gibt es nichts Geheimnisvolles. Ihr Schreiben trug diesen Briefkopf, und da Sie die Dringlichkeit unseres Treffens betont haben, war klar, daß sich etwas Unvorhergesehenes und Bedeutsames ereignet hatte.«

»Ja, allerdings. Aber ich habe den Brief am Nachmittag geschrieben, und seitdem ist eine ganze Menge passiert. Wenn Colonel Emsworth mich nicht rausgeworfen hätte ...«

»Rausgeworfen!«

»Naja, darauf lief es jedenfalls hinaus. Er ist ein eisenharter Bursche, dieser Colonel Emsworth. Der größte Leuteschinder in der Armee seinerzeit, und damals herrschte sowieso schon ein rauher Umgangston. Wenn es nicht um Godfrey gegangen wäre, hätte ich mir das Benehmen des Colonels nicht gefallen lassen.«

Ich zündete mir meine Pfeife an und lehnte mich in den Stuhl zurück.

»Vielleicht erklären Sie mir bitte, wovon Sie sprechen.«

Mein Klient grinste verschmitzt.

»Ich war schon drauf und dran zu glauben, daß Sie alles wissen, ohne daß man Ihnen was erzählt«, sagte er. »Aber ich will Ihnen berichten, was passiert ist, und ich hoffe zu Gott, daß Sie mir sagen können, was das zu bedeuten hat. Die ganze Nacht habe ich wachgelegen und mir den Kopf zerbrochen, und je mehr ich nachdenke, um so unglaublicher wird die Geschichte.

Als ich im Januar 1901 eingerückt bin – genau vor zwei Jahren –, gehörte der junge Godfrey Emsworth bereits derselben Schwadron an. Er ist der einzige Sohn von Colonel Emsworth – Emsworth, dem Träger des Krimkrieg-Viktoria-Kreuzes26 –, er hat Kämpferblut, und so war es kein Wunder, daß er als Freiwilliger diente. Es gab im Regiment keinen feineren Burschen. Wir schlössen Freundschaft – jene Art von Freundschaft, die sich nur entwickeln kann, wenn man das gleiche Leben führt und die gleichen Freuden und Sorgen teilt. Er war mein Kamerad – und das bedeutet in der Armee eine ganze Menge. Ein Jahr lang, in dem hart gekämpft wurde, sind wir zusammen durch dick und dünn gegangen. Dann traf ihn eine Kugel aus einer Elefantenbüchse, im Gefecht bei Diamond Hill, hinter Pretoria. Ich bekam einen Brief aus dem Hospital in Kapstadt und einen aus Southampton. Seitdem kein Wort mehr – nicht ein einziges Wort, Mr. Holmes, seit über sechs Monaten, und er war doch mein bester Kumpel.

Tja, als der Krieg vorüber war und wir alle zurückkehrten, habe ich seinem Vater geschrieben und mich erkundigt, wo Godfrey sich aufhält. Keine Antwort. Ich habe ein bißchen abgewartet und dann noch mal geschrieben. Diesmal bekam ich eine Antwort, kurz und schroff. Godfrey befinde sich auf einer Weltreise und werde kaum vor einem Jahr zurück sein. Das war alles.

Mir hat das nicht genügt, Mr. Holmes. Die ganze Geschichte kam mir so verdammt unnatürlich vor. Er ist ein anständiger Kerl und würde einen Kumpel nicht einfach so fallenlassen. Das sähe ihm nicht ähnlich. Und ich wußte eben auch, daß er einmal eine Menge Geld erben wird, und außerdem, daß sein Vater und er nicht besonders gut miteinander auskämen. Der Alte sei manchmal ein Tyrann, und der junge Godfrey habe zu viel Temperament, um sich das gefallen zu lassen. Nein, mir hat das nicht genügt, und ich beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen. Es ergab sich allerdings, daß ich – nach zweijähriger Abwesenheit – noch eine Menge Ordnung in meine eigenen Angelegenheiten bringen mußte, und deshalb konnte ich mich erst diese Woche wieder mit dem Fall Godfrey beschäftigen. Aber seitdem möchte ich alles übrige liegen lassen, bis die Sache endlich ausgestanden ist.«

Mr. James M. Dodd schien zu der Sorte Mensch zu gehören, die man wohl besser zum Freund denn zum Feind hat. Seine blauen Augen blickten entschlossen, während er sprach, und seine kantigen Kiefer bissen fest aufeinander.

»Und, was haben Sie unternommen?« fragte ich.

»Mein erster Schritt war, zu ihm nach Hause zu gehen, nach Tuxbury Old Park bei Bedford, um einmal selbst das Gelände zu sondieren. Zu diesem Zweck habe ich mich schriftlich bei seiner Mutter angemeldet – von dem Bärbeißer von Vater hatte ich die Nase ziemlich voll – und machte einen sauberen Frontalangriff: Godfrey sei mein Stubengenosse, mir liege sehr viel daran, ihr von unseren gemeinsamen Erlebnissen zu erzählen, ich hielte mich gerade in der Gegend auf, ob sie etwas dagegen hätte, et cetera? Daraufhin bekam ich von ihr eine sehr liebenswürdige Antwort nebst einer Einladung, in ihrem Haus zu übernachten. Und das hat mich am Montag dorthin geführt.

Tuxbury Old Hall liegt völlig abgeschieden – fünf Meilen ringsum nirgendwo ein Ort. Am Bahnhof war kein Wagen, und so mußte ich mit meinem Koffer zu Fuß losziehen; es war schon fast dunkel, als ich ankam. Das Haus ist groß und weitläufig und es steht in einem ansehnlichen Park. Ich würde sagen, es setzt sich aus allen möglichen Epochen und Stilarten zusammen; den Grundstock bildete wohl elisabethanisches Fachwerk27, und den Abschluß ein viktorianischer Säulengang. Innen war alles holzgetäfelt; an den Wänden hingen Teppiche und schon halb verblichene alte Gemälde – ein Haus der Schatten und Geheimnisse. Es gibt da einen Butler, den alten Ralph, der ungefähr so alt zu sein scheint wie das Haus, und seine Frau, die womöglich noch älter ist. Sie war Godfreys Amme gewesen, und ich habe ihn mit einer Zuneigung von ihr sprechen hören, die nur noch von der zu seiner Mutter übertroffen wurde; deshalb fühlte ich mich zu ihr hingezogen, trotzdem sie so komisch aussah. Auch die Mutter gefiel mir – eine sanfte kleine weiße Maus von einer Frau. Nur den Colonel konnte ich nicht leiden.

Wir sind auch sofort ein bißchen aneinandergeraten, und ich wäre zurück zum Bahnhof gelaufen, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, daß ihm das gerade recht gewesen wäre. Man hat mich gleich in sein Arbeitszimmer geführt, und dort traf ich ihn an – einen riesigen Mann mit krummem Rücken, vergilbter Haut und einem zottigen grauen Bart; er saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem alles kreuz und quer lag. Eine rotgeäderte Nase ragte wie ein Geierschnabel aus dem Gesicht, und unter buschigen Augenbrauen funkelten mich zwei grimmige graue Augen an. Ich konnte nun verstehen, warum Godfrey so selten von seinem Vater gesprochen hatte.

›Nun, Sir‹, schnarrte er. ›Ich würde ganz gern die wahren Gründe für diesen Besuch erfahren.‹

Ich antwortete, daß ich die schon in meinem Brief an seine Frau dargelegt hätte.

›Ja, ja; Sie haben behauptet, daß Sie Godfrey in Afrika kennengelernt hätten. Als Beweis dafür haben wir natürlich nur Ihr Schreiben.‹

›Ich habe seine Briefe in der Tasche.‹

›Lassen Sie die doch freundlicherweise mal sehen.‹

Er warf einen flüchtigen Blick auf die beiden, die ich ihm reichte; dann warf er sie mir wieder zu.

›Also, worum geht es?‹ fragte er.

›Ich mag Ihren Sohn Godfrey gern, Sir. Viele gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen verbinden uns. Ist es denn nicht natürlich, daß ich mich über sein plötzliches Schweigen wundere und wissen will, was aus ihm geworden ist?‹

›Ich entsinne mich recht deutlich, Sir, daß wir schon einmal miteinander korrespondierten und daß ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, was aus ihm geworden ist. Er befindet sich auf einer Weltreise. Nach den Strapazen in Afrika war er in schlechter gesundheitlicher Verfassung, und sowohl seine Mutter als auch ich waren der Auffassung, daß völlige Ruhe und Ortswechsel erforderlich seien. Geben Sie freundlicherweise diese Erklärung auch an alle anderen Freunde weiter, die sich dafür womöglich interessieren.‹

›Gewiß‹, antwortete ich. ›Aber vielleicht hätten Sie noch die Güte, mir den Namen seines Dampfers und der Schiffahrtslinie nebst Abfahrtszeit anzugeben. Ich habe keinen Zweifel, daß ich dann in der Lage wäre, mit einem Brief an ihn durchzukommen.‹

Meine Bitte schien meinen Gastgeber ebenso zu verwirren wie zu ärgern. Seine großen Brauen senkten sich über die Augen, und er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. Schließlich blickte er auf mit der Miene eines Schachspielers, der einen gefährlichen Zug seines Gegners bemerkt und sich entschieden hat, wie er ihn erwidern kann.

›Manch einer, Mr. Dodd‹, sagte er, ›würde wohl Anstoß nehmen an Ihrer verteufelten Hartnäckigkeit und wäre der Meinung, dieser Starrsinn sei nichts anderes als eine verdammte Unverschämtheit.‹

›Das müssen Sie als Ausdruck meiner echten Zuneigung für Ihren Sohn sehen, Sir.‹

›Schon recht. Das habe ich Ihnen auch in hohem Maße zugute gehalten. Dennoch muß ich Sie bitten, diese Nachforschungen einzustellen. Jede Familie hat ihre ureigensten Erfahrungen und Beweggründe, die man einem Außenstehenden nicht immer erklären kann, so gut seine Absichten auch sein mögen. Meiner Frau liegt viel daran, etwas über Godfreys Vergangenheit zu erfahren; Sie können ihr gern davon erzählen, aber ich möchte Sie bitten, Gegenwart und Zukunft aus dem Spiel zu lassen. Solche Nachforschungen dienen keinem nützlichen Zweck, Sir; sie bringen uns nur in eine peinliche und schwierige Lage.‹

Damit war ich also in eine Sackgasse geraten, Mr. Holmes. Es gab kein Weiterkommen. Ich konnte nur so tun, als ob ich mich mit der Situation abfände, und innerlich ein Gelübde ablegen, daß ich erst ruhen würde, wenn sich das Schicksal meines Freundes aufgeklärt hätte. Es war ein trübseliger Abend. Wir speisten ruhig zu dritt, in einem düsteren, verblichenen alten Zimmer. Die Lady fragte mich eifrig über ihren Sohn aus, aber der Alte schien mürrisch und niedergedrückt. Die ganze Prozedur hat mich derartig gelangweilt, daß ich mich, so rasch wie mir schicklicherweise möglich war, entschuldigte und mich auf mein Zimmer zurückzog. Es war ein großer, kahler Raum im Erdgeschoß, so düster wie der Rest des Hauses, aber wenn man ein Jahr lang in der südafrikanischen Steppe geschlafen hat, Mr. Holmes, ist man nicht allzu wählerisch mit seinem Quartier. Ich zog die Vorhänge auseinander, schaute hinaus in den Garten und stellte fest, daß es eine schöne Nacht mit einem hell scheinenden Halbmond war. Dann setzte ich mich ans prasselnde Kaminfeuer, stellte die Lampe neben mich auf einen Tisch und versuchte, mich mit einem Roman abzulenken. Ich wurde allerdings gestört von Ralph, dem alten Butler, der mit frischem Nachschub an Kohlen hereinkam.

›Ich dachte, die könnten Ihnen über Nacht vielleicht ausgehen, Sir. Wir haben rauhes Wetter, und diese Räume sind kalt.‹

Er zögerte etwas, bevor er wieder hinausging, und als ich mich umschaute, stand er da und sah mich mit einem nachdenklichen Ausdruck auf seinem runzligen Gesicht an.

›Verzeihung, Sir, aber es ließ sich nicht vermeiden, mit anzuhören, was Sie bei Tisch über den jungen Master Godfrey gesagt haben. Sie wissen, Sir, daß meine Frau seine Amme war, und deshalb darf ich wohl sagen, daß ich sein Pflegevater bin. Die Sache interessiert uns natürlich. Und Sie sagen, er hat sich gut gehalten, Sir?‹

›Es gab keinen mutigeren Mann im Regiment. Er hat mich einmal aus dem Gewehrfeuer der Buren herausgeschleppt – sonst säße ich wahrscheinlich nicht hier.‹

Der alte Butler rieb sich die mageren Hände.

›Ja, Sir, ja, das ist Master Godfrey, wie er leibt und lebt. Er war schon immer tapfer. Im Park gibt es nicht einen Baum, Sir, auf den er nicht geklettert ist. Nichts konnte ihn aufhalten. Er war ein feiner Junge, und – oh, Sir, er war ein feiner Mann.‹

Ich fuhr hoch.

›Hören Sie!‹ rief ich. ›Sie sagen, er war. Sie reden, als ob er tot wäre. Was hat diese ganze Geheimniskrämerei zu bedeuten? Was ist mit Godfrey Emsworth geschehen?‹

Ich packte den Alten an der Schulter, aber er drehte sich weg.

›Ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir. Fragen Sie den Herrn nach Master Godfrey. Er weiß Bescheid. Mir kommt es nicht zu, mich einzumischen.‹

Er war im Begriff, den Raum zu verlassen, aber ich hielt ihn am Arm fest.

›Hören Sie‹, sagte ich. ›Eine Frage werden Sie mir noch beantworten, bevor Sie gehen, und wenn ich Sie die ganze Nacht festhalten muß. Ist Godfrey tot?‹

Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Er war wie hypnotisiert. Nur mühsam ging ihm die Antwort über die Lippen. Sie war schrecklich und unvermutet.

›Ich wünschte bei Gott, er wäre es!‹ rief er; dann riß er sich los und stürzte aus dem Zimmer.

Sie können sich denken, Mr. Holmes, daß ich in nicht gerade glücklicher Verfassung zu meinem Stuhl zurückgegangen bin. Die Worte des Alten schienen mir nur eine Erklärung zuzulassen. Offenbar war mein Freund in irgendwelche kriminelle oder zumindest unehrenhafte Geschäfte verwickelt, die den guten Ruf der Familie antasteten. Der strenge alte Herr hatte seinen Sohn fortgeschickt und vor der Welt versteckt, damit kein Skandal ans Licht käme. Godfrey war ein unbekümmerter Bursche. Er ließ sich leicht beeinflussen von seiner Umgebung. Ohne Zweifel war er in üble Gesellschaft geraten und ins Verderben gestürzt worden. Eine traurige Geschichte, wenn das wirklich zutraf; aber selbst dann war es meine Pflicht, ihn aufzuspüren und zu sehen, ob ich ihm helfen konnte. Voll Sorge grübelte ich gerade über die Sache nach, als ich hochsah und Godfrey Emsworth vor mir stand.«

Mein Klient hatte wie in tiefer Erregung innegehalten.

»Bitte fahren Sie fort«, sagte ich. »Ihr Problem weist einige sehr ungewöhnliche Merkmale auf.«

»Er stand draußen vor dem Fenster, Mr. Holmes, das Gesicht gegen die Scheibe gepreßt. Ich habe Ihnen ja schon erzählt, daß ich in die Nacht hinausgeschaut hatte. Danach ließ ich die Vorhänge ein Stück weit offen. Und von dieser Öffnung wurde seine Gestalt eingerahmt. Das Fenster reichte bis zum Boden, und ich konnte sie in ihrer ganzen Länge erkennen; aber es war das Gesicht, was meinen Blick in Bann hielt. Es war totenbleich – noch nie habe ich einen so blassen Mann gesehen. Vermutlich sehen Gespenster so aus, aber seine Augen trafen auf meine, und es waren die Augen eines lebenden Menschen. Als er merkte, daß ich ihn anschaute, sprang er zurück und verschwand in die Dunkelheit.

Es war etwas Erschreckendes an dem Mann, Mr. Holmes. Es war nicht nur dieses grausige Gesicht, das so käsebleich in der Dunkelheit schimmerte. Es war noch was dahinter: etwas Verstohlenes, Heimliches, Schuldbewußtes – etwas, was zu dem aufrichtigen, mannhaften Burschen, den ich gekannt hatte, überhaupt nicht paßte. Es hinterließ in mir ein Gefühl des Grauens.

Aber wenn man ein oder zwei Jahre als Soldat mit Kamerad Bure Krieg gespielt hat, dann behält man die Nerven und handelt schnell. Godfrey war kaum verschwunden, als ich auch schon am Fenster war. Der Griff klemmte, und es dauerte ein Weilchen, bis ich es aufreißen konnte. Dann flitzte ich durch und rannte den Gartenweg hinunter, in die Richtung, die er meiner Meinung nach eingeschlagen haben könnte.

Der Weg war lang, und es war nicht sehr hell, doch mir war so, als ob sich vor mir etwas bewegte. Ich rannte weiter und rief seinen Namen, aber es hatte keinen Zweck. Als ich das Ende des Weges erreichte, zweigten da mehrere andere Pfade zu verschiedenen Gartenhäusern ab. Ich blieb unschlüssig stehen, und da hörte ich deutlich das Geräusch einer sich schließenden Tür. Es kam nicht von hinten aus dem Haus, sondern irgendwo aus der Dunkelheit vor mir. Das genügte, Mr. Holmes, um mich davon zu überzeugen, daß das, was ich gesehen hatte, keine Vision war. Godfrey war vor mir weggelaufen und hatte eine Tür hinter sich zugemacht. Dessen war ich mir sicher.

Mehr konnte ich nicht tun, und ich verbrachte eine unruhige Nacht, wobei ich mir die Sache durch den Kopf gehen ließ und versuchte, eine zu den Tatsachen passende Theorie zu finden. Am nächsten Tag kam mir der Colonel etwas versöhnlicher vor, und als seine Frau die Bemerkung machte, daß es in der Umgebung einige Sehenswürdigkeiten gebe, nutzte ich die Gelegenheit zu fragen, ob ihnen eine weitere Übernachtung sehr ungelegen käme. Die etwas widerwillige Zustimmung des Alten gewährte mir einen ganzen Tag, an dem ich meine Beobachtungen machen konnte. Ich war schon völlig davon überzeugt, daß sich Godfrey irgendwo in der Nähe versteckt hielt; aber wo und warum blieb noch herauszufinden.

Das Haus ist so groß und weitläufig, daß man darin ein Regiment verstecken könnte, ohne daß jemand was merkt. Wenn sich dort das Geheimnis verbarg, würde es mir schwerfallen, es zu ergründen. Aber die Tür, die ich zugehen gehört hatte, befand sich mit Sicherheit nicht im Haus. Ich mußte also den Garten auskundschaften und sehen, was ich herausfinden konnte. Das war ohne weiteres möglich; die alten Leutchen waren nämlich mit sich selbst beschäftigt und kümmerten sich nicht um mich.

Es gibt mehrere kleine Nebengebäude, aber am Gartenende befindet sich ein einzelnes, ziemlich großes – groß genug, um einem Gärtner oder Wildheger als Wohnung zu dienen. War das vielleicht die Stelle, von der das Geräusch der zugehenden Tür gekommen war? Ich ging so unbekümmert darauf zu, als ob ich ziellos im Gelände herumspazierte. Als ich mich näherte, kam ein kleiner, lebhafter, bärtiger Mann heraus, in einem schwarzen Mantel und mit einer Melone auf dem Kopf – ganz und gar nicht der Typ eines Gärtners. Zu meiner Überraschung schloß er die Tür hinter sich ab und steckte den Schlüssel ein. Dann schaute er mich ziemlich verblüfft an.

›Sind Sie hier zu Besuch?‹ fragte er.

Ich bejahte und erklärte, ich sei ein Freund von Godfrey.

›Wie schade, daß er verreist ist; er hätte sich nämlich bestimmt gefreut, mich zu sehen‹, fuhr ich fort.

›Ja doch. Ganz bestimmt‹, sagte er mit einer etwas schuldbewußten Miene. ›Aber Ihr Besuch läßt sich zweifellos zu einem günstigeren Zeitpunkt wiederholen.‹ Er ging weiter, doch als ich mich umdrehte, bemerkte ich, daß er am anderen Ende des Gartens, halb verdeckt von den Lorbeerbüschen, stehenblieb und mich beobachtete.

Als ich an dem kleinen Haus vorbeikam, schaute ich es mir gut an; die Fenster waren mit schweren Gardinen verhängt, und soweit man etwas erkennen konnte, war es leer. Womöglich würde ich mir mein eigenes Spiel verderben und sogar aus dem Haus gewiesen werden, wenn ich allzu keck vorginge; denn ich war mir bewußt, daß ich immer noch beobachtet wurde. Ich schlenderte also zum Haus zurück und wartete die Nacht ab, ehe ich meine Untersuchungen fortsetzte. Als alles dunkel und still war, schlüpfte ich aus meinem Fenster und begab mich so leise wie möglich zu dem mysteriösen Gartenhäuschen.

Ich habe schon erwähnt, daß die Fenster mit schweren Gardinen verhängt waren, aber nun waren auch noch die Läden geschlossen. Durch einen drang jedoch etwas Licht, daher konzentrierte ich mich auf dieses Fenster. Ich hatte Glück; die Gardine war nämlich nicht ganz zugezogen, und der Laden hatte eine Ritze, so daß ich ins Zimmer hineinsehen konnte. Es war eine recht freundliche Unterkunft, mit heller Lampe und flackerndem Kaminfeuer. Mir gegenüber saß der kleine Mann, den ich morgens getroffen hatte. Er rauchte Pfeife und las eine Zeitung ...«

»Was für eine Zeitung?« fragte ich.

Mein Klient schien sich über die Unterbrechung seines Berichtes zu ärgern.

»Spielt das eine Rolle?« fragte er.

»Es ist von größter Bedeutung.«

»Ich habe wirklich nicht darauf geachtet.«

»Vielleicht haben Sie bemerkt, ob es eine großformatige Tageszeitung war oder eine kleinere von der Art der Wochenblätter.«

»Jetzt, wo Sie es erwähnen – sie war nicht groß. Es könnte der Spectator gewesen sein. Wie auch immer, ich habe solchen Details nur geringe Beachtung geschenkt; ein zweiter Mann saß nämlich da, mit dem Rücken zum Fenster, und ich könnte schwören, daß es sich bei diesem zweiten Mann um Godfrey handelte. Sein Gesicht konnte ich zwar nicht sehen, aber die Neigung seiner Schultern war ja ein altgewohnter Anblick für mich. Er saß dem Kaminfeuer zugekehrt und stützte den Kopf auf den Ellbogen; diese Haltung hatte etwas sehr Melancholisches. Ich war noch unschlüssig, was ich tun sollte, als ich einen harten Schlag auf die Schulter bekam und Colonel Emsworth neben mir stand.

›Hier entlang, Sir!‹ sagte er mit gedämpfter Stimme. Schweigend ging er zum Haus, und ich folgte ihm auf mein Zimmer. In der Halle hatte er noch einen Fahrplan mitgenommen.

›Um acht Uhr dreißig geht ein Zug nach London‹, sagte er. ›Der Wagen steht um acht am Tor.‹

Er war weiß vor Wut, und ich fühlte mich tatsächlich so elend, daß ich nur noch ein paar zusammenhanglose Entschuldigungen stammeln konnte; ich versuchte mich zu rechtfertigen, indem ich die Sorge um meinen Freund geltend machte.

›Die Sache steht außer jeder Diskussion‹, sagte er schroff. ›Sie haben sich auf höchst verwerfliche Weise in die Privatsphäre unserer Familie eingemischt. Sie waren als Gast hier und haben sich wie ein Schnüffler benommen. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Sir, außer daß ich nicht wünsche, Sie jemals wiederzusehen.‹

Bei diesen Worten habe ich die Fassung verloren, Mr. Holmes, und ich sprach wohl ziemlich hitzig.

›Ich habe Ihren Sohn gesehen, und ich bin überzeugt, daß Sie ihn aus irgendwelchen nur Ihnen bekannten Gründen vor der Welt verstecken. Ich habe keine Ahnung, warum Sie ihn derartig von der Außenwelt abschneiden, aber ich bin sicher, daß er kein freier Mensch mehr ist. Ich mache Sie darauf aufmerksam, Colonel Emsworth, daß ich von dem Versuch, dem Geheimnis auf den Grund zu kommen, erst ablassen werde, wenn ich von Sicherheit und Wohlergehen meines Freundes überzeugt bin, und ich werde mich von dem, was Sie äußern oder tun könnten, keineswegs einschüchtern lassen.‹

Der alte Knabe machte ein Gesicht wie ein Teufel, und ich dachte wirklich, er sei drauf und dran, mich anzugreifen. Ich habe ja schon erwähnt, daß er ein hagerer, grimmiger alter Riese ist, und obwohl ich kein Schwächling bin, hätte ich bestimmt Mühe gehabt, mich gegen ihn zu behaupten. Wie auch immer, nach einem langen wütenden Blick machte er auf dem Absatz kehrt und ging aus dem Zimmer. Was mich betrifft, so nahm ich den erwähnten Morgenzug, fest entschlossen, Sie nach einer schriftlichen Anmeldung sofort aufzusuchen und um Rat und Hilfe zu bitten.«

Dies also war das Problem, das mir mein Besucher vorlegte. Seine Lösung bot, wie der gewitzte Leser längst gemerkt haben wird, nur geringe Schwierigkeiten, denn die Zahl der Möglichkeiten, die ausgeschlossen werden mußten, um zum Kern der Sache vorzustoßen, war sehr begrenzt. Bei aller Einfachheit mögen einige interessante und ungewöhnliche Einzelheiten des Problems seine Protokollierung dennoch rechtfertigen. Ich begann nun, die Lösungsmöglichkeiten einzugrenzen, indem ich mich gewohnheitsgemäß der logischen Analyse bediente.

»Die Bediensteten«, fragte ich, »wie viele gab es im Haus?«

»Soviel ich weiß, sind da nur der alte Butler und seine Frau. Man lebt anscheinend sehr einfach.«

»Dann gab es also keinen Diener in dem Gartenhaus?«

»Nein, es sei denn, der kleine Mann mit dem Bart hätte diese Funktion. Aber der sah eher wie eine höhergestellte Person aus.«

»Das gibt doch sehr zu denken. Bestanden irgendwelche Hinweise dafür, daß Nahrungsmittel vom einen Haus zum anderen befördert wurden?«

»Jetzt, wo Sie es erwähnen – ich habe in der Tat gesehen, wie der alte Ralph den Gartenweg in Richtung dieses Häuschens hinuntergegangen ist und dabei einen Korb getragen hat. Der Gedanke an Nahrungsmittel ist mir dabei allerdings nicht gekommen.«

»Haben Sie in der Ortschaft irgendwelche Erkundigungen eingezogen?«

»Ja. Ich habe mit dem Stationsvorsteher gesprochen und außerdem mit dem Wirt des Dorfgasthauses. Ich habe sie einfach gefragt, ob sie etwas über meinen alten Kameraden Godfrey Emsworth wüßten. Beide versicherten mir, daß er sich auf einer Weltreise befinde. Fast unmittelbar nach seiner Heimkehr sei er wieder aufgebrochen. Diese Geschichte wird offenbar allgemein akzeptiert.«

»Sie haben nichts von Ihrem Verdacht erwähnt?«

»Nein.«

»Das war sehr vernünftig. Die Sache sollte zweifellos untersucht werden. Ich fahre mit Ihnen zurück nach Tuxbury Old Park.«

»Heute?«

Zufällig war ich just zur gleichen Zeit mit der Aufklärung jenes Falles beschäftigt, den mein Freund Watson als ›Die Abtei-Schule‹ geschildert hat28 und in den der Herzog von Greyminster so tief verwickelt war. Außerdem hatte ich vom türkischen Sultan einen Auftrag, der nach sofortiger Erledigung verlangte, da seine Vernachlässigung politische Konsequenzen von schwerwiegendster Art zeitigen konnte. Daher war ich, wie mein Tagebuch vermerkt, erst zu Beginn der nächsten Woche in der Lage, mich in Begleitung von Mr. James M. Dodd auf den Weg nach Bedfordshire zu machen, um meinen Auftrag in Angriff zu nehmen. Als wir zur Euston Station fuhren, gesellte sich ein ernster und schweigsamer eisengrauer Gentleman zu uns, mit dem ich die nötigen Vereinbarungen getroffen hatte.

»Das ist ein alter Freund«, sagte ich zu Dodd. »Möglicherweise ist seine Anwesenheit vollkommen überflüssig; andererseits kann sie aber auch von wesentlicher Bedeutung sein. Im Moment brauchen wir darauf nicht weiter einzugehen.«

Die Erzählungen Watsons haben den Leser zweifellos schon an die Tatsache gewöhnt, daß ich weder Worte verschwende noch meine Gedanken enthülle, solange ein Fall noch überdacht wird. Dodd schien überrascht, doch es wurde nichts mehr gesagt, und wir setzten zu dritt unsere Fahrt fort. Im Zug stellte ich Dodd dann noch eine Frage; mir lag daran, daß unser Reisebegleiter sie ebenfalls hörte.

»Sie sagen, daß Sie das Gesicht Ihres Freundes ganz deutlich am Fenster gesehen haben – so deutlich, daß Sie von seiner Identität völlig überzeugt sind?«

»Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran. Er hat die Nase gegen die Scheibe gepreßt. Das Lampenlicht fiel voll auf ihn.«

»Es hätte niemand sein können, der ihm ähnlich sah?«

»Nein, nein; das war er selbst.«

»Aber Sie sagen doch, er sei verändert gewesen?«

»Nur die Hautfarbe. Sein Gesicht war – wie soll ich es beschreiben? – es war weiß wie ein Fischbauch. Es war wie gebleicht.«

»War es überall gleichmäßig blaß?«

»Ich glaube nicht. So deutlich habe ich ja nur seine Stirn gesehen, weil sie gegen die Scheibe gepreßt war.«

»Haben Sie ihn gerufen?«

»Ich war in dem Moment zu erschrocken und entsetzt. Dann bin ich ihm nachgerannt – wie ich Ihnen ja schon berichtet habe –, aber ohne Erfolg.«

Mein Fall war praktisch abgeschlossen; es bedurfte nur noch eines kleinen Details, um ihn abzurunden. Als wir nach ziemlich langer Fahrt bei dem seltsamen alten weitläufigen Haus, das mein Klient geschildert hatte, ankamen, öffnete uns Ralph, der ältliche Butler. Ich hatte den Wagen für den ganzen Tag gemietet und meinen älteren Freund gebeten, in ihm zu warten – es sei dehn, wir würden nach ihm rufen. Ralph, ein kleiner runzliger alter Knabe, trug die konventionelle Dienstkleidung: schwarzer Rock und grau gesprenkelte Hose – mit einer kuriosen Variante allerdings. Er hatte braune Lederhandschuhe an, die er bei unserem Anblick jedoch sofort abstreifte; als wir eintraten, legte er sie auf den Tisch in der Halle. Ich verfuge, wie mein Freund Watson wohl schon angemerkt hat, über ungewöhnlich scharfe Sinne; ein schwacher, aber beißender Geruch ließ sich wahrnehmen. Er schien von dem Tisch in der Halle auszugehen. Ich wandte mich um, legte meinen Hut dort ab, wischte ihn herunter und bückte mich, um ihn aufzuheben; dabei gelang es mir, meine Nase bis auf dreißig Zentimeter an die Handschuhe heranzubringen. Ja, unzweifelhaft waren sie die Quelle des seltsamen teerartigen Geruchs. Als ich ins Arbeitszimmer weiterging, hatte ich den Fall bereits gelöst. Ach, daß ich mir so in die Karten schauen lassen muß – nun, da ich meine Geschichte selbst erzähle! Denn nur indem Watson solche Glieder in der Kette zu verheimlichen pflegte, konnte er seine effekthascherischen Finale inszenieren.

Colonel Emsworth war nicht in seinem Zimmer; auf Ralphs Anmeldung hin kam er jedoch ziemlich rasch herbei. Wir vernahmen seine schnellen, schweren Schritte im Flur. Die Tür flog auf, und mit gesträubtem Bart und verzerrter Miene stürmte er herein – der schrecklichste alte Mann, den ich jemals gesehen habe. Er hielt unsere Visitenkarten in der Hand; dann zerriß er sie und trampelte auf den Fetzen herum.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie elender Schnüffler, daß Sie Hausverbot haben? Wagen Sie es ja nicht, Ihre verwünschte Visage hier noch einmal blicken zu lassen! Wenn Sie noch einmal ohne meine Erlaubnis hier eindringen, mache ich von meinem Hausrecht Gebrauch, und wenn ich dabei Gewalt anwenden muß. Ich schieße Sie nieder, Sir! Bei Gott, das tue ich! Was Sie betrifft, Sir« – hierbei wandte er sich mir zu –, »so gilt die gleiche Warnung auch für Sie. Mir ist bekannt, was für einen nichtswürdigen Beruf Sie ausüben; aber Sie müssen sich für Ihre angeblichen Talente ein anderes Betätigungsfeld suchen. Hier ist dafür kein Platz.«

»Ich werde erst dann hier weggehen«, sagte mein Klient fest, »wenn ich aus Godfreys eigenem Mund erfahre, daß man ihn nicht gefangenhält.«

Unser unfreiwilliger Gastgeber läutete die Glocke.

»Ralph«, sagte er, »rufen Sie die Grafschaftspolizei an und bitten Sie den Inspektor, uns zwei Polizisten zu schicken. Sagen Sie ihm, wir hätten Einbrecher im Haus.«

»Einen Augenblick«, sagte ich. »Sie müssen sich darüber im klaren sein, Mr. Dodd, daß Colonel Emsworth im Recht ist und daß wir uns außerhalb der Legalität befinden, wenn wir in seinem Haus bleiben. Andererseits sollte er einsehen, daß Ihr Verhalten ausschließlich von der Sorge um seinen Sohn bestimmt ist. Ich wage allerdings zu hoffen, daß ich Colonel Emsworth zu einer Änderung seiner Ansicht bewegen könnte, wenn man mir gestattete, mich fünf Minuten mit ihm zu unterhalten.«

»So leicht ändern sich meine Ansichten nicht«, sagte der alte Kämpe. »Ralph, tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Worauf, zum Teufel, warten Sie noch? Rufen Sie die Polizei an!«

»Nichts dergleichen«, sagte ich, indem ich mich mit dem Rücken zur Tür stellte. »Jede polizeiliche Einmischung würde genau die Katastrophe heraufbeschwören, die Sie so sehr furchten.« Ich zückte mein Notizbuch und kritzelte ein einzelnes Wort auf ein loses Blatt. »Das«, sagte ich, als ich es Colonel Emsworth reichte, »hat uns hierhergeführt.«

Er starrte das Geschriebene an, mit einem Gesicht, aus dem jeder Ausdruck, außer Verblüffung, gewichen war.

»Woher wissen Sie das?« keuchte er, schwer auf seinen Stuhl sinkend.

»Es ist meine Aufgabe, Bescheid zu wissen. Das gehört zu meinem Beruf.«

Er saß in tiefen Gedanken da, wobei er sich mit der hageren Hand den zottigen Bart zauste. Dann machte er eine resignierende Geste.

»Na schön, wenn Sie Godfrey unbedingt sehen wollen – bitte sehr. Aber ich habe damit nichts zu tun; Sie haben mich dazu gezwungen. Ralph, richten Sie Mr. Godfrey und Mr. Kent aus, daß wir in fünf Minuten bei ihnen sind.«

Als diese Zeitspanne um war, gingen wir den Gartenweg hinunter, bis wir uns vor dem mysteriösen Haus an seinem Ende befanden. An der Tür stand ein kleiner bärtiger Mann mit ziemlich verblüfftem Gesichtsausdruck.

»Das kommt etwas plötzlich, Colonel Emsworth«, sagte er. »Das wird unsere ganzen Pläne durcheinanderbringen.«

»Ich kann nichts dafür, Mr. Kent. Man hat uns dazu gezwungen. Ist Mr. Godfrey bereit, uns zu empfangen?«

»Ja; er wartet drinnen schon.« Er drehte sich um und führte uns in ein großes, schlicht möbliertes Vorderzimmer. Ein Mann stand mit dem Rücken zum Kamin; bei seinem Anblick sprang mein Klient mit ausgestreckter Hand vor.

»Na endlich, Godfrey, alter Junge! Bin ich froh!«

Doch der andere machte eine abwehrende Handbewegung.

»Komm mir nicht zu nahe, Jimmie. Halt Abstand. Ja, da staunst du wohl! Ich seh nicht mehr ganz so schneidig aus wie der Vizekorporal Emsworth von der Schwadron B, wie?«

Sein Aussehen war in der Tat ungewöhnlich. Man konnte zwar erkennen, daß er einmal ein gutaussehender junger Mann gewesen war, mit scharf geschnittenen, von der afrikanischen Sonne gebräunten Gesichtszügen; doch diese dunklere Oberfläche war übersät von seltsamen weißlichen Flecken, die seine Haut gebleicht hatten.

»Deswegen reiß ich mich nicht um Besucher«, sagte er. »Bei dir macht's mir ja nichts aus, Jimmie; aber auf deinen Freund hätte ich verzichten können. Ich nehm an, es gibt einen guten Grund dafür; aber du erwischst mich in einer mißlichen Lage.«

»Ich wollte sichergehen, daß mit dir alles in Ordnung ist, Godfrey. Ich habe dich damals gesehen, als du nachts durchs Fenster zu mir reingeschaut hast; und ich konnte die Geschichte nicht eher ruhen lassen, als bis ich sie aufgeklärt hätte.«

»Der alte Ralph hat mir gesagt, daß du da bist, und ich mußte dich doch wenigstens mal angucken. Ich habe gehofft, du würdest mich nicht bemerken; als ich gehört habe, wie das Fenster aufging, mußte ich wieder in meine Höhle flitzen.«

»Aber warum denn, um Himmels willen?«

»Oh, das läßt sich schnell erzählen«, sagte er, sich eine Zigarette anzündend. »Du erinnerst dich doch an das Gefecht eines Morgens bei Buffelsspruit, hinter Pretoria, an der östlichen Eisenbahnlinie? Von meiner Verwundung hast du wohl gehört?«

»Ja, ich habe davon gehört, aber keine Einzelheiten erfahren.«

»Drei von uns sind von den anderen abgeschnitten worden. Die Gegend war ja sehr zerklüftet, du erinnerst dich wahrscheinlich. Es waren Simpson – der Bursche, den wir ›Glatze Simpson‹ gerufen haben –, Anderson und ich. Wir wollten durch die Linie von Kamerad Bure schlüpfen; aber der hat im Hinterhalt gelauert und uns drei erwischt. Die anderen zwei sind gefallen. Ich habe eine Kugel durch die Schulter bekommen, aus einer Elefantenbüchse. Trotzdem habe ich mich an mein Pferd geklammert, und es ist noch etliche Meilen galoppiert, bevor ich ohnmächtig aus dem Sattel gerutscht bin.

Als ich wieder zu mir kam, wurde es schon dunkel; dann habe ich mich hochgerappelt, obwohl mir ganz schwach und elend zumute war. Zu meiner Überraschung befand sich ganz in der Nähe ein Haus, ein ziemlich großes Haus mit breiter Veranda und vielen Fenstern. Es war verflucht kalt. Du erinnerst dich ja an diese klamme Kälte, die abends immer hereingebrochen ist, eine tödliche, krank machende Kälte – ganz anders als ein frischer gesunder Frost. Na gut, ich war also durchgefroren bis auf die Knochen, und meine einzige Hoffnung schien darin zu liegen, dieses Haus zu erreichen. Taumelnd bin ich aufgestanden und habe mich vorwärtsgeschleppt, ohne recht zu wissen, was ich tue. Ich erinnere mich dunkel, daß ich langsam die Treppe hinaufgestiegen bin, durch eine weit geöffnete Tür in einen großen Raum mit mehreren Betten kam und mich mit einem Seufzer der Erleichterung auf eines davon geworfen habe. Es war ungemacht, aber das hat mich nicht im geringsten gekümmert. Ich habe mir das Bettzeug über den schlotternden Leib gezogen und war im Nu tief eingeschlafen.

Als ich aufgewacht bin, war es Morgen, und es kam mir so vor, als finde ich mich statt in einer normalen Welt in einem seltsamen Albtraum wieder. Durch die großen, vorhanglosen Fenster flutet die afrikanische Sonne, und jedes Detail des geräumigen, kahlen, weißgetünchten Schlafsaals sticht scharf und deutlich hervor. Vor mir steht ein schmächtiges, zwergenhaftes Männchen mit einem riesigen knolligen Kopf; es schnattert ganz aufgeregt auf holländisch und wedelt dabei mit zwei fürchterlichen Händen, die wie braune Schwämme aussehen. Hinter ihm steht eine Gruppe von Leuten, die sich über die Situation anscheinend stark amüsieren; aber als ich sie mir angeschaut habe, ist es mir eiskalt über den Rücken gelaufen. Nicht einer von ihnen war ein normales menschliches Wesen. Alle waren sie verkrümmt oder aufgedunsen oder auf seltsame Weise verunstaltet. Das Gelächter dieser fremdartigen Ungeheuer hat sich schauerlich angehört.

Anscheinend konnte keiner von ihnen Englisch, aber die Situation mußte geklärt werden – die Kreatur mit dem großen Kopf wurde nämlich immer rasender vor Zorn; er schrie wie ein wildes Tier, hatte seine verformten Hände auf mich gelegt und war drauf und dran, mich aus dem Bett zu zerren, ohne darauf zu achten, daß meine Wunde wieder blutete. Das kleine Monster war stark wie ein Bulle, und ich weiß nicht, was es mit mir angestellt hätte, wenn nicht ein älterer Mann, der offensichtlich Autorität besaß, durch den Lärm in den Saal gelockt Worden wäre. Er spricht ein paar strenge Worte auf holländisch, und mein Peiniger zieht sich zurück. Dann wendet er sich mir zu und starrt mich dabei höchst verblüfft an.

›Wie in aller Welt sind Sie hierhergekommen?‹ fragt er verwundert. ›Moment mal. Jetzt seh ich's erst, Sie sind ja völlig erschöpft, und Ihre verwundete Schulter muß versorgt werden. Ich bin Arzt, ich werde Sie gleich mal verbinden. Aber, Mann Gottes, Sie sind hier in weit größerer Gefahr als auf dem Schlachtfeld! Dies ist ein Leprahospital, und Sie haben im Bett eines Aussätzigen geschlafen.‹

Muß ich dir noch mehr erzählen, Jimmie? Anscheinend waren diese armen Geschöpfe angesichts der herannahenden Schlacht tags zuvor evakuiert worden. Danach, als die Briten vorgerückt sind, hat ihr ärztlicher Aufseher sie wieder zurückgebracht; er hat mir versichert, daß er sich zwar für immun gegen die Krankheit hält, aber trotzdem nie gewagt hätte, was ich getan habe. Er hat mich in ein Einzelzimmer gelegt und freundlich behandelt; nach ungefähr einer Woche wurde ich ins allgemeine Hospital in Pretoria überführt.

Jetzt kennst du also meine Tragödie. Ich habe verzweifelt gehofft; erst als ich schon nach Hause zurückgekehrt war, haben mir die schrecklichen Zeichen, die du auf meinem Gesicht siehst, verraten, daß ich nicht davongekommen bin. Was sollte ich tun? Ich befand mich in diesem einsamen Haus. Wir hatten zwei Angestellte, auf die wir uns völlig verlassen konnten. Ein Häuschen war vorhanden, in dem ich wohnen konnte. Mr. Kent, ein Wundarzt, war bereit, unter dem Siegel der Verschwiegenheit bei mir zu bleiben. So gesehen, war der Plan ziemlich einfach. Die Alternative war furchtbar – lebenslange Isolierung, unter fremden Menschen; und ohne Hoffnung, jemals wieder freizukommen. Allerdings war absolute Geheimhaltung nötig, sonst hätte es selbst in dieser ruhigen Gegend einen Aufschrei der Empörung gegeben, und ich wäre in mein grausiges Schicksal getrieben worden. Sogar du, Jimmie – sogar du mußtest im dunkeln gelassen werden. Warum mein Vater jetzt nachgegeben hat, kann ich mir nicht erklären.«

Colonel Emsworth deutete auf mich.

»Das ist der Gentleman, der mich dazu gezwungen hat.« Er entfaltete den Zettel, auf den ich das Wort »Lepra« geschrieben hatte. »Ich dachte mir, wenn er schon so viel weiß, ist es sicherer, wenn er gleich alles weiß.«

»Ganz recht«, sagte ich. »Wer weiß, ob es nicht sogar sein Gutes hat? Ich nehme an, daß nur Mr. Kent den Patienten gesehen hat. Darf ich fragen, Sir, ob derartige Krankheiten, die, soviel ich weiß, tropischer oder subtropischer Natur sind, zu Ihrem Fachgebiet gehören?«

»Ich besitze die herkömmlichen Kenntnisse eines ausgebildeten Mediziners«, bemerkte er etwas steif.

»Ich hege nicht den geringsten Zweifel an Ihrer Kompetenz, Sir, aber Sie werden mir gewiß zustimmen, daß es in einem solchen Fall von Nutzen wäre, einen zweiten Gutachter heranzuziehen. Das haben Sie bisher unterlassen, weil Sie vermutlich befürchteten, daß man dann den Patienten zwangsweise isolieren könnte.«

»So ist es«, sagte Colonel Emsworth.

»Ich habe die Situation vorausgesehen«, erklärte ich, »und deshalb einen Freund mitgebracht, auf dessen Diskretion man sich absolut verlassen kann. Ich konnte ihm einmal von Berufs wegen helfen, und er ist bereit, Sie eher als Freund denn als Spezialist zu beraten. Sein Name ist Sir James Saunders.«

Die Überraschung und Freude, die die Aussicht auf eine Zusammenkunft mit Lord Roberts29 bei einem frischgebackenen Offizier ausgelöst hätte, wäre nicht größer gewesen als die, die sich nun auf Mr. Kents Gesicht spiegelte.

»Das ist eine große Ehre«, murmelte er.

»Dann werde ich Sir James bitten, hierher zu kommen. Er wartet gegenwärtig noch im Wagen vor dem Tor. In der Zwischenzeit, Colonel Emsworth, sollten wir uns vielleicht in Ihr Arbeitszimmer begeben, wo ich Ihnen dann die nötigen Erklärungen liefern könnte.«

Und hier vermisse ich nun wirklich meinen Watson. Er wäre imstande, meine schlichte Kunst, die doch nichts als der systematisch angewandte gesunde Menschenverstand ist, durch geschickte Fragen und verblüffte Ausrufe in den Stand eines schieren Wunders zu erheben. Sobald ich meine Geschichte selbst erzähle, verfüge ich freilich nicht über solche Hilfsmittel. Dennoch will ich meinen Gedankengang just so wiedergeben, wie ich ihn meinem kleinen Auditorium, zu dem auch Godfreys Mutter gehörte, in Colonel Emsworths Arbeitszimmer vorgetragen habe.

»Dieser Gedankengang«, sagte ich, »geht von folgender Voraussetzung aus: Wenn man alles, was nicht im Bereich des Möglichen liegt, eliminiert hat, dann muß der verbleibende Rest – wie unwahrscheinlich er immer sei – unbedingt die Wahrheit sein. Es ist durchaus möglich, daß dieser Rest mehrere Deutungen zuläßt; in dem Fall stellt man eine nach der anderen auf die Probe, bis ein beweiskräftiges Ergebnis vorliegt. Dieses Prinzip wollen wir nun auf den vorliegenden Fall anwenden. So, wie er sich mir zunächst präsentierte, gab es für die Zurückgezogenheit oder Einsperrung dieses Gentleman in einem Gartenhäuschen auf dem väterlichen Grundstück drei Deutungsmöglichkeiten. Erstens, daß er sich wegen eines Verbrechens versteckt hielt; zweitens, daß er geistesgestört war und man seine Unterbringung in einer Anstalt vermeiden wollte; drittens, daß er eine Krankheit hatte, die seine Isolierung erforderte. Eine weitere passende Erklärung konnte ich nicht finden. Demnach mußten diese drei untersucht und gegeneinander abgewogen werden.

Die Lösung mit dem Verbrechen konnte der Überprüfung nicht standhalten. Aus dieser Gegend lagen keine Meldungen über ein unaufgeklärtes Verbrechen vor. Dessen war ich mir sicher. Wenn es sich um ein noch nicht entdecktes Verbrechen handelte, läge der Familie wohl eher daran, sich den Delinquenten vom Hals zu schaffen und ihn ins Ausland zu schicken, als ihn zu Hause zu verstecken. In einer solchen Verhaltensweise konnte ich keinen Sinn entdecken.

Plausibler war die geistige Umnachtung. Die Anwesenheit der zweiten Person in dem Häuschen legte den Gedanken an einen Wärter nahe. Die Tatsache, daß diese Person beim Hinausgehen die Tür abgeschlossen hat, bestätigte diese Annahme und deutete auf Zwang. Andererseits konnte dieser Zwang aber nicht absolut streng sein, sonst hätte sich der junge Mann nicht entfernen können, um einen Blick auf seinen Freund zu werfen. Sie werden sich erinnern, Mr. Dodd, daß ich nach Anhaltspunkten suchte; so habe ich Sie zum Beispiel nach der Zeitung gefragt, die Mr. Kent gelesen hat. Wäre es die Lancet oder das British Medical Journal gewesen, so hätte mir das vermutlich weitergeholfen. Nun ist es aber nichts Ungesetzliches, einen Geistesgestörten auf einem Privatgrundstück in Gewahrsam zu halten, solange er unter qualifizierter Aufsicht steht und die Behörden ordnungsgemäß in Kenntnis gesetzt sind. Warum also dieser verzweifelte Wunsch nach völliger Geheimhaltung? Erneut konnte ich die Theorie nicht mit den Fakten in Übereinstimmung bringen.

Es blieb demnach nur noch die dritte Möglichkeit, zu der alles zu passen schien, so seltsam und unwahrscheinlich sie auch war. Lepra ist in Südafrika nichts Ungewöhnliches. Durch irgendeinen merkwürdigen Zufall könnte dieser junge Mann sie sich zugezogen haben. Das brächte jedoch seine Angehörigen in eine ganz abscheuliche Situation, da sie den Wunsch hegten, ihn vor der Isolierung zu bewahren. Strikte Geheimhaltung wäre erforderlich, um zu verhindern, daß Gerüchte entstehen und sich daraufhin die Behörden einschalten. Ein zuverlässiger Arzt zur Versorgung des Kranken ließe sich gegen angemessene Bezahlung leicht finden. Nichts spräche dagegen, letzterem nach Einbruch der Dunkelheit seine Freiheit zu gönnen. Daß die Haut bleich wird, ist eine gewöhnliche Folge dieser Krankheit. Vieles deutete auf diese Möglichkeit – so viel, daß ich beschloß, so vorzugehen, als wäre sie bereits erwiesen. Als ich bei meiner Ankunft bemerkte, daß Ralph, der ja die Mahlzeiten hinaustrug, Handschuhe anhatte, die mit einem Desinfektionsmittel imprägniert waren, fand ich meine letzten Zweifel beseitigt. Ein einziges Wort hat Ihnen angezeigt, Sir, daß Ihr Geheimnis entdeckt war; und wenn ich es lieber aufgeschrieben als ausgesprochen habe, so nur, um Ihnen zu beweisen, daß man sich auf meine Diskretion verlassen kann.«

Ich war just im Begriff, diese kleine Analyse des Falles abzuschließen, als sich die Tür öffnete und die asketische Gestalt des großen Dermatologen auf der Schwelle erschien. Aber diesmal hatten sich seine sphinxartigen Züge entspannt, und in seinen Augen lag warme Menschlichkeit. Er schritt auf Colonel Emsworth zu und schüttelte ihm die Hand.

»Es ist mein Los, oft schlechte Nachrichten zu bringen, selten gute«, sagte er. »Diesmal ist der Anlaß ein erfreulicher. Es handelt sich nicht um Lepra.«

»Was?«

»Ein ausgeprägter Fall von Pseudo-Lepra oder Ichthyosis, eine schuppenartige Affektion der Haut, unansehnlich, hartnäckig, aber vermutlich heilbar und ganz gewiß nicht ansteckend. Ja, Mr. Holmes, diese zufällige Übereinstimmung ist bemerkenswert. Bloß, ist sie wirklich nur zufällig? Sind da nicht subtile Kräfte am Werk, von denen wir nur wenig wissen? Die schlimmen Ahnungen, unter denen der junge Mann, seit er der Ansteckungsgefahr ausgesetzt war, zweifellos schrecklich gelitten hat – sind wir denn sicher, daß nicht gerade sie vielleicht eine körperliche Wirkung zeitigen, die das Befürchtete täuschend nachahmt? Jedenfalls, ich verpfände meine Berufsehre ... Aber die Lady ist in Ohnmacht gefallen! Ich glaube, es ist besser, wenn Mr. Kent bei ihr bleibt, bis sie sich von diesem freudigen Schock erholt.«

Sherlock Holmes' Buch der Fälle

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