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Das Arbeiter-Volk

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Das Arbeiter-Volk

Es ist oft gesagt worden, dass der Ausspruch von Marx: das Land mit dem höchst entwickelten Kapitalismus sei berufen, zuerst die proletarische Revolution siegreich durchzuführen, sich nicht bewahrheitet habe.


Karl Marx

Denn gerade Russland, das Agrarland mit einem nur in den ersten Stadien befindlichen Industriekapitalismus hat die proletarische Diktatur zum Siege geführt. Ein anderer Ausspruch aber von Marx hat sich als wahr und folgerichtig erwiesen: dass nämlich das organisierte städtische Proletariat vor allem berufen sei, das Rückgrat jeder antikapitalistischen Revolution zu bilden. (In Deutschland haben die Kieler Matrosen, d. h. organisierte Metallarbeiter das Gebäude des Imperialismus zu Falle gebracht.)

Der organisierte Arbeiter, den Marx meint, ist aber nicht nur der Teil des klassenbewussten Proletariats, der den Sinn des Sozialismus erfasst hat und das proletarische Wirtschafts- und Verwaltungssystem begreifen, stützen und ihm zum Siege verhelfen muss, sondern vor allen Dingen ruht auf ihm die Pflicht, einen eben zertrümmerten Apparat durch eisernen Fleiß aufzubauen und alle nichtorganisierten, nicht klassenbewussten, alle unwilligen Elemente, die die neu aufzubauende Organisation auf die Dauer nicht entbehren und von sich abhalten kann, zu kontrollieren, zu disziplinieren, anzufeuern, wenn es sein muss zu unterdrücken.

Das Problem des Kommunismus ist: arbeiten; mit vollster Hingabe, unter Anstrengung aller Kräfte auf eine nicht mehr dem kapitalistischen Zwang der Selbsterhaltung, sondern dem freien menschlichen Streben nach Hingabe an die Gemeinschaft unterworfene Weise arbeiten. Das Problem des bolschewistischen Aufbaues, der Diktatur des Proletariats beruht darauf, dass mit einem wuchtigen Griff, einem harten Zupacken, Umbiegen und Abbrechen zugleich mit dem Kapitalismus der Trieb des Eigennutzes, der Habgier vernichtet werde und die Produktion, die Arbeitswütigkeit dabei nicht nur keinen Schaden erleide, sondern durch unerhörte Opferwilligkeit, angespanntes Pflichtbewusstsein auf dem eben zertrümmerten Gebäude der neue Zustand auferstehe. Es ist also, wie man sieht, ein psychologisches Problem. Es ist kein rein ökonomisches, sondern ein Gesinnungsproblem. Es ist ein Problem, bei dem die Psychologie der Massen wie des Individuums eine große Rolle zu spielen hat, eine entscheidendere Rolle vielleicht als die Routine.

Unter welchen Bedingungen nun hat der russische Kommunismus dieses verhängnisvolle Experiment begonnen? Er fand eine durch 16 Jahre Krieg geschwächte, verwahrloste und demoralisierte Menschenmasse vor, einen total verlotterten Produktionsapparat, einen erschrecklichen Mangel an den notwendigsten Rohstoffen. Fortwährende Bedrohung durch den an den Grenzen des Landes sich düster zusammenballenden Weltkapitalismus, der, der ungeheuren Gefahr bewusst, immer neue Heere vorwärts schob, den ganzen papierenen Apparat der Feindseligkeit, der Verleumdung, der Verdächtigungen in ein rasendes Tempo versetzte, der durch tausend unterirdische Kanäle Zwietracht, Verrat und Ärgeres in das hart geschlagene, wie eine Festung blockierte Land sandte. Aber schlimmere Hindernisse noch als diese rein äußerlichen erwuchsen dem Bolschewismus und seinen Führern aus den seelischen Vorbedingungen der Menschen, die sie fanden, um mit ihnen ihre Ideale aufzurichten. Ein Volkskommissar erklärte mir mit traurigem Lächeln: der russische Arbeiter habe in den Zeiten vor der Oktoberrevolution zu wenig kapitalistische Prügel erhalten, sei also niemals für eine angestrengte systematische Produktion vorgebildet gewesen. Die besten und verlässlichsten Arbeiter seien die Litauer, die Polen und die Juden.

Es gibt Leute, die den Bolschewiki den Vorwurf machen, dass sie mit einem ungeeigneten Volkskörper ein so radikales Experiment gemacht hätten. Und es sind nicht zuletzt die aufrichtigen Sozialisten, die diesen Vorwurf erheben; denn sie befürchten beim Scheitern dessen, was sie das bolschewistische Experiment nennen, ein weltweites Erstarken des Kapitalismus und eine Diskreditierung des sozialistischen Gedankens auf unabsehbare Zeit.

Nach drei Monaten, die ich in Russland verbracht habe, kann ich ein ähnliches, wenn auch viel leichteres Bedenken nicht von mir weisen. Das Volk ist müde, der Arbeiter entnervt, der Kapitalismus hat an der Gesinnung der Menschen, an dem Trieb zur Gemeinschaft Jahrtausende lang gesündigt, und der treu ergebenen opferwilligen Genossen sind verhältnismäßig wenige. Die Opferwilligkeit dieser Treuen und Gerechten führt sie – an den roten Fronten – zur Preisgabe ihres Lebens und damit zur Vernichtung der wesentlichen und wichtigen Stütze der Gesinnung bei den schwankenden Massen und der Kontrolle aller der Disziplin Unfähigen, bewusst das Getriebe Zerstörenden.

* * *

Ich habe einige Fabriken besichtigt, in denen ich die Produktionsweise des heutigen Russlands, fragmentarisch zwar, wie es sich von selbst versteht, aber doch in seinen Konturen zu verfolgen vermochte. Es waren dies: eine Textilfabrik in der Nähe Moskaus, eine Kattunfabrik in Iwanowo-Wosnessensk, außerdem Fabriken verschiedener Art in Petersburg, Werkstätten, Bekleidungsindustrien, Brotfabriken usw. In mancher Fabrik fanden wir Rohstoffe vor, die noch aus der Zeit vor dem Kriege stammten. In anderen lag schon neues Material aus den unerschöpflichen Vorratskammern des weiten Landes bereit, jedoch wurden da auch Verarbeitungsstoffe verwendet, die die Blockade nicht herein ließ, z. B. Farben für den Musteraufdruck des Kattuns, die im Frieden aus Bayern importiert wurden, und deren Versiegen die Fabrikation wieder vor ein schwieriges Problem stellen wird.

Die Fabriken, die wir sahen, waren bereits in der Zeit vor dem Kriege erbaut und eingerichtet worden. Alles, was wir zu beobachten hatten, um das Wirken des neuen Arbeitssystems zu erkennen, war: in welchem Zustand sich die Fabrik befand, auf welche Weise man die vorhandenen Maschinen und Stoffe behandelte, seit der Arbeiter selber Herr des Betriebes geworden war, und zuletzt das Wichtigste: auf welche Art man den zugrunde gehenden Apparat, die abgenutzten Maschinen, die unersetzbaren Maschinenbestandteile arbeitsfähig erhielt, durch sorgfältige Behandlung, durch Erfindungsgabe, durch Hingabe und Verständnis für die Notwendigkeit der Produktion, nicht nur für die äußeren Bedürfnisse des Volkes, sondern für die Stärkung und Aufrechterhaltung der großen politischen Idee.

Ich bedaure es sehr, dass wir keinen Kodak zur Hand hatten, als wir die große Tuchfabrik in der Nähe von Moskau besuchten. Sie fabrizierte Militärtuch, außerdem Tuche für Männerbekleidung und das sogenannte „technische Filztuch“ für die Papierfabrikation. Die Herstellung dieses letzteren – eines schweren weißen Filzes von zwei Finger Dicke, der eine endlose Rolle darstellt – erfordert eine bestimmte Maschine zum Aufrauen des Stoffes. Diese Maschine heißt Rollkardenmaschine und stellt einen Zylinder aus Metall dar, an dem distelförmige biegsame Stachelspulen befestigt sind. Das Tuch wird über diese Disteln gezogen, die die Fasern des Tuches aufrauen. Die Maschinen, die aus Bury in England bezogen worden waren, waren nicht mehr zu gebrauchen. Die Arbeiter in der Fabrik zimmerten nun aus Holz ähnliche Zylinder zusammen und befestigten an ihnen wirkliche Disteln, die aus einem entfernten Gouvernement herbeigeschafft und natürlich einer raschen Abnutzung ausgesetzt waren. Diese Maschine, primitiv, naiv, wie von irgendeinem Robinson Crusoe zusammengesetzt, kam mir als rührendes Symbol der Not und der Tugend des neuen Russlands vor.

Ich besuchte diese Fabrik mit dem ehemaligen Volkskommissar der ungarischen kommunistischen Regierung, dem ausgezeichneten Volkswirtschaftslehrer Professor Varga.


Varga Jenő – 1879 – 1964

Wir fuhren unangemeldet dort hinaus und konnten einen genauen Einblick in das Getriebe so der Arbeit wie der Verwaltung gewinnen. Von 6.100 Spindeln arbeiteten zurzeit nur 3.000. 1.600 Arbeiter lebten mit ihren Familien auf dem Gebiet um die Fabrik. Viele Maschinen standen still, weil es an Werkzeugen mangelte, die fehlenden Bestandteile zu erneuern. So z. B. musste der endlose Filz, von dem ich sprach, da die Maschinen zum Zusammenweben des Filzes nicht funktionierten und nicht zu ersetzen waren, von Hunderten von Arbeiterinnen zusammengewebt werden. Da saßen sie nun auf langen Bänken in einer Reihe und fügten mühselig Faden um Faden der beiden Enden des Tuches zusammen. Eine unendlich monotone und mühselige Arbeit, bei der es zu vermeiden war, dass Knoten in das Tuch gelangten, weil dann das Papier, das über diese Tuche laufen muss, natürlich zerrissen wäre. Mir fiel bei dieser Verrichtung ein Wort ein, das ich in Moskau gehört hatte: „Wenig Maschinen, viel Menschen – viel Maschinen, wenig Menschen. Unser Problem ist einfach: wir haben enorme Mengen Menschen, wir brauchen die Maschinen nicht.“

Die Arbeiterinnen dieser Fabrik hatten pro Tag ein Minimum von 7½ Arschin Gewebe abzuliefern, erhielten dafür einen Minimaltagelohn von 121 Rubeln 20 Kopeken. Um die Produktion zu heben, wurde ein Prämiensystem eingeführt, welches die Bezüge bis zu 400 Prozent des Lohnes steigern konnte. Zu Zeiten der erhöhten Produktionsnotwendigkeit wurden 40 Überstunden monatlich bei 25 monatlichen Achtstundentagen geleistet. Vor der Einführung des Prämiensystems hatte bei den männlichen Arbeitern die tägliche Produktion einen Durchschnitt von 12 Arschin betragen, nach der Einführung des Prämiensystems betrug der Durchschnitt 15 bis 17 Arschin. Jeder Beamte und Arbeiter hat pro Kopf seiner Familie Anspruch auf 11 Szazn Landes zur eigenen Bebauung im nächsten Umkreis der Fabrikniederlassung. Das hatte seine Vorzüge und Nachteile. Da die Lebensmittelbelieferung oft eine gänzlich ungenügende war und zumal die Arbeiterinnen vor Unterernährung und Müdigkeit kaum mehr zu arbeiten vermochten, durfte man nichts dagegen haben, dass sich ein Teil des Betriebspersonals halbe Tage lang unentschuldigt auf den Feldern umhertrieb, um Rüben, Kartoffeln und andere Erdfrüchte anzubauen, zu pflegen und einzuheimsen. Gegen diese notgedrungene Sabotage der Produktion half nur das mechanisch erhöhte Prämiensystem. Doch war die Stimmung unter der Arbeiterschaft eine vorzügliche. Sie wussten ja, dass etwas sich geändert hatte, dass sie für sich arbeiteten, und das half ihnen über manche Entbehrung, Müdigkeit und Kummer hinweg.

Eine Schar hübscher, gut gekleideter und fröhlicher Kinder stand um unser Automobil, als wir kamen und gingen. Im Klubzimmer, in den Speisesälen, in dem Kinderklub der Arbeiterheime hingen Bilder und Fahnen mit Wahlsprüchen an den Wänden; ein Theater sah man, dessen Dekorationen von den Arbeitern selbst gemalt worden waren. Das Programm der letzten Aufführungen zeigte Stücke von Tschechow und Tolstoi. In einem kleinen Atelier standen naive Ton- und Holzskulpturen, die begabte Arbeiter in ihren Mußestunden ausgeführt hatten. Ein Sanatorium mit vorzüglich gehaltenen Räumen für Operationen, Wöchnerinnenstuben und Apotheke wies erstaunlich gut funktionierende Einrichtungen auf, der Oberarzt verfügte sogar über chirurgische Geräte; wie uns im Vertrauen mitgeteilt wurde, waren diese durch den Schleichhandel erstanden; auch war, was in Russland noch seltener ist, Chloroform vorhanden.

Im Betriebsrat saßen nur Arbeiter; kein Beamter. Der Vorsitzende war Kommunist. Doch ist das nicht unbedingte Regel. Es gibt Fabriken, in denen kein Kommunist im Betriebsrat sitzt; nur war diese eben eine der wichtigsten in der Nähe Moskaus und stand in direktem Zusammenhang mit der Zentralstelle für Textilversorgung des Landes. Uns hatten zwei Genossen begleitet, ein älterer, mit der Kontrolle dieser Fabrik im Moskauer Textilkomitee beauftragt, und ein jüngerer, der im Zentrotextil, der obersten Stelle für die gesamte Produktion des Reiches, die verantwortungsvolle Stelle des Leiters der gesamten Wollabteilung innehatte. Beide Genossen waren ehemalige Angestellte der großen Fabrik und standen noch in einem freundschaftlichen und vonseiten des alten, expropriierten Besitzers patriarchalischen Verhältnis zu ihrem ehemaligen Arbeitgeber.

Weniger günstige Eindrücke hatten wir, als wir im Büro der Fabrik mit den führenden Beamten zu sprechen anfingen. Der Leiter des Büros, ehemaliger Direktor der Fabrik, seit zwanzig Jahren in derselben Tätigkeit, gab ohne weiteres zu, dass seine Bücher nicht ordentlich geführt seien; außerdem konnte er über die Produktionsmengen, die Rohstoffe, die Quantitäten der Verarbeitung nur vollkommen vage und verlegene Auskunft erteilen.

Nach Iwanowo-Wosnessensk fuhr ich als Mitglied einer kleinen Gruppe, die unsere wunderbare Klara Zetkin begleitete. Iwanowo-Wosnessensk ist eine der größten Industriestädte Russlands, das Herz des revolutionären proletarischen Russlands. Hier herrschte unter der Arbeiterschaft Jubel ob des Besuches der seltenen Frau.


Clara Zetkin – 1858 – 1933

Auch Angelika Balabanoff befand sich in unserer Gesellschaft.


Angelika Balabanoff

Wir wurden mit militärischen Ehren empfangen. Die Rote Armee stand auf dem Bahnhof, die Militärkapelle spielte die Internationale, und wir nahmen eine Art Parade ab. Weinende Frauen begrüßten und küssten Klara und Angelika, die vom Trittbrett des Waggons Ansprachen an die Versammelten hielten.

Die Fabrik, die wir am nächsten Tage besichtigten, hatte im Frieden enorme Mengen von Kattunstoffen nach dem näheren und weiteren Orient geliefert. Die Musterbücher der Fabrik wiesen eine schier unglaubliche Fülle von buntesten Drucken auf. Alle Urformen indischer, chinesischer, persischer Dekoration fanden sich in diesen Musterbüchern vereinigt. Jetzt wurden natürlich Varianten von nur ganz geringer Zahl ausgeführt. Doch fanden wir schon neue Zeichnungen in einem sauberen, volkstümlichen Stile, der dem Geschmack des Proletariers angemessen schien. Im Hofe der Fabrik, die seit zwei Wochen erst wieder in Gang gesetzt worden war, im Frieden 4.500, jetzt nur 2.000 Arbeiter beschäftigte, lagen noch Berge von Granaten. Die Fabrik war nämlich im Kriege auf diesen angenehmen Produktionszweig umgestellt worden. Das ganze Teufelszeug rostete nun unter der dreimal wiederholten Schneeschicht. Iwanowo-Wosnessensk besitzt 210 Fabriken und ist, wie gesagt, das Zentrum der Kattunfabrikation Russlands. Durch die neue Produktionsweise sind jetzt alle für die Fabrikation von Textilwaren bestimmenden Bearbeitungsstellen vereinigt, während früher der unsinnige Zustand herrschte, dass man einen Stoff, der an einem Ort gewebt wurde, Tausende von Meilen weit an einen anderen Ort zur weiteren Bearbeitung, dann wieder quer durchs Land zum Dekatieren usw. herumschicken musste. Von den 210 Fabriken sind es zwanzig große, die gegenwärtig in Betrieb stehen. Kleine Betriebe sind natürlich gesperrt, da die Konkurrenz der Fabrikanten und die Privatinitiative mit dem Privateigentum aufgehört haben.

Auch hier sahen wir viel Heroismus der Arbeit und viel rührendes Elend. Blasse Frauen stürzten auf unsere Zetkin zu, zeigten ihre Bastschuhe – draußen hatten gerade die ersten Winterfröste eingesetzt – und baten die Freundin und Führerin, den Genossen Lenin zu veranlassen, dass er mehr Brot und mehr Schuhe nach Iwanowo schicke. (Der Ort galt von jeher als ein Hungerzentrum.)

Gegen welche Schäden moralischer Art das meines Erachtens die Moral nicht minder schädigende Prämiensystem anzukämpfen hat, lehrte uns der Besuch einer großen Mäntelnäherei in Petersburg. Als wir ankamen, war eine kleine Gruppe von jungen Arbeiterinnen im Zimmer des Betriebsleiters versammelt. Auf Stühlen lagen, sorgfältig hingebreitet, hübsche, aus gutem Tuch verfertigte und mit Seide gefütterte Blusen und Jacken, Röcke, sogar einige schöne warme Mäntel aus Plüsch und mit Pelzwerk. All dies wurde an Arbeiterinnen für gutes Verhalten, emsige Arbeit und pünktlich eingehaltene Arbeitszeit verteilt. Wir erfuhren, dass viele von den Arbeiterinnen sich den härtesten Strafen für Verletzung der Arbeitspflicht aussetzten, halbe Tage lang fortblieben, um für die Ehegattinnen irgendwo versteckter reicher Schieber Mäntel zu nähen, Kleider anzufertigen, wobei die Löhne für solche heimlich fertiggestellte Kleider zwischen 60- und 80.000 Rubel schwankten. Hier hatten wir einen wüsten Ansturm von großstädtisch demoralisierten, keifenden und fuchtelnden Frauen zu bestehen. Dieser Ansturm galt dem Abteilungsleiter der Petersburger zentralen Kommunalbehörde, der uns die Werkstätten zeigte. Der Mann, einer der tüchtigsten, gewissenhaftesten und arbeitsfreudigsten Beamten des großen Stabes der Petrokommun war ehemals selbst Schneider gewesen. Die Beschwerden der Arbeiterinnen waren: mangelhaftes Schuhwerk und ungerechte Bevorzugung irgendwelcher Kolleginnen bei der Verteilung der Prämien.

* * *

Russland, das blockierte, vom Krieg bedrängte, vor inneren Feinden sich nur ungenügend schützende Russland krankt an einer Unterproduktion des Notwendigsten.

Das traurigste Wort, das ich in Russland gehört habe, war das Wort: Remont. Remont bedeutet Reparatur, und wenn man Remont hört, bedeutet es, dass etwas kaputt ist, das nicht repariert werden kann. Im täglichen Leben bemerkt man dasselbe wie in den großen Dingen der öffentlichen Einrichtungen und Notwendigkeiten. Ging in dem schönen Hause, in dem ich in Moskau wohnte, eine Schraube von der Klinke meiner Zimmertür verloren, so konnte ich meine Tür nicht mehr schließen, denn es waren einfach keine Schrauben zu beschaffen. Mein Weg in die Stadt führte mich durch eine der belebtesten Verkehrsadern, eine abschüssige Straße entlang. Mitte Oktober hatten wir 15 Grad Kälte. In einem vierstöckigen Hause war allem Anschein nach ein Leitungsrohr geplatzt. Ein ekler Bach von Urin er ergoss sich gelb durch den Schnee und das Eis hundert Meter weit über die Straße. Die Röhren waren nicht zu ersetzen. Überall auf Schritt und Tritt Verwüstung, Unersetzbarkeit, Ruin. Damit zugleich Resignation, Gehenlassen, Verlotterung, Sich-Hinlegen und Sterben.


Anton Iwanowitsch Denikin – 1872 – 1947 – zaristischer Offizier der „Weißen“

Und doch – im Frühjahr 1920 gab es zwischen der Erledigung Denikins und dem neu einsetzenden Polenkrieg einen Zeitraum von ungefähr drei Monaten, in dem die Industrie mit einem Ruck erhöhte Produktion aufwies, dadurch die Belieferung vom Lande einen Aufschwung nahm, die allgemeine Stimmung sich hob, das System erstarkte und an Anhängern gewann. Aber dann kam Polen, dann kam Wrangel, dann kamen die Besetzung des Donjetzbeckens, die Verwüstung und die Abschneidung der ukrainischen Felder, die Wegnahme der Naphthaquellen, Müdigkeit, Verzweiflung. Trotzdem ließ man den Mut nicht sinken. Die Lebensmittelration der Kinder wurde erhöht (die bösen Kommunisten erhöhten sogar die Lebensmittelration für die Kinder der verhassten Bourgeoisie), und die wenigen Monate Waffenstillstand an der Front bewirkten, dass der Winter 1920/1921 minder hart und gefährlich auf die leidende Bevölkerung der großen Städte niederfällt.

Als ich Russland verließ, war Wrangel in die Flucht geschlagen, und wir atmeten auf. Eine Zeitspanne von mindestens vier Monaten Ruhe an den Fronten stand Russland bevor. Russland, das ein bewunderungswürdig aufgebautes Heer von Arbeitern und Bauern besitzt, wird imstande sein, diese disziplinierten, zum Teil enthusiastischen, weil für das Recht kämpfenden Männer zur Arbeit in den wichtigen, für Leben und nächste Zukunft entscheidenden Produktionszweigen umzustellen. Wenn der Krieg, wie ich später ausführen werde, hilft: die Idee des Kommunismus in der Armee und damit in den breitesten Massen des russischen Volkes auf entscheidende Weise zu verbreiten, so hilft der Waffenstillstand, die Atempause zwischen zwei Kriegen, die Industrie zu stärken. So bewirkt der Kampf der Entente genau das Entgegengesetzte von dem, was sie sich von der Bekämpfung des Bolschewismus verspricht. Die Zukunft wird es lehren, ob der Weltkapitalismus sich nicht in einem nutzlosen Ansturm gegen die Idee der Befreiung der Massen aufreibt und verausgabt.

(Die Russische SFSR, die schon im Juni 1990 ihre Souveränität, nicht aber ihre Unabhängigkeit verkündet hatte, erklärte im Dezember 1991 die formale Auflösung der Sowjetunion, was die Überleitung der Außenbeziehungen der alten Sowjetunion auf die neu entstandene Russische Föderation erleichterte. Boris Jelzin, der in der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl des Landes am 12. Juni 1991 zum Präsidenten Russlands gewählt wurde, übernahm die Kontrolle über Medien und Schlüsselministerien. Schrittweise demontierte und entmachtete er Präsident Gorbatschow, der am 25. Dezember 1991 als Präsident der UdSSR zurücktrat und die Amtsgeschäfte an Jelzin als Präsidenten der Russischen Förderation übergab. Symbolträchtig wurde um 19:32 Uhr Moskauer Zeit die seit 1917 über dem Moskauer Kreml wehende Flagge der Sowjetunion mit Hammer und Sichel eingeholt und die weiß-blau-rote Flagge Russlands aufgezogen. Damit wurde das utopische Experiment des Kommunismus auf russischem Boden beendet.)

Diese Befreiung der Massen ist nicht wörtlich zu nehmen. Denn wenn man unter Freiheit Selbstbestimmung, Leichtigkeit der Bewegung, ein gemütliches Hinvegetieren versteht, so kann man diese Freiheit in Russland allerdings nicht finden. An ihrem Mangel leidet jedermann (nicht allein der Intellektuelle!), am allermeisten aber der russische Arbeiter.

Einige Bemerkungen über die Art der Arbeitszuteilung und die Bedingungen der Arbeit selbst seien hier eingeflochten: Die Freizügigkeit des Arbeiters besteht nicht mehr. Die Vermittelung der Arbeitskräfte geschieht nicht durch Arbeitsbörsen, wie noch vor kurzem, sondern durch das Volkskommissariat für Arbeit (Kommissar Schmidt), das in enger Fühlung und bei den höheren Stellen auch in persönlicher Union mit den Gewerkschaften und ihren Führern steht. Arbeitspflicht besteht für jeden Mann vom 16. bis 50. Jahr, für jede Frau bis zum 40. Jahre. Der Maximalarbeitstag dauert 8 Stunden. In manchen Betrieben, die schwere, gefährliche oder gesundheitsschädigende Formen der Arbeit bedingen, wie in Zündholzfabriken, in Bergwerken usw., reduziert sich die Arbeitszeit um 2 bis 2½ Stunden und um ganze Arbeitstage in der Woche. Frauen haben acht Wochen vor und acht Wochen nach ihrer Niederkunft Anspruch auf vollständige Ruhe, vollständige Bezahlung ihrer Bezüge und auf eine Belieferung an Leinwandstoffen und allem Nötigen für die erste Versorgung des Kindes. Außerdem wird die Milchration, auch wenn die Frau ihr Kind nicht selbst stillt, erhöht. Schwankungen bei der Durchführung all' dieser Vorschriften sind noch zu beobachten. Ich selbst habe in manchen Betrieben junge Mädchen gesehen, die offenbar das 16. Jahr noch nicht erreicht hatten. Indes mag das auf einen Irrtum zurückzuführen sein; verkümmerte, armselige Proletarierkinder sind ja im Wachstum gehemmt worden von je, und der traurige Zustand des gequälten Landes vermochte daran im Zeitraum von drei Jahren trotz der ungeheuersten Anstrengung nichts Entscheidendes zu ändern.

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Um das, was ich über die geistige Arbeit im Dienste des Staatswesens zu sagen habe, gleich in das richtige Gleichgewicht zu bringen, will ich zwei Sätze aus Lenins Broschüre „Staat und Revolution“ zitieren. Der erste Satz lautet: „Beamtentum und ständiges Heer, das sind die Parasiten am Körper der bürgerlichen Gesellschaft.“ Der zweite Satz lautet: „Von einer plötzlich restlosen Beseitigung des Beamtentums an allen Orten kann keine Rede sein. Dies wäre Utopie; aber den alten Beamtenapparat sofort zertrümmern und gleichzeitig mit dem Bau eines neuen beginnen, der die allmähliche Beseitigung jeglichen Beamtentums ermöglicht, das ist keine Utopie.“ Weiter führt Lenin aus: Mit der Beseitigung des spezifischen Vorgesetztentums der Staatsbeamten kann und muss sofort von heute auf morgen begonnen werden, und an deren Stelle müssen die einfachen Funktionen von Aufsehern und Buchhaltern treten.

Was ich in Russland gesehen, erfahren, und ich darf ruhig sagen, erlitten habe, lässt sich auf das System der ungeheuerlichsten Zentralisierung des ganzen Produktions- und Verwaltungsapparates zurückführen, den diese an Schrecknisse gewohnte Welt jemals erlebt hat. Die Privatinitiative ist zugunsten der Staatsinitiative ausgeschaltet, aber die Menschen sind die alten geblieben. Das Beamtentum ist eine in allen Formen der Gesellschaftsordnung wiederkehrende Belastung des produktiven Arbeiters, des die Schätze der Natur, sei es durch den Pflug, sei es durch den Spaten hebenden Arbeiters, des die Schätze des Landes verarbeitenden und zum Gebrauch für die Gemeinschaft herrichtenden Arbeiters.

Ein Wort an Alle, an alle Arbeiter, an die sich vereinigenden Proletarier aller Länder! Im Augenblick, in dem ihr die Herren der Staatsgewalt geworden seid, im Augenblick, in dem ihr die Klasse der Ausbeuter unterdrückt und vernichtet habt, beginnt für euch eine Zeit der ungeheuersten Kraftanstrengung, die Notwendigkeit unerhörtester Arbeitsleistung, die Zeit einer selbstauferlegten äußersten Sklaverei, die nur bei den Klassenbewusstesten, bei den Zukunftsbewusstesten unter euch ein Gegengewicht in der inneren Befreiung, in dem Bewusstsein der inneren Freiheit finden kann!

Die Zentralisierung des politischen und wirtschaftlichen Verwaltungsapparates gebiert eine so maßlose, alle Begriffe überschreitende, jeder Kontrolle allmählich entschlüpfende Beamtenschaft, dass ihr wiederum für eine Schar mehr oder minder untätigen parasitären Individuen angestrengt zu arbeiten habt, maßlos zu arbeiten habt, nur dass diese auf eurem Buckel hockende Schar euch jetzt nicht mehr ausbeutet, sondern das verwaltet, was ihr mit eurer Hände und Hirne Arbeit aus dem Erdboden hervorstampft, in den Werkstätten verarbeitet.

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Wenn unter dem kapitalistischen System nur die Hälfte der Bevölkerung rein produktive Arbeit leistet, so weiß ich nicht, welcher Bruchteil der Bevölkerung unter dem kommunistischen System rein produktive Arbeit leisten wird und kann. Die erste Notwendigkeit, die erste Tat nach der Ergreifung der Macht durch das Proletariat war: die kapitalistischen Führer und Beamten aus dem Staats- und Wirtschaftskörper völlig auszuschalten. Sofort darauf ergab sich als nächste dringendste Notwendigkeit die Aufgabe: unter diesen Ausgeschalteten vorerst die Spezialisten in den einzelnen Fächern wieder in den Beamtenkörper aufzunehmen. Diese Notwendigkeit birgt eine maßlose Gefahr in sich, wie ich es gleich ausführen will. Sieht man sich das Diagramm eines großen Verwaltungskörpers, z. B. des Obersten Wirtschaftsrates, im Zusammenhang mit allen den ihm untergeordneten Zweigen der Produktion und Verteilung an, so wird man an diesem Schema des Verhängnisvollen des Systems genau gewahr werden. Zuerst befindet sich im Innern dieses Diagramms, in der Mitte des Blattes, auf dem das Schema eines Kommissariats oder eines Zentralrats aufgezeichnet ist, ein kleiner Kreis.


In diesem Kreise steht der Volkskommissar für Arbeit, für Volksaufklärung, für Auswärtige Angelegenheiten, für Gesundheitspflege, oder was er sonst ist. Diese Männer, soweit ich sie kennen gelernt habe, soweit ich ihre Arbeit beobachten und mich über ihre Arbeit informieren konnte, sind Persönlichkeiten von absoluter, keiner Verleumdung zugänglichen Integrität, durch das Leben und das Schicksal erprobte, gehärtete, aufopferungsvollste, für unsere gemäßigten Zonen der Pflichterfüllung unbegreifliche Arbeiter, Verantwortungsträger, zum Teil wahre Apostel und Herolde einer neuen Zeit.

Um diesen innersten Kreis, der entweder einen Namen oder die Namen eines ganz engen Komitees von drei bis fünf Menschen umfasst, zieht sich ein Kreis mit schon etwas breiterem Radius. In diesem Radius sind die Leiter der obersten Verwaltungsstellen des Kommissariats genannt, meist ebenso erprobte, zum großen Teil ebenso opferwillige, mit Arbeit überlastete und ihrer Verantwortung bewusste Kommunisten. Die Kreise weiten sich immer mehr. Jedem Leiter eines Verwaltungs- oder Produktions- oder Verteilungszweiges unterstehen Abteilungsleiter, die ihrerseits wieder einen weiteren Kreis und immer weitere Kreise von Untergebenen mit spezialisierten Funktionen besitzen. Je weiter diese Kreise sich von dem Mittelpunkt entfernen, umso weniger können die Funktionäre, die ihn ausfüllen, kontrolliert werden.


Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin – Георгий Васильевич Чичерин – 1872 – 1936

Ich habe den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Tschitscherin, kennengelernt, habe ungefähr zu sehen bekommen, wie sein Kommissariat arbeitet. Außerdem habe ich auch neben anderen Kommissariaten das Kommissariat für Volkserziehung des Genossen Lunatscharski zu beobachten Gelegenheit gehabt.

Ich kann nicht sagen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Tüchtigkeit „des inneren Kreises und der äußersten Kreise“ ein und desselben Kommissariats besteht, und ich will nicht sagen, welches von den erwähnten Kommissariaten mir diese Überzeugung beigebracht hat. Ich weiß nur, dass Tschitscherin, ein kränklicher, hüstelnder Asket, von den achtzehn Arbeitsstunden, die er täglich leistet, reichlich zehn an Organisationsfehlern innerhalb seines Kommissariats einbüßen muss. Lunatscharski mag ein Mann von grandiosen Ideen sein, und manches, was in seinem Kommissariat durchgesetzt ist, wird die Welt in stärkere Erschütterung versetzen, als sie das Kommissariat der Arbeit oder irgendeines wirtschaftlichen Departements hervorzurufen vermag – aber er ist der typische Intellektuelle, verschwindet von Zeit zu Zeit, um Konrad Ferdinand Meyer zu übersetzen oder um ein Drama zu schreiben, in dem Marx mit Faust und Bakunin mit Mephisto und andere unzüchtige Paarungen stattfinden, und die Arbeit des Kommissariats trägt die Folgen.

Je stärker sich der Kommunismus einwurzelt, im Maße, in dem das System in dem ganzen ungeheuren Lande erstarkt, im Maße, in dem alle zur Zentralorganisation gehörenden Zweige der Verwaltung und der Produktion in den Bereich der Zentralisierung einbezogen werden, macht sich die Notwendigkeit der Auffüllung des Beamtenkörpers, der Zuziehung von Massen neuer und immer neuer Mitarbeiter bemerkbar. Es lässt sich nicht vermeiden, dass sich Elemente in diesen Scharen einfinden, die durch Faulheit, Korruption, durch bewusst feindliche Gesinnung gegenüber dem System den ganzen Apparat schwächen und diskreditieren. Die „inneren“ Vorkämpfer der revolutionären Idee fordern von ihren Untergebenen mit mehr oder minderer Energie dieselbe Aufopferung, denselben Idealismus, dieselbe Gläubigkeit, die sie in sich hegen, und die letzten Grundes die Ursache dafür ist, dass der russische Kommunismus sich seit drei Jahren siegreich in Russland behauptet hat und eine nie mehr vergängliche Umwandlung der Geister in der ganzen Welt bewirkte.

Aber diesem seelischen Druck geben nur jene nach, die die Vorbedingungen der Aufopferung, des Idealismus, der Gläubigkeit in ihren Herzen besitzen. Bei den anderen, die, um zu leben, sich dem Sowjet-Apparat freiwillig, aufgefordert oder notgedrungen zur Verfügung gestellt haben, keimt und schwillt mächtig und immer mächtiger Hass, Böswilligkeit und Vernichtungssucht an.

Wenn es die Eigenschaft des Staates ist, dass er einen enormen Beamtenapparat nötig hat, so trägt der Staat seinen Krankheits- und Todeskeim in sich, und es ist fraglich, wie sich aus dem vorläufig allmächtigen Gebilde des Staates jemals unser utopischer Traum der freien Gemeinschaft kleiner Kreise entwickeln soll. In Russland habe ich das unerhörteste, ungemessenste Leiden in fast allen Schichten der Bevölkerung gefunden, fröhlich aber und guter Dinge habe ich (außer den Kindern) nur eine Schicht gesehen, nämlich eine im wirklichen Sinne des Wortes parasitäre, bürgerliche Mittelschicht von neuem Beamtentum, die sich weiß Gott woher zusammen gefunden hat, sich über den wissbegierigen und ernst und eifrig den Zusammenhängen nachforschenden Fremdling lustig macht, ihn durch Ignoranz oder bewusste Irreführung bei seiner Arbeit behindert. Ich sprach schon vorhin von der Schwierigkeit, durch Informationen die Wahrheit über die innere Struktur des Apparates zu erhalten. Diese Schicht einer, man kann es ruhig so nennen, neuen Bourgeoisie, der sogenannten Sowjet-Bourgeoisie, ehrgeizige, zynisch unzuverlässige Menschen, werden durch Maulwurfsarbeit den Staatskörper unterminieren und würden vermutlich die ersten sein, die auf den Trümmern, wenn es jemals Trümmer geben könnte, die weiße Fahne oder irgendeine andere hissten.

Die inneren Kreise kennen diese Zustände, kennen diese Leute ganz genau. Von Zeit zu Zeit „kämmen sie sie aus“, d. h. sie schütteln sie ab unter Hinweis auf die Notwendigkeit, dass die Front junger Männer bedarf, dass in einem entfernten Ort des weiten Landes ein Posten vakant geworden ist, auch wird der kommunistische Samstag oft als willkommener Anlass dazu ersehen, die zu geistiger wie zu körperlicher Dienstleistung Unwilligen zu entlarven, sich ihrer zu entledigen. Aber es fragt sich, ob der Ersatz, der für diese Ausgekämmten geschaffen wird, nicht aus noch trüberen Elementen besteht. Es ist in den Russland feindlich gesonnenen Ländern immer wieder die Rede davon, dass die Rote Armee es sein wird, die letzten Endes die Bolschewiki stürzen wird. Dieser Hoffnung muss sich die vereinte kapitalistische Welt entschlagen. Die neue Sowjet-Bourgeoisie schenkt ihrerseits dieser kapitalistischen Welt eine erneute, wenn auch beträchtlich geringere Hoffnung. Es ist unwahrscheinlich, dass die Sowjet-Führer diesen Krebsschaden früher oder später vollkommen auszuschneiden fähig sein werden.

Die Kommunistische Partei Russlands ist zahlenmäßig gering. Sie beträgt nach neuester Schätzung dreiviertel Millionen bei einer gesamten Volkszahl von 150 Millionen, und von dieser dreiviertel Million ist, gering bemessen ein Drittel, und zwar gerade das wertvollste, verlässlichste und opferwilligste Drittel an den Fronten, wo es in den vordersten Gräben die Sache der Sowjets verficht. Welches Maß von Heroismus an diesen Fronten von den überzeugungstreuen, opferwilligen Kommunisten stündlich bezeugt wird, kommt nie ans Tageslicht. Die letzte Woche des Wrangel-Abenteuers, die ich in Russland verlebt habe, weist auf eine Epopöe hin. Kämen diese verlässlichen, erprobten Menschen zurück, das Übel wäre über Nacht in nichts vergangen.

Es ist unzweifelhaft, dass eine Schwäche, nicht der Führer allein, sondern des ganzen Systems darin liegt, dass die konterrevolutionären, die sabotierenden, faulen und korrupten Elemente nicht radikal beseitigt werden können. Schwierig dürfte es ja sein, die „Spez“ hinauszuwerfen. „Spez“ ist ein ebensolches Schimpfwort wie „Spek“. „Spez“ ist der Spezialist, „Spek“ der Spekulant. Beide zugleich Spekulanten und Spezialisten der alten, nur unvollkommen vernichteten Wirtschaft und Gesinnung. Der Spez ist ehemaliger Kaufmann, Fabrikant, Kapitalist, Ausbeuter, aber gründlicher Kenner seines Produktions- oder Verteilungsgebietes. Er ist nicht leicht durch Männer der geraden Gesinnung, aber mangelnden Sachkenntnis zu ersetzen.

Eine Vereinfachung des Beamtenkörpers wäre indes wohl durchführbar, und dadurch könnte eine ungeheure Schar überflüssigen, herumlungernden, Witze und Zoten reißenden Gelichters aus den Ämtern entfernt werden. Sie tun ja doch nichts. Man gerät in gelinde Wut, wenn man auf sie angewiesen ist. Unsereiner, der nur wenige Wochen und Monate in den großen Zentren der Arbeit und Verwaltung verweilen kann, leidet Höllenqualen. Die Ämter sind in Villen oder Palästen untergebracht, die ehemals reichen Leuten gehört haben und so ziemlich an der Peripherie der Stadt gelegen sind, nur wenige im Zentrum. Telefon funktioniert nicht, oder, wenn es funktioniert, nur einseitig. Eine Maschine, d. h. ein Automobil, das einem nebst Sekretär, Übersetzer und anderen schönen Dingen versprochen worden ist, tritt nicht in Erscheinung. Man ist also gezwungen, entweder zu Fuß zwölf Werst zu laufen oder sich in eine Droschke zu setzen, deren Lenker für eine Strecke wie vom Brandenburger Tor nach dem Anhalter Bahnhof 5.000 Rubel verlangt und auch bekommt. Der Monatsgehalt eines Sowjet-Beamten, Arztes oder anderen Funktionärs macht selten mehr als diese Summe aus; daher kann sich nur ein Spekulant eine Droschke leisten; infolgedessen entzieht sich der Droschkenlenker, der früher 10 bis 15 Kopeken für die Fahrt bekommen hat, der irdischen Gerechtigkeit.

Man hat fest ein Stelldichein verabredet mit einem Funktionär zweiten, dritten oder fünften Grades; rast mit dem Iswostschik durch die Stadt. Der Funktionär ist nicht zugegen, verreist, noch nicht ins Büro gekommen, kommt wahrscheinlich auch nicht, hat vergessen oder – ist nicht aufgelegt. Aber das ist es nicht, was einem die heilige Wut gegen das Beamtentum allmählich in den Adern gerinnen lässt. Es sind nicht nur die Einzelnen, auch nicht Gruppen, wie jene Chemiker im Gouvernement Wiatka (?), die sich an die Zentralstelle in Moskau mit dem schamlosen Ersuchen gewendet haben, keine Kommunisten zu schicken, sondern Leute, die Chemie verstehen; es ist auch nicht eine Kreatur wie jene Oberärztin in dem Petersburger Gefängnis, die uns mit sadistischer Wollust in ihrem Bereich herumführte, dann mit unverhohlenem Zynismus ihre Vorgesetzten wegen ihrer kommunistischen Gesinnung verhöhnte und uns, als wir ihr aus unserer Gesinnung kein Hehl machten, mit naiver Miene fragte: wie kann man nur?

Es kann passieren, dass einem, nachdem man in einem Amt mehr oder weniger sichere und erschöpfende Auskunft bekommen hat und hoch befriedigt das Zimmer verlässt, ein kleines verdächtiges Lachen nachgesandt wird. Man wendet sich dann um, sieht eine Gruppe von vollkommenen unwissenden Leuten, die sich soeben eine Menge Lügen aus den Fingern gesogen haben und jetzt den Bauch halten über die Naivität des Fremdlings, der wirkliches Wissen vorausgesetzt hat und mit wirklichem Wissen abzuziehen vermeint. Gogolsche Revisorstimmung. All' das sind wohl Geringfügigkeiten, obzwar sie sich traurig genug anhören. Aber durch solche Unzuverlässigkeiten geschieht es, was ich einmal in einer mir interessant und wertvoll dünkenden Bildungsstätte in Moskau erlebt habe. Dort war eine Reihe von Werkstätten geschlossen, einfach, weil aus Nachlässigkeit der vorgesetzten Behörde die Grenzfrage der Belieferung mit Materialien durch das eine oder das andere Kommissariat, das Kommissariat für professionelle Arbeit oder das Kommissariat für Volksaufklärung ungefähr fünfviertel Jahr lang unentschieden geblieben war. Man wundert und ärgert sich schließlich nicht mehr, zieht seine Schlüsse und geht seiner Wege, d. h. man geht, wenn man überhaupt noch zu gehen imstande ist. Als ich infolge totaler Erschöpfung und des erbärmlichen Pflasters von Moskau in einer Nacht auf der Straße hingeflogen war und mir Knie und Ellenbogen blutig geschlagen hatte, war ich gezwungen, mich nach einem Stock oder irgendeiner Stütze umzusehen. Der normale Weg wäre gewesen, ein Gesuch an die mir übergeordnete Behörde, das Auswärtige Amt, einzureichen und zu begründen, weshalb ich einen Stock benötige. Dieser Instanzenweg hätte, wenn es an den städtischen Verteilungsstellen wirklich so etwas wie einen Stock gegeben hätte, was man mir aber sofort verneinte, ungefähr zwei Wochen gedauert ... Ebenso die Besohlung von Amts wegen meines zweiten Paares total durchgelaufener Stiefel. Ich zog es vor, auf den Markt zu gehen, von dem ich später ausführlich sprechen werde, wo aber keine Stöcke, sondern nur Besen zu haben waren. Ein Besen kostete 12.000 Rubel. Ich hätte den Besenstiel entzwei sägen müssen, und er wäre nur eine notdürftige Stütze gewesen. Infolgedessen brach ich von meinem Regenschirm das untere Holz ab und ging so mit einer etwas breiteren Basis wochenlang in Russland spazieren. Kleine Fehler der Organisation, aber man spürt sie am eigenen Leibe.

Was soll nun aus dieser maßlosen Zentralisation, aus diesem weiter und immer weiter überwuchernden Beamtenkörper, diesem parasitären wilden Fleisch an dem gesunden Leib eines Arbeitervolkes werden?

Oft fuhr ich nachts aus einem Alptraum auf. Ich sah die Menschheit der Zukunft in zwei Lager gespalten. Die eine Hälfte saß in den Ämtern, die andere wartete in Vorzimmern. Die ganze Entwicklung der Politik kam mir so vor: die in den Vorzimmern strebten danach, selbst die Macht an sich zu reißen, d. h. drin in den Amtszimmern zu sitzen, damit jene, die jetzt im Amt saßen, sich draußen in den Vorzimmern in Reihen stellen müssten. Am ersten Tage meiner Anwesenheit auf ehemals russischem Boden, in Reval, während ich auf das Visum meines Passes im Auswärtigen Amt der Republik Eesti wartete, habe ich mir ein Andenken an diese drei Stunden mitgenommen. Das Außenministerium der Republik Estland ist in einem wunderschönen ehemaligen Herrenhaus, einem großen Haus aus dunkelroten Holzstämmen mit schwarzen Ornamenten außen, weißen Räumen mit enormen Kachelöfen und Empiremöbeln innen untergebracht. Im Empfangszimmer, in dem ich auf meinen Pass wartete, drei Stunden lang wartete – es gingen derweil junge Beamte und Beamtinnen aus und ein, saßen auf den hübschen Empiremöbeln, erhielten von Leuten, die Anliegen hatten, Bonbonpakete, Blumen und anderes zugesteckt – in diesem schönen Vorzimmer habe ich eine Quaste von einem der Empiremöbel abgedreht. All' die Empiresessel und Fauteuils hatten seidene Borten, die von nervösen, stundenlang wartenden Vorzimmerkreaturen in unzählige Fasern zerpflückt und zerrissen über die Lehnen und Beine herunterhingen. Meine Verzweiflungstat vollendete nur das Zerstörungswerk ungezählter Vorgänger in den Empirefauteuils. Wenn ich nachher im Laufe der Monate in Ämtern zu tun und zu warten hatte, zupfte ich in der Tasche an dieser ersten Quaste, fühlte, dachte und betete. Ich betete: lieber Gott, man hat dich abgeschafft; ehe du aber vollkommen von der Erde verschwindest, erlöse uns von diesem Übel. Ich kenne keinen anderen Weg. An wen soll ich mich wenden? An einen Volkskommissar?


William Morris – 1834 – 1896

britischer Maler, Architekt, Dichter, Kunstgewerbler, Ingenieur und Drucker

Und dann dachte ich an William Morris und mein Lieblingsbuch „Märchen von Nirgendwo“. An den wunderbaren Traum, den vor Morris schon Fourier geträumt hat, von dem Schmetterlingstrieb im Menschen, dem Trieb, sich nicht in einer einzigen Beschäftigung zu verknöchern, kein Spezialist zu sein, sondern aus dem Leben an Abwechslungsmöglichkeiten all' das herauszuschlagen, was es enthält und freiwillig hergibt, ohne geschlagen zu werden, wenn die Menschen sich nur ein bisschen helfen wollen, statt sich zu unterdrücken. Ich dachte an die „kleinen Horden“, die Kinder, die so gern im Schmutz wühlen, die daher in der Gesellschaft der Zukunft die Kloaken reinigen werden. Welche Menschenklasse wird in der Gesellschaft der Zukunft die Ämter anfüllen? Gibt es denn Menschen, die das Brot des Bürokraten aus andern Gründen als aus der absoluten Notwendigkeit, zu leben, die es aus dem Trieb, dem Mitmenschen das Leben so sauer wie möglich zu machen, verzehren?

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Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland

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