Читать книгу Kamber, Kommissar - Frankreich-Krimi - Arthur Haefliger - Страница 5
1.
ОглавлениеDie ersten Strahlen der Morgensonne huschten über den See. Ein Frühkurs-Dampfer tutete von ferne. Ein für den Monat August schon recht kühler Morgenwind kräuselte die Wellen.
Kommissar Kamber, dessen Vornamen Thomas man allgemein mit „Tom“ abkürzte, war ein Frühaufsteher. Kurz nach sechs Uhr war er zum Seeufer gegangen. Dort hatte er im kleinen Badhäuschen seinen Trainingsanzug mit dem sportlichen Schwimmdress vertauscht. In einem zügigen Brustcrawl schwamm er etwa dreihundert Meter in den See hinaus. Dort drehte er sich um und kehrte auf dem Rücken im Gleichschlag – seiner Spezialität – zum Ufer zurück, nicht ohne am Schluss des morgendlichen Vergnügens einen kleinen Endspurt hingelegt zu haben. An Land fröstelte ihn. Er trocknete sich ab und schlüpfte wieder in seinen Anzug. Er blieb eine Weile stehen. Wie er so dastand, eine breite kräftige Gestalt, strahlte er eine gewisse Ruhe aus. Er hatte ein scharfkantiges Gesicht mit einer bedeutenden Narbe auf der rechten Stirnseite.
Aus den Strähnen seines Blondhaars tropfte das Seewasser über die Wangen. Mit seinen blauen Augen schaute er über den Schilfgürtel und den See zum jenseitigen Ufer, wo man in der klaren Luft jedes einzelne Haus erkennen konnte. Der Blick über das Wasser und die weiträumige Landschaft war für ihn so etwas wie ein kleines Geschenk zum Tagesbeginn. Immer wenn er morgens an einem Seeufer über die Wellen blickte, kam ihm der Tag in den Sinn, an dem er bei aufgehender Sonne mit einer blonden Kollegin an einem Seestrand stand. Nach einer überaus anstrengenden Nachtübung seines Korps war er damals zufällig am Seeufer mit einer Polizeiassistentin zusammengetroffen. Nach den wohl etwas übertriebenen Strapazen des nächtlichen Orientierungslaufs hockte sie überanstrengt und ausgebrannt am Boden. Kamber half ihr beim Aufstehen. Einer Eingebung des Augenblicks folgend, schloss er sie in seine Arme und strich ihr mit seinen Händen aufmunternd übers Haar. Das war der Anfang zu einer Verbindung, die zuerst zu einer guten Freundschaft und bald einmal zu einer schönen Liebschaft führte. Am Ende einer Woche trafen sich die beiden, Marie-Louise und Tom, jeweils nach Dienstschluss. Je nach Lust und Laune mischten sie sich das eine Mal in einer Disco unter die Jungen, wo sie die Nacht durchtanzten. Ein ander Mal zogen sie die Wanderschuhe an. Sie streiften auf Nebenwegen durch das Land, wanderten etwa einem Fluss entlang oder stromerten durch die Wälder. Den Tag beschlossen sie meist in irgendeinem Landgasthof. Dort setzten sie sich zu einem einfachen guten Essen hin, bei dem ein frischer Wein nicht fehlte. Dann machten sie sich zu einem kleinen Nachtbummel auf, bevor sie in einem Zimmer des Gasthofs in die Kissen sanken. Marie-Louise beschäftigte sich im Dienst vor allem mit Verkehrsunfällen, wobei sie der Kommandant nicht zu schweren Fällen beizog. Eines Abends kam es auf einer Landstrasse zum Zusammenstoss eines Lastwagens, der Öl transportierte, mit einem Radfahrer, der zum Glück nur leicht verletzt wurde, aber der Sachverhalt musste doch polizeilich abgeklärt werden. Ein Kollege war mit einem Dienstwagen bereits weggefahren, als der Kommandant Marie-Louise fragte, ob sie mit ihrem Motorrad hinfahren könnte, um ihm behilflich zu sein. Sie war dazu ohne weiteres bereit und startete mit ihrer schweren Maschine. Es war dunkel und neblig. In einer Rechtskurve war ein Ölbelag auf der Fahrbahn, der bei der schlechten Sicht nicht zu erkennen war. Marie-Louise schlitterte auf dem Ölteppich auf die andere Strassenseite, stürzte und prallte mit dem Kopf auf einem Wehrstein auf, wo sie bewusstlos liegen blieb. Ein Automobilist, der aus der Gegenrichtung kam, konnte sie im letzten Augenblick sehen und stoppen. Er trug sie in seinen Wagen und führte sie sofort in das nächste Spital. Dort stellten die Ärzte eine schwere Kopfverletzung und zahlreiche Knochenbrüche fest. Ein ganzes Team unter der Leitung des Chefarztes, eines erfahrenen Chirurgieprofessors, arbeitete im Operationssaal pausenlos. Ihre Arbeit war erfolglos. Marie-Louise starb an den sehr schweren Folgen des Sturzes. Es traf Tom schwer, und von da an war er, der Kommissar Kamber, Alleingänger.
Im August verbrachte er meist ein paar Tage in der kleinen Waadtländer Ortschaft Buchillon am Genfersee. Er war dort Gast bei seinem Freund Charlie, der den bescheidenen, in Seenähe gelegenen Gasthof mit dem ausgesuchten Namen „Zum Schilfrohr“ ein wenig mit der linken Hand führte. Die weissgetünchte Fassade des Hauses war dem See zugewandt, zwischen den Fensterreihen rankten sich Reben empor, neben dem Haustor glänzte das Wirtshausschild mit einem Schilfbündel in der Sonne. So war Kamber auch dies Mal nach dem Verlust seiner Freundin wieder dort eingekehrt und seiner Gewohnheit gemäss am Morgen nach dem Ankunftstag zum See schwimmen gegangen. Nach dem Bad schlenderte er, die Badetasche über die Schulter gehängt, leichten Schrittes vom Seeufer zum Gasthof zurück. Als er nicht mehr weit von seinem Ziel entfernt war, rannte ihm Charlies Hund im Karacho entgegen. Es war ein noch recht junger Sennenhund, der den Namen „Rambo“ trug. Zu Unrecht, denn er war durchaus kein wilder Raufbold, sondern ein zutraulicher, friedfertiger Hund, der niemandem etwas zuleide tat. Er sprang bellend an Kamber hoch und war ausser sich vor Freude. Sie waren Freunde geworden. Wenn der Kommissar durch die Gegend wanderte, war Rambo meist sein Begleiter. Er wartete jeweils mit Ungeduld auf den Augenblick, in dem Kamber beim Weggehen die Tür öffnete und ihm „Komm’ Rambo!“ zurief. Kommissar und Hund langten in neckischem Spiel beim Gasthof an. Kamber öffnete die Tür der Wirtsstube. Sie war nicht sehr geräumig, etwa ein Dutzend Tische fanden darin Platz. Die meisten standen an der Fensterfront, von ihnen aus hatte man einen wundervollen Blick auf den See hinaus. An der einen Wand neben der Theke warb ein älteres, farbenfrohes Plakat mit Segelschiffen für die Stadt Lausanne, an den andern Wänden hatte Charlie einige ausgesuchte Grossaufnahmen des Waadtländer Photographen Marcel Imsand aufgehängt: Schloss Chillon in einer ungewöhnlichen Perspektive von der Seeseite her, ein alter gründlich überholter Dampfer in voller Fahrt vor den Reben der La Côte, der Genfer Jet d’Eau mit den Konturen der Stadt im Morgenlicht. Suzette, eine muntere Welsche in verblichenen Jeans und roter Bluse, war im Restaurant beim Aufräumen. Zum Teil war noch aufgestuhlt. Suzette hatte den Staubsauger bis in alle Ecken geschoben und war im Begriff, den Rest der Stühle wieder hinzustellen. Sie strich sich mit der Hand das schwarzgelockte Haar aus der Stirn. „Bonjour commissaire, toujours matinal“, begrüsste sie Kamber, als er zur Tür eintrat. „Guten Tag, Mademoiselle Suzette“, erwiderte er. Mit einer den Raum umfassenden Geste und mit anerkennendem Nicken fügte er bei: „Wo Sie sind, ist immer alles blitzblank und in bester Ordnung, félicitations!“ Suzette fragte, ob er das Frühstück wünsche. Er rieb sich die Hände. „Sehr gern“, sagte er, denn nach dem Morgen-schwimmen meldete sich der Hunger. Suzette kannte seine Wünsche und brachte ihm Fruchtsaft, kräftiges dunkles Brot, Butter, Honig und starken heissen Kaffee, der seinen feinen Duft bis zur Tür verströmte. Im Radio sang Edith Piaf „Dansez, dansez Mylord“. Suzette summte mit. Kamber blickte durch die Fensterscheiben. Der Briefträger, ein junger Mann mit langen schwarzen Haaren, kam auf seinem Motorrad dahergefahren. Er stellte es lässig an den Gartenzaun, betrat die Gaststube und übergab Suzette die Postsachen. Irgendetwas sagte er ihr leise ins Ohr. Suzette lachte auf und drohte ihm mit dem Zeigfinger. Der Briefträger grüsste den Kommissar, verliess die Gaststube und schwang sich wieder auf sein Motorrad. Suzette sah die Briefschaften durch, nach einiger Zeit kam sie an den Tisch Kambers. „Votre courrier, commissaire“. Es war nichts Dringendes, die gestrige Zeitung, eine kleine ergänzende Weisung seines Kommandanten, der Brief einer besorgten Mutter, deren Sohn in ein Strafverfahren verwickelt war. Nach dem Morgenkaffee nahm Kamber seine Shag-Pfeife aus der Tasche, kratzte sie gründlich aus und stopfte mit Sorgfalt den feinen Holländer Tabak ein, den er in einer flachen Metalldose bei sich hatte. Das Streichholz flammte auf, die ersten Rauchkringel des Tages stiegen in die Luft, die ersten Züge aus der Pfeife waren stets ein besonderer Genuss. „Ça sent bon“, bemerkte Suzette im Vorbeigehen. Kamber blieb eine Weile sitzen und genoss die morgendliche Stille.
Dann ging er in sein Zimmer, klappte sein Notebook auf und schaute nach, welche E-Mails allenfalls eingegangen waren. Meist waren es Reklamen von Geschäftsfirmen. Ein Mitarbeiter berichtete, er habe an der nationalen Polizeimeisterschaft den dritten Rang im Fünfkampf erreicht. Seine Sekretärin gab – verbunden mit guten Wünschen für geruhsame Ferientage – die Information durch, der Drucker in seinem Büro sei repariert und funktioniere wieder tadellos. Ein Kollege aus der Nachbarregion hatte den Arbeitsplatz gewechselt und gab die neue Telefonnummer bekannt. Jemand hatte auf Reisen an ihn gedacht: „Freundliche Grüsse von meinem Ferientrip, Fritz Bechler.“ Kamber schloss sein Laptop und schob es ein wenig beiseite, damit es während des Tages nicht dem Sonnenlicht ausgesetzt sei. Er öffnete das Fenster und hängte den Badeanzug mit dem Strandtuch zum Trocknen auf. Unten auf der Strasse ging der Nachbar vorbei, der ihm gelegentlich sein Schiff auslieh, und winkte mit der Hand zu ihm hinauf: „Bonne journée, commissaire!“ „Adieu, cher Monsieur!“ Den Trainingsanzug zog Kamber aus und schlüpfte in die helle leinene Freizeithose, die er jeweils in Buchillon trug. Mit dem Kamm fuhr er sich durch die Haare, die vom Seewasser noch feucht waren. In der Gaststube hatte das Telefon geläutet. Suzette rief nach oben: „Commissaire, téléphone!“ Kamber ging hinunter und nahm den Hörer. Es war Fred Hubler, der Direktor der Strafanstalt, der anrief: „Tag Tom, es tut mir leid, dich schon in der Frühe mit einer schlechten Nachricht zu behelligen. Fritz Bechler – du kennst ihn ja – ist abgehauen.“ „Ich weiss es.“ „Du weisst immer schon alles. Von wem hast du denn das erfahren können?“ „Von ihm selber. Er hat mir ein E-Mail geschickt, von seinem ‚Ferientrip’, wie er schrieb.“ „Unverschämter Halunke“, brummte Hubler. „Er hatte Helfershelfer von draussen. Einfach und doch raffiniert haben sie die Flucht organisiert. Als der Lieferwagen des Bäckers durch das Tor einfuhr, folgte ihm dichtauf im Rückwärtsgang ein Personenwagen. Irgendwie brachten sie es fertig, den Schliessmechanismus des Tors zu blockieren. Bechler, der an diesem Tag in der Küche beschäftigt war, konnte unbemerkt abschleichen und, vom Fahrzeug des Bäckers verdeckt, zum wartenden Personenwagen gelangen. Er stieg ein, und schon brausten sie los. Man entdeckte die Flucht erst nach ein paar Minuten. Wir haben natürlich alles alarmiert, auch die Grenzposten. Es war schon zu spät. Von einem nahen Polizeiposten berichtete man uns, man habe vor kurzem ein etwas auffälliges Fahrzeug gesichtet, aber wir hatten damals unsere Fahndungsmeldung noch nicht durchgegeben. Bis jetzt fehlt jede Spur.“ „Habt ihr Bechlers Zelle schon geräumt?“ „Nein, das machen wir heute Morgen.“ „Nein“, sagte Kamber, „alles belassen wie es ist und abschliessen. Ich komme. Etwa in einer Stunde bin ich bei dir. Ich freue mich, dich, meinen alten Freund, wieder einmal zu sehen. Eine schönere Gelegenheit wäre mir freilich lieber gewesen.“ „Dein Besuch ist mir ein Vergnügen, Tom, also auf bald.“ Kamber ging über die leicht knarrende Holztreppe in sein Zimmer zurück. Er setzte sich in den Lehnstuhl und faltete die gestrige Zeitung auseinander. Er wollte sie nur schnell durchblättern, als er mehr zufällig auf eine Meldung stiess, die ihn betroffen machte: Ein Maurerpolier, mit dem er früher eine Zeitlang in einer Faustballmannschaft gespielt hatte, war bei der Arbeit tödlich verunfallt. Er wurde von einem Gerüstbalken getroffen, als ein Baukran einen unglücklichen Schwenker machte. Es war Kamber, wie wenn er seinen Sportkameraden noch vor sich sähe. Er rief seine Sekretärin an und bat sie, eine Beileidskarte auf sein Pult zu legen. Dann nahm er die Zeitung wieder auf, durchflog die letzten Seiten und legte das Blatt beiseite. Nun war also Bechler, den Kamber während dessen Strafzeit nie gesehen hatte, aus dem Gefängnis ausgebrochen. Es war ihm klar, dass er Bechlers Flucht wegen längere Zeit beansprucht sein würde und seine Ferien leider vorzeitig zu Ende gingen. Er holte die Reisetasche hervor und packte seine Siebensachen. Viel Zeit brauchte er dafür nicht. Er reiste immer mit leichtem Gepäck. Einen kleinen Vorrat an sommerlichen Ferienkleidern und Badesachen konnte er stets für spätere Besuche in Charlies Zimmer zurücklassen. Er verstaute alles, was er brauchte, in der Reisetasche, neben dem elektrischen Rasierapparat auch den letzten Krimi von Donna Leon, den er als Lektüre für allfällige ruhige Stunden vorgesehen hatte. Er konnte nun nicht einfach wegfahren. Zunächst rief er mit dem Mobiltelefon seinen Kommandoposten an. „Ich verlasse meinen Ferienort, werde am Morgen zur Strafanstalt fahren und am Nachmittag in meinem Büro aufkreuzen. Informieren Sie bitte den Chef, ich lasse ihn grüssen. Auf Wiederhören, guten Tag!“ Dann musste er sich von seinem Freund Charlie verabschieden, der jeweils am Morgen in einem benachbarten Garagebetrieb arbeitete. Er kam meist um neun Uhr zur Kaffeepause in sein Restaurant. Kamber musste warten. Wie war die Freundschaft zwischen den beiden entstanden? Sie hatten gemeinsam Militärdienst geleistet und dieselbe Grenadier-Rekrutenschule bestanden. Tom brachte damals mit Leichtigkeit die kühnsten Kunststücke zustande. Bei einem Ausmarsch sprang er vom einen Ufer eines reissenden Flusses auf einen in der Mitte aufragenden Felsblock und landete von dort aus mit einem tollkühnen Salto auf der andern Seite des Gewässers. „Sind Sie verrückt geworden, Grenadier Kamber?“ rief der Hauptmann und verwarf die Hände. „Zu Befehl, Hauptmann“, antwortete Tom. Bei einem andern Ereignis war er der Hauptdarsteller: Als der Divisionär die Truppe inspizierte, wurden zwei zum Abbruch bestimmte kleine Häuser in Brand gesetzt. In einem Hechtsprung flog Kamber in seinem Tarnanzug durch die Fensteröffnung eines lichterloh brennenden Hausteils und eröffnete nach der Landung auf dem Boden sofort das Feuer aus seiner Maschinenpistole. „Das war super“, sagte der Divisionär zum Hauptmann, „wie in einem 007-Film, grossartig – aber verboten. Solche Sachen darfst du nicht machen. Das ist zu gefährlich. Wenn es schief geht, kommst du vor Militärgericht.“ „Das war eine Ausnahme, das wiederholt sich nicht“, wandte der Hauptmann ein, „aber mit diesem Grenadier da, mit Kamber, glaubte ich es wagen zu dürfen.“ Die meisten bewunderten Kamber. Einige nannten ihn einen Aufschneider. Sie hatten nicht ganz Unrecht. Er führte seine waghalsigen Demonstrationen nicht zuletzt deshalb vor, um sich nachher in der Bewunderung seiner Kameraden zu sonnen. Charlie gehörte zu jenen, die ihn bewunderten, und er freute sich, ihn zu seinen Freunden zu zählen. Die im Militärdienst begründete Freundschaft blieb über die Jahre hinweg bestehen. Der Inhaber des kleinen Gasthofs „Zum Schilfrohr“ war froh, wenn der treue Freund ein paar Tage bei ihm verbrachte, er war aber auch nicht wenig stolz, dass „der Herr Kommissar“ Jahr für Jahr bei ihm aufkreuzte. Kamber seinerseits ruhte sich in Buchillon von seiner oft hektischen Arbeit aus. Bei gutem Wetter wanderte er – meist mit Rambo – durch das Rebgelände nach Allaman, wo er sich im Kellerbistro des alten Schlosses zu einem Glas kühlen Weins hinsetzte, der aus dem Boden gleich nebenan stammte. Das eine oder andere Mal fuhr er am Abend nach Morges, wo er sich mit Kollegen der Gendarmerie zum Kartenspiel traf. Wenn „Farniente“ auf dem Tagesprogramm stand, machte er sich zu einer Dampferrundfahrt auf, die bis zum benachbarten Frankreich führen konnte. Es kam vor, dass er im Casino von Evian den Spielern zuschaute, die – meist recht nervös – an den Glücksspielautomaten hebelten. Ein einziges Mal versuchte er selbst sein Glück. Fortuna lächelte. Seinen Gewinn verjubelte er gleich bei einem feinen Mittagessen in einem eleganten Restaurant, von wo aus er einen prächtigen Blick auf den See und das Waadtländer Ufer mit seinen Rebhängen hatte. So genoss er für ein paar Tage sorglos das Leben, das im Welschland einen etwas leichtern Gang hat.
Nun erschien Charlie zum Neunuhr-Kaffee. Tom musste ihm erklären, dass er leider einer etwas delikaten Sache wegen vorzeitig abreisen müsse.„Können sie dich nicht wenigstens ein paar Tage lang in Ruhe lassen?“ „Zu meinem Bedauern kann ich mich in diesem Fall nicht in die Büsche schlagen. Aber ich verspreche dir, die verlorenen Ferientage bald einmal nachzuholen, wenn du mich dann wieder aufnehmen willst.“ „Jederzeit, immer wenn du kommst, ist das für mich ein kleines Fest.“ Kamber verabschiedete sich, auch von Mademoiselle Suzette, der er ganz heimlich etwas Kleines in die Hand drückte. Rambo fehlte nicht. Er war ebenfalls zum Abschied erschienen, stand wedelnd neben dem Kommissar und wartete, bis er gestreichelt wurde. Kamber ging zu seinem Wagen, den er neben dem Gasthof parkiert hatte. Das Automobil glänzte im Sonnenlicht. Kamber war im Allgemeinen bescheiden und gab wenig auf Äusserlichkeiten. Sein Fahrzeug, ein rassiger Sportwagen, war der einzige Luxus, den er sich leistete. Er hatte es auf dem Occasionsmarkt kaufen können und pflegte es mit viel Sorgfalt. Obschon es inzwischen hunderttausend Kilometer auf dem Zähler hatte, glänzte die rot lackierte Karosserie des schnittigen Wagens stets so, als käme er soeben aus der Waschanlage. Nicht selten blieb jemand auf der Strasse stehen, um ihn zu bestaunen. Langweilige Ferien auf den Bahamas oder den Malediven waren nicht Kambers Sache. Er zog es vor, mit seinem Wagen über Land zu fahren und in einer bescheidenen Herberge abzusteigen, wo er bald mit den Leuten des Orts ins Gespräch kam.
Kamber setzte die Schutzbrille auf und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang mit einem leisen Surren an. Das Verdeck verschwand auf Knopfdruck im Kofferraum. Er winkte zum Abschied und fuhr los zur Strafanstalt – einem Abenteuer entgegen? Niemand weiss es.