Читать книгу Die Weissen Männer - Arthur Gordon Wolf - Страница 8

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Er schlug verwirrt die Augen auf. Dunkelheit und Stille umfingen ihn. Die Verwirrung war so groß, dass er momentan nicht wusste, wo er sich befand. Auch wenn dieses Gefühl nur wenige Sekunden andauerte, war es nicht minder beunruhigend. Geradezu unheimlich. In diesen Sekundensplittern hatte er sogar seinen eigenen Namen vergessen. Nun, Brandon Tolliver war auch kein Name, der einen besonderen Erinnerungswert besaß. Wer war er denn schon? Ein unbedeutender Softwareingenieur, der nicht einmal die Hälfte seiner Überstunden bezahlt bekam. Ein winziges Rädchen inmitten einer gigantischen Megamaschinerie. Ein nickendes Hündchen, das gehorsam und freudig die Tritte seines Herrchens hinnahm. Er stöhnte laut auf. Die Wahrheit sah ernüchternd aus. Er war ein Vollidiot, der sich nicht mehr als diese schäbige Bude hier im T- Block leisten konnte.

Es dauerte eine ganze Zeit, bis es ihm blinzelnd gelang, die roten Lichtzeichen, die seine Uhr an die Decke warf, zu entziffern. ›3:27‹. Verdammt, es war noch mitten in der Nacht! Was hatte ihn nur zu dieser unchristlichen Stunde geweckt?

Regungslos blieb er liegen und lauschte angestrengt nach der Ursache. Für einige Sekunden hielt er sogar den Atem an, doch das Einzige, was seine Sinne wahrnahmen, war die drückende Hitze im Zimmer. Die Klimaanlage hatte ausgerechnet mitten im Sommer ihren Geist aufgegeben, und da er sich gerade mal wieder in einer finanziellen Notlage befand, kam eine Reparatur nicht in Frage. Stattdessen hatte er das Fenster so weit wie möglich geöffnet. Die kaum wahrnehmbare Brise brachte allerdings keine Linderung. Immerhin wurde er hier, oberhalb des 65. Stockwerks, nicht von Straßenlärm belästigt. Er hielt erneut die Luft an. Wenn man es genau betrachtete, wurde man von überhaupt nichts belästigt. Nicht einmal der leiseste Windhauch war zu hören.

Brandon dachte gerade drüber nach, sich ein Glas Wasser zu holen, als er doch etwas hörte. Eine Stimme.

»Alexander? … Alexander! … Alexander?«

Es war eine alte, brüchige Stimme, die ihm sehr vertraut war. Direkt neben ihm wohnte eine alte, alleinstehende Dame, die er gelegentlich im Aufzug oder im Flur traf. Miss Brookdahl. Eine silberhaarige, stets freundliche kleine Frau, die mit einem seltsam anachronistischen Stolz noch immer auf ihrem mittelalterlichen Titel »Miss« bestand. Er musste auch jetzt wieder darüber lächeln. Miss Brookdahl war ein liebenswürdiges Fossil, dem es auf wundersame Weise gelungen war, in diese Zeit überzuwechseln. Vermutlich durch eine Art Dimensionspforte, dachte er.

Brandon fuhr plötzlich im Bett hoch. Wen rief die alte Frau dann aber mitten in der Nacht? Sie lebte schließlich schon seit mehr als 40 Jahren allein in dieser Wohnung. Sprach sie etwa im Schlaf?

»Vermutlich«, murmelte er und stieß wahrscheinlich zum 10.000 Mal in dieser Woche einen Fluch wegen der maroden Bausubstanz des Hauses aus.

Die einzelnen Wohneinheiten waren zwecks Materialersparnis nur durch sehr dünne Wände voneinander getrennt. Eine hauchdünne Membran im Inneren sorgte allerdings dafür, dass über 98% aller Schallwellen absorbiert wurden. Bislang hatten die Dinger gut funktioniert, doch nun war offenbar auch diese technische Errungenschaft den Weg allen Irdischen gegangen. Entropie und Chaos, wohin man nur blickte; seine Klimaanlage und die hellhörige Wand waren da nur lächerliche Nebenschauplätze.

Wenn man die gefilterten News richtig interpretierte und nur einem Prozent der Gerüchte glaubte, so waren Ausfälle in weitaus komplexeren elektronischen Schaltsystemen keine Seltenheit. Erst gestern hatte ihm ein Kollege in der Firma erzählt, ein Freund von ihm habe von einer Art Supervirus erfahren, das sogar Virtual Reality Spiele und Replikanten befiel. Angeblich habe es bereits viele Tote gegeben. Natürlich konnte man derlei »Informationen« unter der Rubrik »urbane Legenden« verbuchen, die gleich neben dem Artikel »Elvis lebt auf Beteigeuze« im National Enquirer erschienen, aber irgendwie spürte Brandon, dass mehr dahinter steckte. Glücklicherweise beschäftigte sich seine Firma nur mit der Erstellung und Wartung von Logistik- und Online-Buchungssoftware.

In der letzten Zeit fiel auf, dass auch ihre Kunden (vornehmlich Konzerne aus dem Bereich der Lebensmittel- und Möbel- Industrie) vermehrt über seltsame Ausfälle klagten. Häufig fanden sich in der Software plötzlich Bugs oder Freezers, die durch die Programmierung eigentlich hätten vereitelt werden müssen. Als Ursache konnten weder Trojaner noch Viren identifiziert werden. Die Umschreibung und Löschung bestimmter Programmteile geschah einfach. Brandon hörte Miss Brookdahl nur noch einmal in dieser Nacht den Namen »Alexander« murmeln, dann kehrte Stille ein. Kurz bevor er endlich wieder einschlief, drang ein helles Kinderlachen an sein Ohr, er konnte aber nicht mehr erkennen, ob es sich dabei nicht bereits um einen Teil seiner eigenen Traumwelt handelte.


Es sollte mehr als eine Woche vergehen, bevor Brandon überhaupt wieder die Gegenwart seiner Nachbarin bemerkte. Die merkwürdigen Rufe in jener Nacht und das noch seltsamere Lachen waren längst von alltäglichen und nur zu realen Erlebnissen überlagert worden. Danah, seine mehrjährige Freundin, hatte ihm von heute auf morgen den Laufpass gegeben. Und das höchst stilvoll per Holomail.

»Ich hab lange überlegt, Brandon, aber unsere Beziehung bringt mich irgendwie nicht weiter. Ich hoffe, du verstehst mich.«

Sie hatte dabei einen rosa farbigen Kaugummi zwischen ihren Lippen hervorgezogen und langsam um den Zeigefinger gewickelt.

»Nun ja, du weißt ja, wie das ist. Heutzutage muss jeder sehen, wo er bleibt. Tja, und du fährst einfach auf einem zu langsamen Gleis, Baby. Du ENTWICKELST dich einfach nicht.«

Danah blickte dabei in einen für Brandon unsichtbaren Spiegel oberhalb ihrer Holokamera und zupfte sich ungeniert einige Haare ihrer Augenbrauen zurecht, mit der anderen Hand immer noch den widerlichen Kaugummi in die Länge ziehend.

»Coraleen meint auch, dass du mich nur bremst.« Sie stöhnte gedehnt. »Und, wenn du mal ganz ehrlich bist, im Bett bist du auch nicht gerade ein Hengst.«

Bei diesen Worten stand er kurz davor, ein Glas in ihre widerlich grinsende Fratze zu werfen, doch glücklicherweise siegte die Vernunft. Danah hätte ohnehin nichts davon gespürt und ohne Holoscreen würde sich sein Fenster zu der Welt dort draußen für immer schließen. Allerdings begann er sich mehr und mehr zu fragen, ob dieses Fenster nicht besser zubetoniert werden sollte. Selbst die Nachrichten waren doch nichts anderes als aufbereitete virtuelle Fantasien. Glaubte man den strahlend bunten Bildern, befand er sich inmitten eines endlosen Paradieses. Seltsam nur, dass er außerhalb seines Wohnblocks nirgendwo auch nur ansatzweise vergleichbare Szenarien entdecken konnte. Hinter den strahlenden Leuchtreklamen bröckelte der Putz; ohne die künstlichen Lichter bestanden die Hauptfarben aus Grau, Braun und Schwarz. Die Stadt war in Wirklichkeit eine dreckige kalte Wüste, doch niemand schien den Mut zu besitzen, genau hinzusehen. Die heile Virtual Reality Holowelt war doch so viel angenehmer.

Unseren täglichen virtuellen Traum gib uns heute!

Das lebensgroße Holobild seiner Verflossenen war jedenfalls alles andere als traumhaft gewesen. Und ähnlich unerfreulich war es auch in der Firma zugegangen. Aus den anfänglich vereinzelten Bugs hatte sich binnen weniger Tage eine regelrechte Plage entwickelt. Die Matrix vieler Tabellen schien sich plötzlich komplett gewandelt zu haben. Und noch immer konnte kein Muster, kein agierender Virus, identifiziert werden. Brandon und seine Kollegen schufteten fast rund um die Uhr, doch sie arbeiteten gegen einen übermächtigen Gegner. War ein String an einer Stelle wieder hergestellt worden, brachen an anderer Stelle wenig später ganze Cluster zusammen. Niemand wagte es laut auszusprechen, doch wenn nicht bald die Ursache für die Fehler gefunden würde, war das gesamte elektronische Netzwerk dem Untergang geweiht. Und dies hätte Auswirkungen auf jeden Aspekt des alltäglichen Lebens – angefangen von sprachgesteuerten Kaffeemaschinen, über Heizungen und Schlösser bis hin zu Verkehrsleitsystemen und jeder Form von Kommunikationsmedien. Y2K-Bug war vielleicht doch kein Mythos. Er hatte zwar eine gehörige Verspätung, dafür kam er nun aber mit Volldampf.


Es sollte mehr als eine Woche vergehen, bevor Brandon überhaupt wieder die Gegenwart seiner Nachbarin bemerkte. Die merkwürdigen Rufe in jener Nacht und das noch seltsamere Lachen waren längst von alltäglichen und nur zu realen Erlebnissen überlagert worden. Danah, seine mehrjährige Freundin, hatte ihm von heute auf morgen den Laufpass gegeben. Und das höchst stilvoll per Holomail.

»Ich hab lange überlegt, Brandon, aber unsere Beziehung bringt mich irgendwie nicht weiter. Ich hoffe, du verstehst mich.«

Sie hatte dabei einen rosa farbigen Kaugummi zwischen ihren Lippen hervorgezogen und langsam um den Zeigefinger gewickelt.

»Nun ja, du weißt ja, wie das ist. Heutzutage muss jeder sehen, wo er bleibt. Tja, und du fährst einfach auf einem zu langsamen Gleis, Baby. Du ENTWICKELST dich einfach nicht.«

Danah blickte dabei in einen für Brandon unsichtbaren Spiegel oberhalb ihrer Holokamera und zupfte sich ungeniert einige Haare ihrer Augenbrauen zurecht, mit der anderen Hand immer noch den widerlichen Kaugummi in die Länge ziehend.

»Coraleen meint auch, dass du mich nur bremst.« Sie stöhnte gedehnt. »Und, wenn du mal ganz ehrlich bist, im Bett bist du auch nicht gerade ein Hengst.«

Bei diesen Worten stand er kurz davor, ein Glas in ihre widerlich grinsende Fratze zu werfen, doch glücklicherweise siegte die Vernunft. Danah hätte ohnehin nichts davon gespürt und ohne Holoscreen würde sich sein Fenster zu der Welt dort draußen für immer schließen. Allerdings begann er sich mehr und mehr zu fragen, ob dieses Fenster nicht besser zubetoniert werden sollte. Selbst die Nachrichten waren doch nichts anderes als aufbereitete virtuelle Fantasien. Glaubte man den strahlend bunten Bildern, befand er sich inmitten eines endlosen Paradieses. Seltsam nur, dass er außerhalb seines Wohnblocks nirgendwo auch nur ansatzweise vergleichbare Szenarien entdecken konnte. Hinter den strahlenden Leuchtreklamen bröckelte der Putz; ohne die künstlichen Lichter bestanden die Hauptfarben aus Grau, Braun und Schwarz. Die Stadt war in Wirklichkeit eine dreckige kalte Wüste, doch niemand schien den Mut zu besitzen, genau hinzusehen. Die heile Virtual Reality Holowelt war doch so viel angenehmer.

Unseren täglichen virtuellen Traum gib uns heute!

Das lebensgroße Holobild seiner Verflossenen war jedenfalls alles andere als traumhaft gewesen. Und ähnlich unerfreulich war es auch in der Firma zugegangen. Aus den anfänglich vereinzelten Bugs hatte sich binnen weniger Tage eine regelrechte Plage entwickelt. Die Matrix vieler Tabellen schien sich plötzlich komplett gewandelt zu haben. Und noch immer konnte kein Muster, kein agierender Virus, identifiziert werden. Brandon und seine Kollegen schufteten fast rund um die Uhr, doch sie arbeiteten gegen einen übermächtigen Gegner. War ein String an einer Stelle wieder hergestellt worden, brachen an anderer Stelle wenig später ganze Cluster zusammen. Niemand wagte es laut auszusprechen, doch wenn nicht bald die Ursache für die Fehler gefunden würde, war das gesamte elektronische Netzwerk dem Untergang geweiht. Und dies hätte Auswirkungen auf jeden Aspekt des alltäglichen Lebens – angefangen von sprachgesteuerten Kaffeemaschinen, über Heizungen und Schlösser bis hin zu Verkehrsleitsystemen und jeder Form von Kommunikationsmedien. Y2K-Bug war vielleicht doch kein Mythos. Er hatte zwar eine gehörige Verspätung, dafür kam er nun aber mit Volldampf.


»Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Die Stimme klang androgyn und doch jugendlich hoch.

Brandon musste sich dazu überwinden, die spinnenhaften Finger der ausgestreckten Hand zu ergreifen.

»Äh, freut mich ebenfalls, äh … Alexander!«, stotterte er unsicher.

Als sich ihre Hände wieder lösten, verspürte er das dringende Bedürfnis, sich von Kopf bis Fuß zu waschen. Obwohl Alexanders Hand kühl und trocken gewesen war, meinte er doch, eine schleimige Insektenhaut berührt zu haben.

Brandon war froh, als Miss Brookdahl endlich die Wohnungstür aufschloss und Alexander nach drinnen schickte.

»Sei ein Schatz und stell die gefrorenen Sachen schon mal in den Kühlschrank!«

Nachdem ihr neuer Begleiter wortlos mit den Tüten verschwunden war, wandte sie sich wieder ihrem Nachbarn zu. Ein ungewohnt ironisches Lächeln erschien auf ihren Lippen.

»Natürlich haben Sie es schon bemerkt, nicht wahr, Brandon?«

Er stellte sich dumm.

»Bemerkt? Äh … was denn?«

»Na, dass Alexander ein Replikant ist, natürlich. Er ist ein PXS-14. Goldig, nicht wahr?«

Brandon nickte nur stumm.

»Ich hatte anfangs ja eher an eine Katze gedacht«, fuhr sie fort, »aber Katzen schnurren und miauen nur. Und sprechende Exemplare sind unverschämt teuer, wie Sie ja sicher wissen. Und bei den täglichen Besorgungen kann so ein Tier ja auch wenig helfen. Tja, und so schlug mir der freundliche Mann von UMC vor, doch einen Miniaturhelfer zu kaufen. Die Modellreihe von Alexander kann eigentlich alles, was seine großen Brüder auch können, doch dafür kosten sie nicht einmal die Hälfte. Ist das nicht einfach faaabelhaft?!«

Sie dehnte das letzte Wort so stark, als befände sie sich mitten in einem Werbespot für Haushaltsreplikanten. Brandon spürte, wie er sich nun doch die Hand an seinem Hosenbein abwischte. Da er nicht auf ihre ohnehin rhetorische Frage reagierte, fuhr Miss Brookdahl neckisch fort: »Ja, ja ich sehe schon, Brandon. Sie denken jetzt sicher, was will diese alte Schachtel noch mit einem Replikanten.«

»Nein!«, entfuhr es Brandon. »Ich meine … «

»Papperlapapp!«, unterbrach sie ihn mit einer unwirschen Handbewegung. »Sie haben ja vollkommen recht, doch warum sollte sich eine alte Frau wie ich nicht mindestens einmal im Leben eine Verrücktheit leisten? Ich habe keine lebenden Verwandten; für wen also sollte ich mein Geld aufsparen? Etwa für den Staat?« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein, nein! Für meine alten Tage ist Alexander genau die richtige Investition.« Ihr Gesicht nahm einen verträumt glücklichen Ausdruck an. »Obwohl ich es lieber weniger kommerziell betrachten möchte. Der kleine Kerl ist mir schon jetzt richtig ans Herz gewachsen. Alexander ist für mich einfach ein Geschenk des Himmels.«

Brandon versicherte nachdrücklich, dass er ihre Entscheidung keineswegs als ›verrückt‹ betrachtete, machte noch ein wenig Small Talk über die gestiegenen Lebensmittelpreise, sowie die zunehmenden Verkehrsstaus und wünschte seiner Nachbarin schließlich noch einen schönen Abend.

Als er in seiner Wohnung war, betrachtete er seine Hände wie etwas Fremdes, Widerwärtiges. Die Nachbarwohnung hatte ihn kontaminiert. Vielleicht waren unbemerkt Bakterien, Viren oder fiese Nanobots in seine Haut gedrungen und warteten nur darauf, eine große Party zu feiern. Auch wenn es wahrscheinlich wenig nützte, schrubbte er seine Hände so heftig, dass sie am Ende wie frisch gekochte Hummer glänzten. Er bekam sofort wieder eine Gänsehaut, wenn er sich an die Berührung mit dem Zwerg erinnerte. Sah Miss Brookdahl denn nicht, was für ein widerliches Geschöpf dieses Alexander-Ding war? Dieses Gefühl ›ES‹ zu berühren. Liebe machte offenbar tatsächlich blind und betäubte sämtliche Sinne.

Müde stapfte er ins Wohnzimmer, wo ihn das sanft beleuchtete Holoporträt von Danah anlächelte. Brandon stieß ein höhnisches Kichern aus. Er war nun wirklich genau der Richtige, um anderen Leuten Blindheit vorzuwerfen. Wenn er damals nicht so verschossen in diese Frau gewesen wäre, hätte er sofort erkannt, was für eine billige, berechnende Schlampe sie in Wirklichkeit war. Ohne zu zögern, ging er hinüber zum Rahmen und drückte auf ERASE. Augenblicklich erlosch das sanfte Licht und damit auch Danahs falsches Lächeln. Brandon bedauerte, dass er kein Papierfoto von ihr besaß. Zu gerne hätte er das Bild langsam verbrennen sehen. In Gedanken malte er sich aus, wie die Flammen ihr falsches Lächeln auffraßen, ihre grünen Augen erblinden ließen und ihr Haar in einem wundervollen Halo zu Asche transformierte.

Mit einem Mikrowellengericht auf dem Schoß schaute er sich eine Tiersendung über seltene Brüllaffen im Amazonasgebiet an. Da der Anblick wirklicher lebendiger Tiere im Alltag zur Seltenheit geworden war, faszinierten ihn diese Beiträge für gewöhnlich. Diesmal allerdings musste er seiner Erschöpfung Tribut zollen; mitten in einer hoch dramatischen Szene, in der ein Affe mit einer Baumschlange kämpfte, dämmerte er ein. Sein Schlaf wurde aber weder durch die Geräusche des Dschungels, noch irgendwelche anderen Laute aus benachbarten Wohnungen gestört.


In den folgenden zwei Wochen begann sich die Lage in Brandons Firma langsam wieder zu entspannen. Die gefürchtete Woge des mutierten ›Hyper-Y2Ks‹ war nach und nach im Sande verlaufen. Immer weniger Firmen berichteten von Störfällen. Wie durch ein Wunder zeigten manche der defekten Programme sogar eine Form von ›Heilung‹. Prozesse, die noch vor wenigen Tagen nicht oder nur fehlerhaft abgelaufen waren, funktionierten mit einem Mal wieder tadellos und das ohne jede Umprogrammierung. Noch immer wusste man nicht, was die Ausfälle eigentlich verursacht hatte, und so blieb auch das ABEC-Phänomen (der Vorgang der ›Abrupt Bio-Electronic Convalescence‹, wie es schon bald überall in Fachkreisen genannt wurde) ein Buch mit sieben Siegeln. Jeder freute sich zwar darüber, dass die Epidemie überwunden war, der Umstand allerdings, dass man den Erreger nicht gefunden hatte, hinterließ bei nicht wenigen ein Gefühl permanenter Bedrohung. Was würde geschehen, wenn sich die komplexen Einheiten beim nächsten Mal nicht wieder von alleine kurierten? Und wo lag die Verbindung zu den jeweils vollkommen unterschiedlichen elektrischen und bioelektronischen Systemen? Wer oder was bewog einen Toaster dazu, sich auf 500 Grad zu erhitzen und sich und die umgebende Wohnung in Brand zu setzen, ohne die eingebaute Notabschaltung und den Online-Notwarnruf zu betätigen, während es ein intelligentes, autark arbeitendes Verteilungsnetzwerk der Wasserversorgung dazu »überredete«, trotz fünffacher redundanter Sicherung eine tausendfach höhere Menge an Chlordioxid beizumischen? Von »Zufall« wagte angesichts der Häufung und Zielgerichtetheit der Vorfälle jedenfalls niemand mehr zu sprechen. Doch mit was hatte man es dann zu tun? Mit einer bislang unbekannten neuen Form von Terrorismus? Warum aber fanden sich dann keine der typischen Bekennerschreiben oder politischen Forderungen?

Brandon versuchte, möglichst wenig darüber zu grübeln. Es freute ihn erst einmal, dass er deutlich weniger Überstunden machen musste; und was die großen Probleme dieser Welt betraf, so sollten sich damit Leute beschäftigen, die zehnmal mehr als er verdienten. Die Tatsache, dass in den Medien keine Berichte über terroristische Anschläge aufgetaucht waren, hatte jedenfalls nichts zu bedeuten. Schließlich war bislang auch nichts über größere Störfälle bekannt geworden. Wäre er nicht tagtäglich mit dem Programmierchaos konfrontiert gewesen, er hätte glauben können, alles sei in allerbester Ordnung. Eine widerlich lächerliche Illusion. Das menschliche Wesen und das Prinzip der Ordnung waren einfach nicht kompatibel. Schon als die ersten Höhlenmenschen einen anderen Stamm wegen seiner Waffen, seines Landes oder seiner Frauen überfallen und unterworfen hatten, war der Begriff der Ordnung mit Füßen getreten worden. Und seitdem hatte die Menschheit jede Menge dazu gelernt!


Brandons beruflicher Stress mochte zwar abgenommen haben, an seiner momentanen privaten Misere hatte sich allerdings nichts geändert. Nachdem Danah mit ihm Schluss gemacht hatte, war er nach der Arbeit immer wieder durch diverse Bars und Kneipen gezogen, doch entweder waren die anwesenden Mädchen nicht nach seinem Geschmack oder aber sein Charme zeigte nicht die gewünschte Wirkung. Charme – dass er nicht lachte! In den seltenen Fällen, in denen einmal eine ihm genehme Dame ohne Begleitung seinen Weg kreuzte, war er meist bereits schon so vollgedröhnt, dass er kaum mehr als zwei vollständige Sätze zustande brachte. Und diese bestanden dann aus solch rhetorischen Juwelen wie: »So ganz alleine, junge Frau? Wollen Sie uns beiden nicht Gesellschaft leisten – mir und meinem Vodka Sour?« Bei dieser Methode waren die Erfolgsaussichten in etwa so hoch wie der Gewinn des Jackpots bei der wöchentlichen One Billion Dollar Lottery.

Brandon war an diesem Abend fast noch nüchtern. Er hatte sich in seiner Stammbar nur zwei Drinks gegönnt, um für sein nächstes Vorhaben etwas Mut zu schöpfen. Zu Hause setzte er sich dann mit einer erschreckend kurzen Liste seiner Verflossenen vor den Holoscreen und tätigte den ersten Anruf.

Die ›Reaktivierung‹ seiner Ex-Freundinnen erwies sich als noch katastrophaler als alle vorherigen Versuche zusammen. Viele hatten seine Kennung offenbar geblockt, da er nicht einmal eine der sonst üblichen Holomails hinterlassen konnte. Und die wenigen, die er antraf, überschütteten ihn abwechselnd mit beißendem Hohn oder derben Beschimpfungen. Manche bedachten ihn auch mit beidem.

Er befand sich gerade in einer ›anregenden‹ Diskussion mit Sheelah Pratt, geschiedene van Hooftstraat, als ihn ein Geräusch aus der Nachbarwohnung ablenkte. Es hörte sich an, als sei eine schwere Vase oder ein Schränkchen umgefallen.

»Mein Ex war auch so ein Loser wie du«, bemerkte Sheelah soeben.

In ihrem kunstvoll hochgestecktem Haar glitzerten mehrere Mini-Diademe, von denen eines sicher mehr kostete, als Brandon in einem halben Jahr verdiente.

»Aber immerhin war Luuk nicht unvermögend«, fügte sie recht gelangweilt an. »Nach der Scheidung hat mir der Mistkerl immerhin eine saftige Abfindung zahlen müssen. Wir Frauen haben ja schließlich auch unsere Bedürfnisse …«

Ein lautes Klirren durchdrang die defekte Schallmembrane in Brandons Wohnzimmer. Was war da drüben nur los? Feierte man nebenan etwa eine jüdische Hochzeit?

»Brandon!«, schrie Sheelah plötzlich. »Du hörst mir ja gar nicht zu! Das ist ja wieder mal sooo typisch! Hörst du? Das ist ein weiterer Makel an euch Männern. Nie könnt ihr uns Frauen zuhören! Da ist es doch kein Wunder … «

»Alexander! Nicht!! ALEXANDER!!!«, Miss Brookdahl kreischte das letzte Wort förmlich heraus.

Brandon spürte sofort, dass die Sache diesmal ernst war. Seine Nachbarin schwebte ganz offensichtlich in akuter Gefahr. Ohne zu zögern, hastete er hinaus auf den Flur und hämmerte gegen ihre Tür. Sheelahs empörtes Geschrei bildete dazu die Begleitmusik.

»Brandon?«, dröhnte es bis hinaus auf den Flur. »Was tust, du da? Du wirst doch jetzt nicht einfach weggehen, hörst du? Bislang bin noch immer ich es, die ein Gespräch beendet, kapiert? Brandon? Wage es nicht, jetzt nicht … BRANDON!!!«

Er schlug so fest gegen die Tür, dass seine Faust schmerzte.

»Miss Brookdahl? Machen Sie bitte auf!! MISS BROOKDAHL!!!«

Niemand öffnete.

Stattdessen stürzte erneut etwas Schweres um. Es klang, als ob ein fetter Sumo-Ringer auf den Boden gefallen wäre. Kurz darauf hörte er einen noch unheimlicheren Laut: ein hämisches Kinderlachen.

Brandon rannte zurück zu seiner Wohnung und zwängte sich durch den schmalen Spalt seines Fensters. Ihm blieb nur die vage Hoffnung, dass auch nebenan die Klimaanlage defekt war und Miss Brookdahl daher - genau wie er - das Fenster geöffnet hatte.

»Ah! Du kommst zurück!«, bemerkte Sheelah soeben. »Hast wohl eingesehen, dass man mit mir nicht in dieser Form umspringen kann, nicht wahr? Was bist du nur für ein jämmerlicher ... Brandon? Brandon, bleib gefälligst hier! Ich bin noch nicht fertig mit dir!«

Als er vorsichtig auf den etwa fußbreiten Sims hinaus trat, versuchte er nicht darüber nachzudenken, dass er sich hier im 67. Stockwerk befand. In dieser Höhe erreichten Windböen nicht selten eine Stärke, die einen Menschen wie ein lästiges Insekt in die Tiefe schleudern konnten.

»Brandon!«, rief Sheelah noch immer vom Wohnzimmer aus. »Komm SOFORT zurück!«

Er presste sich mit dem Rücken fest gegen die Wand und atmete tief durch. Zum ersten Mal seit über drei Wochen freute er sich darüber, dass sich auch hier oben kaum ein Lüftchen regte. Es ist nicht weit, versuchte er sich Mut zu machen. Nur ein Katzensprung. Höchstens sechs Meter.

Zaghaft begann er sich zu bewegen. Nach etwa einem Meter verharrte er keuchend. Seine Knie zitterten wie bei einem Greis. 20 kleine Trippelschrittchen hatte er für den Abschnitt benötigt. Wenn er in diesem Tempo weitermachte, musste er sich um seine Nachbarin keine Gedanken mehr machen, da sie bis dahin garantiert an Altersschwäche gestorben wäre. Für den nächsten Meter brauchte er nur noch zwölf Schritte, für den dritten noch neun. Endlich berührten seine Finger Fensterglas. Es ließ sich jedoch nicht bewegen. Jede Wohnung besaß zwei Fenster und dieses war definitiv verschlossen. Brandon zählte langsam bis zehn und schob sich dann weiter. Der Schweiß rann ihm in Fluten die Stirn herab und zwang ihn ständig dazu, mit den Augen zu blinzeln.

»One down – one to go«, murmelte er immer wieder. »Nur noch zwei lächerliche Meter . Nur noch 14 kleine Schritte.«

Als er wieder Mauerwerk in seinem Rücken spürte, überkam ihn plötzlich ein beunruhigender Gedanke. Und was machst du, wenn auch das zweite Fenster verschlossen ist?

»Blödsinn!«, rief er laut aus und wäre durch die ruckhafte Bewegung seines Oberkörpers beinahe vom Sims gestürzt.

Im letzten Moment gelang es ihm, mit gestreckten Armen wieder das Gleichgewicht zu erlangen.

»Das würde echt zu dir passen«, kicherte er nervös, »einen Meter vor dem Ziel abzustürzen.«

Als seine Fingerspitzen das nächste Mal Glas ertasteten, gab die Fläche ein wenig nach. Er gestattete sich allerdings keinen Moment der Erleichterung, da ihm jetzt erst der wirklich knifflige Teil seiner kleinen Höhenwanderung bevorstand. Der Sims war zu schmal, als dass er eine Drehung gewagt hätte, und so forschte er blind mit Schuhspitze und Händen nach dem geeigneten Spalt zum Einstieg. Er musste höllisch aufpassen; sollten die Fensterscharniere hier nicht so eingerostet sein wie bei seiner Wohnung, konnte ein zu fester Stoß dazu führen, dass der halbe Flügel plötzlich herum schwang und ihm einen Freiflug hinunter auf die Straße bescherte.

Die Sorge erwies sich als unbegründet; alles an diesem Gebäude befand sich in einem gleichmäßigen Zustand des Verfalls. Die Scharniere bildeten da keine Ausnahme. Als er schließlich vorsichtig mit dem Rücken zuerst in die Wohnung stieg, fiel sein Blick unweigerlich auf den schmalen Sims. Deutliche Risse durchzogen den Stein, saurer Regen und Abgase hatten zudem die Kante an vielen Stellen abbröckeln lassen. Nur gut, dass ich das erst jetzt sehe, dachte er. Wäre ihm die marode Beschaffenheit des Vorsprungs schon vorher aufgefallen, hätten ihn keine zehn Replikanten nach draußen zerren können.

Er war im Schlafzimmer gelandet. Ein kurzer Blick reichte aus, um zu erkennen, dass sich niemand außer ihm im Raum befand. Da alle Wohneinheiten dieses Blocks identisch geschnitten waren, konnte sich seine Nachbarin demnach nur im Wohnzimmer oder der winzigen Nasszelle aufhalten. Er verharrte kurz und lauschte. Keine Schritte. Keine umfallenden Gegenstände. Kein Kinderlachen.

Seltsamerweise wirkte die Stille nun noch bedrohlicher als der Lärm und die Schreie zuvor. Brandon wagte es nicht, laut zu rufen. Etwas Böses schien hier zu lauern, bereit, sich jederzeit auf ihn zu stürzen.

Möglichst geräuschlos öffnete er die Tür zum Wohnzimmer. Schon nach einer Handbreit stieß er jedoch auf ein Hindernis. Durch den schmalen Spalt konnte er umgeworfene Stühle und Scherben am Boden erkennen. Wo war nur Miss Brookdahl?

Er stemmte sich fester gegen die Tür, und schließlich gab sie unter knirschendem Protest nach.

Der Raum sah aus, als sei eine Splittergranate explodiert. Überall lagen Reste von Geschirr und Stofffetzen verstreut. Die einheitlich weißen Wände waren durch wilde rote und grüne Schlieren verunstaltet worden. Brandon, der vergleichbare Szenarien aus diversen Holo-Horror-Thrillern kannte, befürchtete sofort das Schlimmste. Als seine Finger allerdings vorsichtig über die Schmierereien fuhren, ertasteten sie eine gallertartige Masse, die nach Erdbeeren roch. Er atmete erleichtert auf. Die Vandalen hatten die Wände zumindest nicht mit Blut, sondern nur mit Marmelade verziert. Das Gefühl der Befreiung hielt nur wenige Augenblicke an; als Brandon seine Nachbarin zusammengekauert hinter einem umgestürzten Sessel erspähte, waren seine Sinne plötzlich wieder in höchster Alarmbereitschaft.

Er wollte ihr zur Hilfe eilen, doch die alte Dame streckte ihm einen zitternden Arm abwehrend entgegen.

»Nein … «, keuchte sie. »Passen Sie auf, Brandon … er … er steckt hier irgendwo. Und er ist gefährlich!«

»Er? Von wem reden Sie?«, verwirrt blickte er sich um.

»Von Alexander. Er … er reagiert auf keine meiner Anweisungen mehr. Stattdessen … «

Ein ersticktes Weinen hinderte sie daran, weiterzusprechen. Das war aber auch nicht notwendig. Selbst ein Blinder hätte feststellen können, was hier stattdessen geschehen war.

Brandon bewegte sich wie auf einem Minenfeld. Nachdem er umständlich einen halb zersplitterten Beistelltisch und die Reste einer großen Bodenvase umrundet hatte, entdeckte er schließlich den Gesuchten. Das Alexander-Wesen saß hinter einem quer stehenden Sofa an der Wand und schaufelte sich mit den Fingern Marmelade in den Mund. Sein altersloses Gesicht sah aus, als sei es durch die Scheibe eines altertümlichen Autos ohne Airbag oder Antigravitationsschild katapultiert worden. Alexander achtete jedoch nicht auf die rote Masse, die selbst von seinen Haaren tropfte. Vergnügt quietschend angelte er mit seinen verklebten Finger seelenruhig auch nach dem letzten Rest im Glas. Brandon überlief es eiskalt. Das Ding dort war nur die abstoßende Karikatur eines liebenswerten Lausbuben. Schon bei der ersten Berührung hatte er gespürt, dass dieser Zwerg hinterhältig und böse war. Etwas musste bei der Konstruktion des Replikanten furchtbar schief gelaufen sein, und nun hatte das widernatürliche Geschöpf sein wahres Wesen gezeigt.

Er wandte sich zu seiner Nachbarin um.

»Wie lautet sein Codewort?«

Jeder Replikant erhielt von seinem Besitzer ein Codewort, mit dessen Hilfe alle Funktionen der biomechanischen Lebensform in eine Art Standby-Modus geschaltet werden. Dies war eine doppelte Absicherung, falls normale Kommandos wie »Halt!« oder »Stopp!« keine Wirkung mehr zeigen sollten. UMC versicherte zwar, dass es sich dabei um eine vollkommen überflüssige Redundanz handelte; da die Anwender ihrer Produkte aber ›mehr als sicher‹ sein sollten, hatte man sie zusätzlich eingebaut.

»Rumpelstilzchen«, antwortete Miss Brookdahl. »Aber … «

Brandon achtete nicht weiter auf ihre Worte. Er näherte sich der sitzenden Gestalt auf etwa zwei Meter und rief: »Rumpelstilzchen!«

Alexander nahm überhaupt erst jetzt seine Gegenwart wahr. Anstatt jedoch wie eine Marionette alle viere von sich zu strecken, grinste er ihn mit seinem rot verschmierten Clownsmund nur frech an.

»Guten Tag, Mr. Brandon«, kicherte er. »Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Mit zwei seiner dürren Finger klaubte er einen Rest Marmelade aus dem Glas und streckte ihm dann den Arm auffordernd entgegen.

»Auch mal probieren? Ist leeecker!«

»Rumpelstilzchen!«, schrie Brandon nun.

Das Alexander-Ding kicherte lauter. Bösartiger.

»War das jetzt ein Ja oder ein Nein?«

Nur mühsam unterdrückte Brandon einen Fluch. Der Replikant hatte weit mehr als nur eine Fehlfunktion, er unterlief offenbar gezielt unzählige von Not- und Abschaltvorgängen und handelte ausschließlich nach seinem eigenen Ermessen. Er benahm sich fast wie ein selbständiges Individuum. Oder wie ein störrisches kleines Kind.

Mit einem tiefen Seufzer wandte sich Brandon von dem unheimlichen Wesen ab. Geschlagen und müde schlurfte er mit hängenden Schultern Richtung Ausgang. Er hatte noch keine drei Schritte gemacht, als er plötzlich herumfuhr und sich mit einem lauten Schrei auf den Zwerg stürzte. Der Replikant war über den Angriff so erstaunt, dass er nur unkoordiniert mit seinen Armen fuchtelte. Brandon presste sein ganzes Körpergewicht gegen die kleine Gestalt und entging so den meisten seiner Attacken. Der Schein trog. Das Geschöpf mochte zwar die Größe eines Kindes haben, seine Kräfte überstiegen die eines Erwachsenen aber mindestens um das Doppelte.

Eine klebrige Faust erwischte Brandons Schläfe und ließ ihn fast die Besinnung verlieren. Viel schlimmer als das wilde Schlagen war das Kreischen, das die Kreatur nun unablässig wie eine Sirene ausstieß. Brandon versuchte, den Schwindel und die Schmerzen in seinen Ohren zu unterdrücken und tastete blind im Nacken seines Gegners herum. Endlich fand er die richtige Stelle. Er drückte fester und alles Kreischen erstarb. Glücklicherweise funktionierte immerhin noch die manuelle Abschaltung. Alexanders Arme klatschten wie tote Schlangen laut auf den Boden. Seine offenen Augen hatten jeglichen Ausdruck verloren und starrten ins Nichts. Brandon verpasste ihm dennoch einen Kinnhaken.

»Verdammter Mistzwerg!«, keuchte er.

Es störte ihn nicht, dass er sich dabei über und über mit Marmelade besudelte. Er spürte auch nicht, dass seine Haut an den Knöcheln bei den weiteren Hieben aufplatzte.

»Verfluchte Missgeburt!«

Es tat einfach zu gut, immer und immer wieder in diese teuflische Clownsfratze zu schlagen. Jeder Treffer ließ das Replikantenblut spritzen, bis das Gesicht in Rot zu verschwimmen schien.


Nachdem er seine Wut abreagiert hatte, kehrte Brandon zu seiner Nachbarin zurück und setzte sie vorsichtig in einen Sessel. Glücklicherweise war Miss Brookdahl bis auf ein paar blaue Flecken nichts Ernsthaftes geschehen. Der psychische Schaden war dagegen beträchtlich. Immer wieder wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt.

»Wie konnte das denn nur geschehen?«, jammerte sie. »Alexander war doch ein so lieber Freund. Immer höflich und hilfsbereit. Und dann … dann … wie aus heiterem Himmel … !«, ihre Worte verloren sich in einem weiteren Schluchzen. »Er … er fing plötzlich an, Dinge kaputt zu machen! Einfach so. Warum hat er das nur getan? Und wieso reagierte er nicht mehr auf meine Anweisungen, nicht einmal auf das Codewort?«

Das waren Fragen, die sich auch Brandon stellte. War das von allen gesuchte Hyper-Y2K etwa auch hierfür verantwortlich? Konnte es sein, dass er übergesprungen war und nun auch bioelektronische Lebensformen befiel? Er hatte nicht die geringste Ahnung.

»Es war wahrscheinlich nur ein blöder Kurzschluss«, antwortete er. »Irgendwelche Steuerkreise haben einfach schlappgemacht. Solche Störfälle geschehen zwar nur äußerst selten, doch es gibt sie.«

Er war überrascht, wie leicht ihm die Lüge über die Lippen kam. Von derartigen Ausfällen bei Replikanten hatte er bislang jedenfalls noch nie etwas gehört.

»Die Nachrichten bringen davon natürlich nichts, denn man hat wenig Interesse daran, derartige Dinge an die Öffentlichkeit zu tragen.«

Hier war er sich dagegen absolut sicher. Mit »man« meinte er natürlich die UMC und falls es in der Vergangenheit tatsächlich derartige Aussetzer gegeben haben sollte, so würde der Konzern tausendprozentig nichts davon nach außen dringen lassen. Die Replikanten waren ein Multi-Billionen-Dollar-Geschäft, und in dieser Liga wurde mit harten Bandagen gekämpft. Im Vergleich zu schlechter PR war die Kernschmelze eines Atomreaktors nur eine momentane Irritation.

Brandon brühte seiner Nachbarin einen Ingwertee, und während sie sich langsam wieder beruhigte, ging er daran, das Chaos in der Wohnung zu beseitigen. Miss Brookdahl würde einige neue Möbel und neues Geschirr benötigen, ansonsten aber hielt sich der Schaden in Grenzen. Am schlimmsten waren die klebrigen Schmierereien an den Wänden; selbst mit heißem Wasser und Reinigungsmitteln ließ sich nur die äußere Schicht entfernen. Zurück blieben blasse, grün-braune tachistische Wirbel, die eher in das Atelier eines übergeschnappten Künstlers als die Wohnung einer Seniorin gepasst hätten. Nach weiteren vergeblichen Versuchen zuckte Brandon schließlich mit den Schultern.

»Was soll’s! UMC wird’s wohl verkraften, auch noch einen Anstreicher kommen zu lassen.«

»So billig wird mir die Firma nicht davonkommen!« Der Tee schien zu wirken, denn Miss Brookdahls Stimme klang jetzt wieder sehr viel kräftiger. »Die werden noch ihr blaues Wunder erleben, das können Sie mir glauben, Brandon! Ich mag ja eine alte Frau sein, aber ich bekomme es immer noch mit, wenn jemand glaubt, mich für dumm verkaufen zu können.« Sie fuchtelte energisch mit den Armen. »Was sage ich ›für dumm verkaufen‹ – einen ›Anschlag‹ haben sie auf mich verübt! Wer weiß, was noch hätte geschehen können, wenn Sie nicht rechtzeitig zu Hilfe gekommen wären. Alexander … er ließ mich nicht mal ans Videophone. Ich war regelrecht seine Gefangene! Und dann dieses schreckliche Lachen! Die ganze Zeit über hat er nur gelacht!«

Nachdem das Zimmer wieder einen bewohnbaren Eindruck machte, blieb nur noch die Ursache des ganzen Chaos übrig. Brandon beugte sich über den grinsenden Zwerg und starrte ihn nachdenklich an. Vergeblich versuchte er in den toten, leeren Augen ein Motiv für das destruktive Verhalten zu finden. Der Replikant wirkte jetzt so leblos und unschuldig wie ein ausgestopfter Teddy. Wenn da nicht dieses wissende, hämische Grinsen gewesen wäre. Durch die plötzliche Ausschaltung waren die Gesichtszüge erstarrt und in eine dämonische Fratze verwandelt worden.

»Was soll mit Alex … mit diesem Ding hier geschehen?«, fragte er schließlich.

Miss Brookdahl vermied es, auch nur in die Richtung des künstlichen Geschöpfes zu blicken.

»Packen Sie es in den Schrank im Flur«, antwortete sie nun wieder mit zittriger Stimme. »Und schließen Sie um Gottes Willen die Tür gut ab!«

Da seine Nachbarin offensichtlich weder Verwandte noch nähere Freunde besaß, fragte Brandon sie auch nicht danach, ob sie die Nacht in einer anderen Wohnung verbringen wollte. Sie weigerte sich auch strikt dagegen, einen Arzt in Anspruch zu nehmen.

»Ich weiß, Sie meinen es nur gut, Brandon«, entgegnete sie auf seinen Vorschlag, »aber mir fehlt wirklich nichts. Nach all der Aufregung muss ich jetzt nur ein wenig zur Ruhe kommen. Und morgen werde ich den Leuten bei UMC die Hölle heißmachen.«

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie mit dem Notwendigsten versorgt war, verließ er schließlich die Wohnung.

»Und scheuen Sie sich nicht, mich beim geringsten Problem zu rufen!«, sagte er zum Abschied.

Als er vor seiner eigenen Wohnungstür stand, durchzuckte ihn kurz ein unangenehmer Schreck, doch schließlich fand er die Schlüsselkarte in seiner Hose. Um nichts in der Welt hätte er nochmals den Weg über den Außensims nehmen wollen.

Müde stolperte er ins Bad. Vor dem Spiegel sah er nun, dass nicht alles Rot auf seinem Körper von Marmelade herrührte, an einigen Stellen an Schulter und Oberarmen hatte ihm das Mistding von Alexander recht tiefe Schrammen verpasst. Seine Hände glänzten wie rohes Mett. Zudem war der linke Teil seiner Schläfe bis hinunter zum Ohr geschwollen. Morgen würde es bestimmt in allen Farben des Regenbogens leuchten.

»Na klasse!«, stöhnte er. »Echt Giga-A !«

Er beträufelte einen Wattebausch mit Jodtinktur und tupfte damit über alle Verletzungen. Das Zeug brannte wie Salzsäure; dennoch war er sich nicht sicher, ob er den grinsenden Zwerg nicht noch öfter hätte schlagen sollen.


Es war drei Tage später, als Brandon zum ersten Mal die weissen Männer sah. Er war ausgesprochen guter Laune, da er seine Firma fast einmal pünktlich hatte verlassen können. Auf dem Rückweg war er zur Feier des Tages sogar in sein Stamm-Deli gegangen und hatte sich mit einer Flasche Port, Crackern, Weintrauben und Roquefort Käse versorgt. Auch wenn sein Privatleben aktuell nicht der Rede wert war, so gab es doch auch Dinge, die man sehr wohl ganz allein genießen konnte. Und dazu gehörte für ihn ein Abend mit Wein und Käse und ein urzeitlicher 2D-Schwarz-Weiß-Film auf dem hierfür mehr als überqualifizierten Holoscreen.

Ausgelassen pfeifend verließ er den Aufzug und schlenderte den Flur entlang. Sein Pfeifen verstummte abrupt, als er die beiden Männer bemerkte. In ihren weißen Overalls sahen sie wie Anstreicher oder Kammerjäger aus, doch Brandon konnte keine der sonst üblichen Utensilien entdecken. Nur einer der Männer trug eine schmale schwarze Ledermappe. Der Fremde war mittelgroß und äußerst korpulent. Sein Bauch spannte den dünnen Stoff des Overalls so stark, dass Brandon befürchtete, er würde jeden Augenblick reißen. Sein Gesicht ähnelte dem einer Bulldogge. Einer Bulldogge mit Bluthochdruck, dachte Brandon. Der fast kahle Schädel, die kleinen schwarzen Augen, die hängenden Wangen, alles schien vor Schweiß zu glänzen. Und das bei einer konstanten Flurtemperatur von 19 Grad.

Sein Begleiter war das genaue Gegenstück; er war beinahe zwei Meter zehn groß und extrem hager. Unter seiner weißen papierartigen Hülle schienen nur Knochen zu stecken. Passend zur Kleidung wies seine Haut einen nahezu identischen Farbton auf. Sie wirkte so weiß, als sei sie künstlich gebleicht worden. Wie ein farbloser Clown oder ein Vampir, kam es Brandon in den Sinn. Das einzig Dunkle an ihm waren seine Augen.

Als er an den beiden Männern vorüberging, fing er von dem ›Vampir‹ einen kurzen, intensiven Blick auf, der aus unendlich tiefen, öligen Tümpeln zu kommen schien. Für einen Augenblick hatte Brandon das Gefühl, etwas Kaltes, Schleimiges berührt zu haben. Seine Hand zitterte leicht, als er seine Schlüsselkarte über den Sensor zog.


Er zögerte kurz und neigte den Kopf nochmals verstohlen zur Seite. Die Männer standen vor Miss Brookdahls Apartment und jetzt erkannte er auch die Abzeichen an den Overalls. Die weissen Männer kamen von UMC.

Der Dicke trug das Logo von Prometheus Systems, der Firma, die jegliche Software für Replikanten produzierte (es zeigte eine stilisierte Fackel mit den Initialen P und S) und Mr. Dracula war ein Mitarbeiter von BCCI (Bio Chemical Computers Inc.), dem Hersteller der Hardware. Auf seinem Overall war ein von einer Doppelhelix durchkreuztes Zahnrad zu erkennen. Brandon zuckte mit den Schultern. Die Typen hätten zwar auch in einem altertümlichen Kuriositätenkabinett Karriere machen können, aber immerhin schien sich UMC nun endlich um die Fehlfunktion bei Miss Brookdahls neuem Mitbewohner zu kümmern.

Die Weissen Männer

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