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Vorwort

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Mit dem Ende des Kalten Krieges ging gleichzeitig auch die Ära der ideologischen Konfrontation zu Ende. Das Ende der Geschichte wurde damit freilich nicht eingeleitet, wie eigentlich versprochen – vielmehr wird ein altes Hass-System durch ein neues abgelöst. Während vor unseren Augen die Decke ideologischer Repression über Osteuropa weggezogen wird, treten ethnische Antagonismen zutage, die tief in der Erfahrung und im Gedächtnis der Menschen wurzeln. Mit dem Verlöschen des ideologischen Wettbewerbs nunmehr auch in der Dritten Welt lässt dort zugleich die Eindämmung nationaler und tribalistischer Konfrontationen durch die Supermächte nach.

Die Ära der ideologischen Konflikte läuft inzwischen aus. Damit tritt die Menschheit jedoch ein – vielmehr: aufs Neue tritt sie ein – in eine vielleicht noch gefährlichere Epoche ethnischer, herkunftsbezogener Animositäten.

Feindseligkeiten der eigenen Ethnie einer anderen gegenüber gehören zu den am meisten instinktgesteuerten menschlichen Reaktionen. Dennoch war die Geschichte unseres Planeten zu weiten Teilen die Geschichte der Vermischung von Völkern. Von Anbeginn an haben Massenmigrationsbewegungen Massenfeindseligkeiten hervorgerufen.

Heute, da das 20. Jahrhundert sich dem Ende zuneigt, kommt hier eine Vielzahl von Faktoren zusammen. Weit bedeutsamer noch als die Verflüchtigung des Kalten Krieges wirkt sich die Entwicklung schnellerer Kommunikations- und Verkehrsmittel aus, die Beschleunigung des Bevölkerungswachstums, der Zusammenbruch traditioneller sozialer Strukturen, die Flucht vor Tyrannei, vor Armut, vor Hungersnöten, vor ökologischen Katastrophen, der Traum vom besseren Leben irgendwo anders. All dies treibt Menschen über nationale Grenzen hinweg.

Die Welt schrumpft zusammen, ihre Bevölkerung ist heute durchmischt wie nie zuvor. Die Schrumpfung unterwirft die Welt einer Art Schrotsäge, die sie in entgegengesetzte Richtungen reißt – intensiver Druck in Richtung Globalisierung einerseits, in Richtung Fragmentierung andererseits. Der Weltmarkt, die elektronischen Technologien, die Sofortkommunikation, E-Mail, CNN – all dies untergräbt den Nationalstaat und entwickelt eine Welt ohne Grenzen. Gleichzeitig treiben genau diese internationalisierenden Kräfte die normalen Menschen dazu, Zuflucht vor unerbittlichen globalen Strömungen zu suchen, die sich ihrer Kontrolle und ihrem Verständnis entziehen. Je mehr Menschen das Gefühl haben, in einem riesigen, unpersönlichen, anonymen Meer zu treiben, desto verzweifelter schwimmen sie auf irgendein vertrautes, verständliches und schützendes Rettungsfloß zu; und desto mehr sehnen sie sich nach einer Politik der Identität. Integration und Desintegration sind daher Gegensätze, die sich gegenseitig verstärken. Je mehr sich die Welt integriert, umso mehr klammern sich die Menschen an ihre jeweiligen Eigengruppen, die in diesen post-ideologischen Tagen zunehmend durch ethnische und religiöse Loyalitäten definiert werden.

Was geschieht, wenn Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Religionen praktizieren, in derselben geographischen Region und unter derselben politischen Autorität miteinander zusammenleben? Wenn kein gemeinsames Ziel sie verbindet, werden ethnische Antagonismen sie auseinandertreiben. In dem dunkel vor uns liegenden Jahrhundert steht die Zivilisation vor einer kritischen Frage: Was hält eine Nation eigentlich zusammen?

Niemand dachte im 19. Jahrhundert sorgfältiger über eine repräsentative Regierung nach als John Stuart Mill1. Die beiden Elemente, die eine Nation, so wie Mill sie sah, definierten, waren der Wunsch der Bewohner, gemeinsam regiert zu werden, und die „gemeinsame Sympathie“, die sich in gemeinsamer Geschichte, gemeinsamen Werten und durch die gemeinsame Sprache entfalten würde.

„Freie Institutionen“, schrieb Mill, „sind in einem Land, das aus verschiedenen Nationalitäten besteht, so gut wie unmöglich. Innerhalb eines Volkes ohne Verbundenheitsgefühl der Menschen füreinander, gerade, wenn sie in verschiedenen Sprachen lesen und sprechen, kann eine geeinte öffentliche Meinung, die für die Arbeit einer repräsentativen Regierung notwendig ist, nicht existieren. ... Es ist im Allgemeinen für freie Institutionen eine notwendige Bedingung, dass die Grenzen der Regierungsmacht im Wesentlichen mit denen der Nationalitäten übereinstimmen.“

In unserer Welt decken sich diese Grenzen immer weniger miteinander. Es gibt nur noch wenige ethnisch homogene Staaten. Tagtägliche Ereignisse zeigen uns die Zerbrechlichkeit des nationalen Zusammenhalts. Wohin man auch blickt, überall ist Tribalismus der Grund dafür, dass Nationen auseinanderbrechen. Die Sowjetunion, Jugoslawien, die Tschechoslowakei sind schon auseinandergebrochen. Indien, Indonesien, Irland, Israel, Libanon, Sri Lanka, Afghanistan und Ruanda erleben ethnische oder religiöse Unruhen. Ethnische Spannungen verursachen Unruhen und Aufspaltungen in China, Südafrika, Rumänien, der Türkei, Georgien, Aserbaidschan, auf den Philippinen, in Äthiopien, Somalia, Nigeria, Liberia, Angola, dem Sudan, Kongo, Guyana, Trinidad, um nur einige zu nennen. Selbst so stabile und kultivierte Nationen wie Großbritannien und Frankreich, Belgien und Spanien sehen sich mit zunehmenden ethnischen Problemen konfrontiert. „Das Virus des Stammesdenkens“, schreibt der britische Economist, „droht das AIDS der internationalen Politik zu werden – jahrelang scheint es zu schlafen, dann aber flammt es auf, um ganze Länder zu zerstören.“

Nehmen wir den Fall unseres Nachbarn im Norden. Kanada wurde lange als das vernünftigste und friedfertigste Land der Welt betrachtet. „Reich, friedlich und, gemessen an anderen Ländern, beneidenswert erfolgreich“, schreibt der Economist, „doch heute an der Schwelle zu zerbrechen.“ Michael Ignatieff, der in England lebende Sohn eines in Russland geborenen kanadischen Diplomaten und von daher ein Beispiel für die moderne Vermischung von Völkern, schreibt über Kanada:

„Hier haben wir eines der fünf reichsten Länder der Erde, ein Land, das so einzigartig gesegnet ist mit Raum und Chancen, dass die Ärmsten der Welt an seine Tür klopfen, um eingelassen zu werden. Es selbst zerreißt darüber jedoch. ... Wenn eines der fünf am meisten entwickelten Länder der Erde keinen föderalen, multiethnischen Staat herausbilden kann, wer kann es dann?“

Die Antwort auf diese zunehmend bedeutsamer werdende Frage lautet, zumindest bis vor kurzem: die USA.

Wie gelang es den Amerikanern aber, so erfolgreich zu sein bei der Anwendung dieses beispiellosen Kunstgriffs? Andere Länder brachen auseinander, weil sie es versäumten, ethnisch ganz unterschiedlichen Menschen überzeugende Gründe zu liefern, sich selbst als Teil derselben Nation zu sehen. Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe2 schreibt über sein eigenes Land, eines der reichsten Afrikas, das heute am Rande des Chaos steht: „Dies ist die größte Schwäche der Nigerianer – ihre Unfähigkeit, schwerwiegenden Bedrohungen als ein Volk zu begegnen – und nicht als konkurrierende religiöse und ethnische Interessengruppen.“

In dieser Hinsicht haben die USA gut funktioniert. Als multiethnisches Land haben sie, abgesehen von einem schrecklichen Bürgerkrieg, irgendwie zusammen- und miteinander durchgehalten. Was hat eigentlich die Amerikaner über zwei turbulente Jahrhunderte hinweg zusammengehalten, trotz des Fehlens einer gemeinsamen ethnischen Herkunft? Denn Amerika war multiethnisch von Anfang an. Hector St. John de Crèvecoeur3 emigrierte 1759 aus Frankreich in die amerikanischen Kolonien, heiratete eine amerikanische Frau, gründete eine Farm in Orange County, New York, und veröffentlichte während der amerikanischen Revolution seine Briefe eines amerikanischen Farmers (Letters from an American Farmer)4. Diesen Franko–Amerikaner des 18. Jahrhunderts entzückte die erstaunliche Vielfalt anderer Siedler um ihn herum: „Eine Mischung von Engländern, Schotten, Iren, Franzosen, Holländern, Deutschen und Schweden“, eine „merkwürdige Vermischung von Blut“, die man sonst in keinem anderen Land finden könne.

Crèvecoeur erinnerte sich an eine Familie, deren Großvater ein Engländer war: Seine Frau stammte aus Holland, ihr gemeinsamer Sohn heiratete eine Französin, und auch die vier Söhne dieses Paares hatten Frauen verschiedener Nationalitäten geheiratet. „Aus diesem völligen Herkunftsdurcheinander“, so schrieb Crèvecoeur, „entstand die Rasse, die wir jetzt Amerikaner nennen.“ (Das Wort Rasse, wie es im 18. und 19. Jahrhundert gebraucht wurde, meint das, was wir heute als Nationalität bezeichnen. So sprach man damals von der „englischen Rasse“, der „deutschen Rasse“ und so weiter.) Was, so überlegte der Autor, waren überhaupt die charakteristischen Eigenschaften dieser plötzlich sich bildenden amerikanischen Nationalität? In den Briefen eines amerikanischen Farmers formulierte Crèvecoeur eine berühmt gewordene Frage: „Was ist denn der Amerikaner, dieser neue Mensch?“

Crèvecoeur gab seiner eigenen Frage die klassische Antwort:

„Derjenige ist ein Amerikaner, der all seine vormaligen Vorurteile und Gewohnheiten hinter sich lässt und neue annimmt – aus der neuen Lebensart, die er nun pflegt; dazu die neue Regierung, der er nun gehorcht, und entsprechend die neue Stellung, die er nun innehat. Der Amerikaner ist ein neuer Mensch, der aufgrund neuer Prinzipien handelt. … Hier werden Menschen aller Nationen zu einer neuen Art von Menschen umgeschmolzen.“5

Der erste große amerikanische Historiker bekräftigte alsbald Crèvecoeurs Standpunkt. „Löschen Sie“, schrieb George Bancroft6,

„die Vergangenheit jeder einzelnen führenden Nation der Welt aus, und unser Schicksal wäre ein ganz anderes geworden. Italien und Spanien, in der Person von Kolumbus und Isabella, schlossen sich für jene große Entdeckung zusammen, die Amerika für Einwanderung und Handel aufschloss; Frankreich trug zu unserer Unabhängigkeit bei; die Suche nach dem Ursprung der Sprache, die wir sprechen, führt uns zurück bis nach Indien; unsere Religion stammt aus Palästina; von den Hymnen, die in unseren Kirchen gesungen werden, wurden einige zuerst in Italien vernommen, andere in den Wüsten Arabiens, wieder andere am Ufer des Euphrats; unsere Künste kommen aus Griechenland; unsere Rechtsprechung aus Rom; unser maritimer Kodex aus Russland; England lehrte uns das System der repräsentativen Regierung; die edle Republik der Vereinigten Provinzen – die Niederlande – hinterließ uns in der Welt des Denkens die große Idee der Toleranz aller Meinungen; in der Welt des aktiven Handelns das fruchtbare Prinzip der föderalen Union. Unser Land steht daher mehr als jedes andere für die Verwirklichung der Einheit des menschlichen Geschlechts.“

E pluribus unum – Eins werden aus Vielen. Die Vereinigten Staaten besaßen eine brillante Lösung für die inhärente Fragilität, ja Explosivität der multiethnischen Gesellschaft: die Schaffung einer gänzlich neuen nationalen Identität durch Individuen, die ihre alten Loyalitäten hinter sich ließen, hier ein neues Leben begannen und ihre ethnischen Differenzen einfach hinwegschmelzen ließen – eine nationale Identität, die die verschiedenen Ethnien, die unsere Küsten erreichen, absorbiert und sie transzendiert, Ethnien, die schon beim Eintreten in die neue nationale Identität die gemeinsame Kultur bereichern und umformen.

Jene unerschrockenen Europäer, die ihre Wurzeln gekappt hatten und die sich dem tosenden Atlantik entgegenwarfen, wollten eine schreckliche Vergangenheit hinter sich lassen und eine hoffnungsvolle Zukunft ergreifen. Sie sehnten sich danach, Amerikaner zu werden. Ihre Ziele waren Flucht, Erlösung, Assimilierung. Sie sahen Amerika als eine sich transformierende Nation, aus der sie schreckliche Erinnerungen verbannen und einen einzigartigen nationalen Charakter formen konnten, der auf gemeinsamen politischen Idealen und gemeinsamen Erfahrungen basierte. Die Entscheidung für Amerika bestand nicht darin, alte Kulturen zu bewahren, sondern eine neue, amerikanische Kultur zu schaffen.

Ein Grund, warum Kanada, trotz aller seiner Vorteile, so anfällig für Schismen ist, besteht in der Tatsache, dass, wie Kanadier freimütig zugeben, ihr Land eine solch einzigartige nationale Identität nicht besitzt. Immer wieder angezogen durch Großbritannien, Frankreich und die USA und aus Großzügigkeitserwägungen heraus einer Politik des offiziellen Multikulturalismus zugeneigt, haben Kanadier niemals ein starkes Bewusstsein dafür entwickelt, was es heißt, Kanadier zu sein. Mit den Worten von Sir John Macdonald7, Kanadas erstem Premierminister: „Das Land hat zu viel Geographie und zu wenig Geschichte.“

Die USA dagegen haben eine reiche Geschichte. Seit den Tagen der Revolution besitzen die Amerikaner ein starkes nationales Identitätsgefühl, das im Unabhängigkeitskrieg geschmiedet, in der Erklärung von 1776 und der Verfassung von 1787 artikuliert und durch die spätere Erfahrung der Selbstverwaltung vertieft wurde. Die Kraft des nationalen Credos ist der Grund dafür, dass es uns relativ gut gelungen ist, die „promiskuitive Rasse“ Crèvecoeurs in ein Volk umzuwandeln und dadurch eine multiethnische Gesellschaft zum Funktionieren zu bringen.

Das soll nun aber nicht heißen, dass die Vereinigten Staaten Crèvecoeurs Maßstab immer gerecht geworden wären. Neue Einwanderungswellen brachten Menschen ins Land, die nur sehr schwer in die Gesellschaft hineinpassten – eine Gesellschaft, die in ihrer Sprache, ihren Idealen und ihren Institutionen ja unvermeidlich englisch war. Für lange Zeit dominierten die Angloamerikaner die amerikanische Kultur und Politik. Sie schlossen jene aus, die nach ihnen kamen. Anglo-Amerika assimilierte nur schwer die Einwanderer aus Irland, aus Deutschland oder aus Süd- und Osteuropa.

Hinsichtlich der nichtweißen Menschen – jenen also, die Amerika schon lange zuvor besiedelt hatten und die von den europäischen Neuzuwanderern überrannt und massakriert wurden, oder jenen anderen, die gegen ihren Willen aus Afrika und Asien ins Land hinein geholt wurden – verwies ein tief verwurzelter Rassismus alle, ob rote, schwarze, gelbe oder braune Amerikaner, hinter die Grenzen ihres jeweiligen Grundstücks. Wir müssen uns einer beschämenden Tatsache stellen: Historisch gesehen war Amerika eine rassistische Nation. Weiße Amerikaner begannen als ein Volk, das in der Überzeugung von seiner rassischen Überlegenheit so arrogant war, sich ermächtigt zu fühlen, rote Menschen zu töten, schwarze Menschen zu versklaven und gelbe und braune Menschen für Tagelöhnerarbeiten zu importieren. Wir weißen Amerikaner waren rassistisch in unseren Gesetzen, in unseren Institutionen, in unseren Sitten, in unseren eingeübten Reflexen und in unseren Seelen. Der Fluch des Rassismus war das große Versagen des amerikanischen Experiments, der schreiende Widerspruch des amerikanischen Idealbilds und die noch immer lähmende Krankheit des amerikanischen Lebens – „die schönste Hoffnung der Welt“, schrieb Herman Melville, „verkettet mit des Menschen schlimmsten Verbrechen.“

Doch auch nichtweiße Amerikaner, obwohl miserabel behandelt, trugen zur Ausgestaltung der nationalen Identität bei. Auch sie, als Menschen dritter Klasse, hatten Anteil an der gemeinsamen Kultur der amerikanischen Gesellschaft und verhalfen ihr zu neuer Form und Gestalt. Das Hineinströmen nicht–angelsächsischer Stämme und die Erfahrung einer Neuen Welt formten das britische Erbe um; es machte die USA, wie wir alle wissen, zu einem ganz anderen Land, als Großbritannien es heute ist. Schon 1831 war Alexis de Tocqueville8, der große Kommentator der amerikanischen Demokratie, beeindruckt von dem „immensen Unterschied zwischen den Engländern und ihren Nachkommen in Amerika.“

Im Verlauf der zwei Jahrhunderte amerikanischer Geschichte bestand über die meiste Zeit hinweg die Vision von Amerika als eines zu einem einzigen Volk verschmolzenen Landes. Das 20. Jahrhundert brachte freilich eine neue, gegenteilige Vision hervor. Der Erste Weltkrieg zerstörte die alte Ordnung der Dinge und machte Platz für Woodrow Wilsons9 Doktrin von der Selbstbestimmung der Völker. 20 Jahre später löste der Zweite Weltkrieg die westlichen Kolonialreiche auf und intensivierte ethnische Militanz rund um den Planeten. In den Vereinigten Staaten selbst erleichterten neue Gesetze den Zutritt für Einwanderer aus Südamerika, Asien und Afrika – sie änderten die Zusammensetzung des amerikanischen Volkes.

In einem Land, das durch eine viel ungewöhnlichere Blutsmischung gekennzeichnet ist, als Crèvecoeur es sich je hätte vorstellen können, wird dessen gefeierte Frage aufs Neue aufgeworfen – mit neuer Leidenschaft und einer neuen Antwort. Heutzutage haben viele Amerikaner dem historischen Ideal einer „neuen menschlichen Rasse“ (im Sinne Crèvecoeurs, A. d. Ü.) abgeschworen. Die Flucht aus der Herkunft führt zur Suche nach den eigenen Wurzeln. Die „hergebrachten Vorurteile und Verhaltensweisen“, von Crèvecoeur noch verleugnet, haben ein überraschendes Comeback erfahren. Ein Kult der Ethnizität hat sich entwickelt – sowohl unter nicht-angloamerikanischen Weißen als auch unter nichtweißen Minderheiten. Dieser Kult verunglimpft das Ziel der Assimilierung und fordert das Konzept des „einen Volkes“ heraus, er schützt und fördert getrennte ethnische und Herkunfts- Gemeinschaften und will sie nun auf Dauer fortbestehen lassen.

Der Durchbruch der Ethnizität hatte viele positive Folgen. Die amerikanische Kultur begann, schamhaft den Leistungen jener Minderheiten eine längst überfällige Würdigung zukommen zu lassen, die während der Blütezeit angelsächsischer Dominanz unterschätzt und verschmäht worden waren. Zu guter Letzt begann auch die amerikanische Erziehung, die Existenz und Bedeutung der großen weiten Welt jenseits von Europa anzuerkennen. All dies war von großer Wichtigkeit. Natürlich sollte Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus gelehrt werden. Lasst doch unsere Kinder versuchen, sich die Ankunft von Kolumbus aus der Sicht jener Menschen vorzustellen, die ihm als erste begegneten, ebenso aber auch aus der Perspektive derjenigen, die ihn entsandt hatten! Auf einem begrenzten Planeten lebend und gleichzeitig die globale Führerschaft anstrebend, sollten Amerikaner wahrlich mehr über andere Ethnien, andere Kulturen und andere Kontinente erfahren! Und wenn sie dies tun, erwerben sie zugleich ein viel komplexeres, belebenderes Verständnis von der Welt – und damit auch von sich selbst.

Infolge einiger Übertreibungen hatte der Kult um die ethnische Zugehörigkeit freilich auch negative Folgen. Die neue frohe Botschaft von der Ethnizität weist die vereinheitlichende Vision des Menschen zurück, der, aus allen Nationen kommend, in eine „neue Rasse“ (im Sinne Crèvecoeurs, A. d. Ü.) umgeschmolzen wird. Die ihr zugrunde liegende Philosophie besteht darin, dass Amerika keineswegs eine Nation von Individuen, sondern vielmehr eine Nation von Gruppen ist, dass Ethnizität die prägende Erfahrung für Amerikaner ist, dass ethnische Wurzeln dauerhaft und unauslöschlich sind und dass die Aufteilung in ethnische Gemeinschaften die Grundstruktur der amerikanischen Gesellschaft bildet sowie die grundlegende Bedeutung der amerikanischen Geschichte darstellt.

Mit dieser Philosophie verbunden ist die Einteilung aller Amerikaner entlang ihrer ethnischen Unterscheidungsmerkmale. Doch während die ethnische Interpretation der amerikanischen Geschichte, ähnlich wie ihre ökonomische, bis zu einem gewissen Punkt gültig und erhellend ist, so ist sie wiederum vollständig irreführend und falsch, wenn sie sich als das ganze Bild darzustellen versucht. Die ethnische Interpretation macht vielmehr die historische Theorie von Amerika als einem einzigen Volk wieder rückgängig – jene Theorie, der es bis dahin gelang, dass die amerikanische Gesellschaft als Ganzes zusammengehalten werden konnte.

Amerika wird unter dieser Perspektive nicht als eine sich selbst umformende Nation mit einer ganz eigenen Identität betrachtet, sondern als Schutzhülle für verschiedene fremdländische Identitäten. Anstatt sich als eine Nation zu begreifen, die zusammengesetzt ist aus je einzelnen, ihre eigenen Entscheidungen frei treffenden Individuen, sieht Amerika sich selbst in wachsendem Maße zusammengesetzt aus einzelnen Gruppen, die mehr oder weniger unabwendbar von ihrem ethnischen Charakter geprägt sind. Das multiethnische Dogma beendet die gemeinsamen Zielsetzungen unserer Geschichte, es ersetzt Assimilation durch Fragmentierung und Integration durch Separatismus. Es setzt das Unum herab und glorifiziert dafür das Pluribus.

Auf vielen Gebieten ist die historische Idee einer einheitsstiftenden amerikanischen Identität heute in Gefahr – in unserer Politik, in unseren Freiwilligen-Organisationen, in unseren Kirchen und in unserer Sprache. Doch auf keinem Gebiet ist die Zurückweisung einer alles überwölbenden nationalen Identität entscheidender als in unserem Erziehungssystem.

Unsere Schulen und Gymnasien der Republik bilden die Bürger der Zukunft heran. Insbesondere unsere öffentlichen Schulen sind das vorrangige Instrument der Assimilierung und das wichtigste Mittel zur Heranbildung einer amerikanischen Identität.

„Der große Schmelztiegel Amerikas“, sagte Woodrow Wilson einmal, „der Ort, an dem wir alle zu Amerikanern gemacht werden, ist die öffentliche Schule, wohin Menschen jeglicher ethnischer Herkunft und in jeder Lebensphase ihre Kinder schicken oder hinschicken sollten und wo die Jugendlichen, wenn sie dort zusammengemischt werden, alle vom amerikanischen Geist durchdrungen werden und sich zu amerikanischen Männern und amerikanischen Frauen entwickeln.“

Was Schülern in den Schulen beigebracht wird, beeinflusst die Art und Weise, mit der sie später andere Amerikaner sehen und wie sie mit ihnen umgehen werden – letztlich die Art und Weise, wie sie später die gemeinsamen Ziele unseres Gemeinwesens begreifen. Die Auseinandersetzung über das schulische Curriculum ist eine Debatte darüber, was es bedeutet, ein Amerikaner zu sein.

Die Verfechter der Ethnizität behaupten nun, dass ein Hauptziel der schulischen Erziehung in Schutz, Stärkung, Zelebrierung und in der Perpetuierung ethnischer Wurzeln und Identitäten liege. Separatismus freilich nährt Vorurteile, vergrößert Differenzen und wühlt Antagonismen auf. Die daraus resultierende Zunahme ethnischer und rassischer Konflikte steckt hinter dem Wirbel um Multikulturalismus, um politische Korrektheit, um Ungerechtigkeiten des eurozentrischen Curriculums. Sie liegt auch hinter der Vorstellung, dass Geschichte und Literatur nicht so sehr als intellektuelle Disziplinen gelehrt werden sollten, sondern als Therapien, deren Funktion es sei, das Selbstbewusstsein von Minderheiten zu stärken.

Während wir gerade Zeuge werden, wie ein Land nach dem anderen durch ethnische Konflikte auseinandergerissen wird, kann man nicht gleichgültig auf Vorschläge reagieren, die die Vereinigten Staaten in eigenständige und unveränderliche Gemeinschaften entlang von Ethnie und Hautfarbe auseinanderdividieren wollen, von denen jeder beigebracht wird, das jeweils eigene Anders- und Getrennt-Sein10 von den anderen Gruppen hochzuhalten. Man fragt sich: Wird die Mitte halten – oder wird der Schmelztiegel dem Turm von Babel weichen?

Ich möchte nicht apokalyptisch klingen, wenn ich diese Entwicklungen beschreibe. Erziehung ist immer in Entwicklung begriffen, und das ist auch gut so. Schulen und Gymnasien waren schon immer Kampfstätten für Debatten über Glaubensvorstellungen, Philosophien und Werte. Die Situation in unseren Universitäten – da bin ich zuversichtlich – wird sich bald von selbst berichtigen, sobald die große schweigende Mehrheit der Professoren „Genug!“ ruft und all das anficht, von dem sie weiß, dass es zeitgeistiges Geschwätz ist.

Weitaus beunruhigender sind die Auswirkungen des Drucks bezüglich Ethnie und Hautfarbe, der auf unsere Grundschulen ausgeübt wird. Die Bindekräfte nationalen Zusammenhalts sind längst in Gefahr zu zerbrechen. Die schulische Erziehung sollte sich bemühen, diese Bindekräfte zu stärken, anstatt sie zu schwächen. Wenn sich separatistische Tendenzen weiterhin unkontrolliert entwickeln, dann kann das Resultat nur die Fragmentierung, die Re-Segregation und die Tribalisierung des amerikanischen Lebens sein.

Ich bleibe optimistisch. Mein Eindruck ist, dass die geschichtlichen Kräfte, die in Richtung „one people“ drängen, noch nicht ihre Kraft verloren haben – für die meisten Amerikaner ist es ja genau dies, worum es in unserer Republik eigentlich geht. Im Streit zwischen „Einheit zuerst“ und „Ethnizität zuerst“ widerstehen sie den Extremen. „Die meisten Amerikaner“, so sagte New Yorks Gouverneur Mario Cuomo11 zu Recht,

„können sowohl das Bedürfnis verstehen, eine entwickelte Diversität anzuerkennen und zu fördern, als auch das Bedürfnis, sicherzustellen, dass eine solche, breit angelegte multikulturelle Perspektive zur Einigkeit unter den Amerikanern führt und zu einer umfassenden Besinnung auf das, was es heißt, Amerikaner zu sein, nicht aber zu einer destruktiven Aufspaltung, die uns auseinander reißen würde.“12

Was immer ihre selbsternannten Sprecher behaupten mögen – die meisten in Amerika geborenen Mitglieder von Minderheitengruppen, gleichgültig, ob von weißer oder nichtweißer Hautfarbe, sehen sich, auch wenn sie ihre Herkunft in Ehren halten, primär jeweils als Amerikaner und nicht in erster Linie als Iren oder Ungarn, Juden, Afrikaner oder Asiaten. Ein beredter Indikator ist die wachsende Anzahl von Eheschließungen über die Grenzen ethnischer, religiöser, ja sogar (in wachsendem Maße) über Grenzen der Hautfarbe hinweg. Der Glaube an eine einzige amerikanische Identität ist alles andere als ausgestorben.

Doch die Bürde, das Land zu einigen, fällt nicht exklusiv allein den Minderheiten zu. Assimilation und Integration sind ein wechselseitiger Prozess. Jene, die sich in Amerika integrieren wollen, müssen durch diejenigen, die meinen, dass sie Amerika schon lange besitzen, empfangen und willkommen geheißen werden. Wie ich schon bemerkte, ist der Rassismus die große nationale Tragödie unseres Landes. In der letzten Zeit hat das weiße Amerika endlich begonnen, sich dem Rassismus zu stellen, der sich so tief und schandbar in unsere Geschichte eingenistet hat. Doch der Triumph über den Rassismus ist nicht vollständig.

Wenn konservative Amerikaner Menschen anderer Nationalität und anderer Hautfarbe etwa so behandeln, als seien sie unverdauliche Elemente, die es zu meiden und auszugrenzen gelte, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn die Minoritäten sich verbittert nur noch auf ihresgleichen beziehen und jeden anderen ausschließen. Nicht nur diese müssen die Assimilation und die Integration wollen – auch wir müssen das tun! Die Aufgabe, dieses Land zu einem geeinten Land werden zu lassen, liegt in gleicher Weise bei der selbstzufriedenen Mehrheit der Gesellschaft wie bei den bedrängten Minderheiten.

Die amerikanische Bevölkerung hat sich fraglos in jüngster Zeit viel heterogener als je zuvor entwickelt. Doch diese Heterogenität macht die Suche nach einheitsstiftenden Idealen und nach einer gemeinsamen Kultur umso notwendiger. Amerika, so Scott Fitzgerald13, ist „die freudige Bereitschaft des Herzens“. Wir haben es in unserer Macht, dieses Land zu einem fairen und gerechten Land für unser ganzes Volk zu machen.

Erinnern wir uns der Worte Mahatma Gandhis14, die einst öffentlich auf Plakaten in ganz Indien zu sehen waren – einem Land, das durch ethnische, religiöse, sprachliche und durch Kastengegensätze weitaus heftiger gespalten ist als unser eigenes. „Wir müssen aufhören“, sagte Gandhi,

„ausschließlich Hindus, Muslime oder Sikhs, Parsen, Christen oder Juden zu sein. Wir mögen zwar standhaft an unseren jeweiligen Glaubensbekenntnissen festhalten, aber wir müssen Inder zuerst und Inder zuletzt sein.“

Weil Indien diese Lehre Gandhis aufgegeben hat, ist es heute so bitter in sich zerrissen.

Im Geiste Gandhis mögen wir als so gänzlich untereinander verschiedene Amerikaner zwar unerschütterlich an unseren jeweiligen Traditionen und Glaubensbekenntnissen festhalten, sollten aber nicht vergessen, dass wir zueinander gehören: als Amerikaner, zuerst und zuletzt. Oder in den Worten Martin Luther Kings15: zusammen eingewoben „in ein einziges Gewand des Schicksals“. In einer Welt, die durch Antagonismen entlang von Ethnien und Hautfarbe heftig zerrissen ist, ist es umso bedeutsamer, dass die Vereinigten Staaten als ein Beispiel dafür erhalten bleiben, wie sich eine stark ausdifferenzierte Gesellschaft ihren Zusammenhalt bewahrt.

Arthur M. Schlesinger Jr.

1 John Stuart Mill (1806-1873): Britischer Philosoph, Politiker und Ökonom, einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts. (A. d. Ü.: Quelle aller nachfolgenden Erläuterungen zu Personen im Text ist, wenn nicht anders vermerkt, Wikipedia.)

2 Albert Chinụalụmọgụ „Chinua“ Achebe (1930-2013): nigerianischer Schriftsteller, gilt als einer der Väter der modernen afrikanischen Literatur.

3 Michel-Guillaume Jean de Crèvecoeur (1735-1813): franko-amerikanischer Schriftsteller.

4 Die folgenden Zitate stammen aus Letter III in Crèvecoeurs Letters from an American Farmer (1782). Hervorhebung im letzten Satz hinzugefügt.

5 Crèvecoeur im Original: „Here individuals of all nations are melted into a new race of men.”

6 George Bancroft (1800-1891): US-amerikanischer Historiker und Politiker. Als eines seiner bekanntesten Werke gilt die zwölfbändige History of the United States, from the Discovery of the American Continent.

7 Sir John Alexander Macdonald (1815-1891) war zweimal im Amt, zunächst vom 1. Juli 1867 bis zum 5. Dezember 1873 und danach vom 17. Oktober 1878 bis zu seinem Tod.

8 Alexis Charles-Henri-Maurice Clérel de Tocqueville (1805-1859): französischer Publizist, Politiker und Historiker. Er gilt als Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft.

9 Woodrow Wilson (1856-1924): Politiker der Demokratischen Partei. US-Präsident 1913-1921.

10 Im Original „apartness“, „Getrenntheit“, ein Neologismus, der möglicherweise auf die südafrikanische ‚Apartheid‘ anspielen soll.

11 Mario Matthew Cuomo (1932-2015): US-amerikanischer Politiker der Demokratischen Partei. Er war von 1983 bis 1994 Gouverneur des Bundesstaates New York.

12 Mario Cuomo: Erklärung zur multikulturellen Erziehung, 15. Juli 1991.

13 Francis Scott Key Fitzgerald (1896-1940): US-amerikanischer Schriftsteller.

14 Mahatma Gandhi (1869-1948): indischer Rechtsanwalt, Publizist, Morallehrer und Pazifist, der zum geistigen und politischen Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung wurde.

15 Martin Luther King Jr. (1929-1968): US-amerikanischer Baptistenpastor und Bürgerrechtler.

Die Spaltung Amerikas

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