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III. KAPITEL
Weltkrieg und Burgfrieden
ОглавлениеAm 4. August 1914 bewilligte der Reichstag einstimmig, auch mit den Stimmen sämtlicher Sozialdemokraten, die Kriegskredite. Dann ging das Parlament auseinander und überließ der Regierung Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs, ohne auch nur den Versuch einer Kontrolle zu machen, die Kriegführung. Gleichzeitig verzichteten die Parteien, wenigstens in der Öffentlichkeit, auf jeden Kampf gegeneinander und auf jede Opposition gegen die Regierung. Den Zeitgenossen war vielfach das Bekenntnis der Sozialdemokraten zur Landesverteidigung überraschend, während man den sogenannten Burgfrieden als selbstverständlich hinnahm. Wer heute vom historischen Standpunkt aus den 4. August überdenkt, kommt zu einem umgekehrten Resultat: Der Entschluß der Sozialdemokraten, an der Verteidigung Deutschlands mitzuwirken, entsprach der marxistischen, sozialistischen Tradition. Dagegen war der Burgfrieden durchaus nicht so selbstverständlich, wie er damals dem deutschen Volke vorkam.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion umfaßte 110 Abgeordnete, die Fraktion entschied sich gegen 14 Stimmen für die Bewilligung der Kriegskredite. Die 14 Vertreter der Minderheit haben sämtlich in der öffentlichen Reichstagssitzung die Fraktionsdisziplin gehalten und für die Kredite gestimmt. Auch Karl Liebknecht hat am 4. August der kaiserlichen Regierung fünf Milliarden zur Führung des Krieges bewilligt. Hätte die Minderheit die Bewilligung der Kredite am 4. August als Verbrechen am Sozialismus betrachtet, so hätte sie die Fraktionsdisziplin gebrochen, ganz besonders ein so eigenwilliger und tapferer Charakter wie Karl Liebknecht. Sozialdemokratische Abgeordnete haben erst später im Reichstag die Kriegskredite verweigert, als sie die Überzeugung hatten, daß die deutsche Regierung keinen Verteidigungskrieg zur Sicherung der Existenz des Volkes, sondern einen Eroberungskrieg führe.
Die Haltung der sozialdemokratischen Abgeordneten am 4. August war in erster Linie durch die Stimmung der sozialistischen Arbeitermassen beeinflußt, die nicht dulden wollten, daß die Truppen des Zaren über Deutschland herfielen. Aber darüber hinaus befand sich die sozialdemokratische Fraktion bei dem Bekenntnis zur Landesverteidigung durchaus im Einklang mit der marxistischen Lehre1. Marx und Engels waren zwar der Ansicht, daß die sozialistische Gesellschaft in einer späteren Zukunft den Krieg beseitigen werde. Aber in der Periode des Kapitalismus hielten sie den Krieg für ein Mittel der Politik, mit dem der Staatsmann – auch der Staatsmann des Proletariats – einfach rechnen muß. Ebenso gibt der Marxismus jeder Nation das Recht auf unabhängige Existenz und damit das Recht der Selbstverteidigung. Darüber hinaus beurteilt der Marxismus jeden Krieg nach den Interessen des internationalen Proletariats, und so sollen die sozialistischen Arbeiter aller Länder zu jedem Krieg eine einheitliche Auffassung vertreten.
Ein klassisches Beispiel für die marxistische Stellung zum Kriege bietet die Haltung von Marx und Engels zum Kriege 1870/71. Beim Kriegsausbruch waren die beiden Häupter des internationalen Sozialismus der Meinung, daß die Niederlage des reaktionären Bonapartismus und die Einigung Deutschlands auch den proletarischen Interessen diene. Nach Sedan änderte sich die Lage: Marx und Engels empfahlen den französischen Arbeitern, mit allen Kräften die neue Republik zu verteidigen, und den deutschen Arbeitern, sich für einen maßvollen Frieden einzusetzen, vor allem gegen eine Annexion Elsaß-Lothringens zu protestieren. Denn die Annexion geschehe gegen den Willen der Elsässer und Lothringer, und sie treibe zwangsläufig Frankreich in die Arme des Zarismus.
In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sah Engels den Krieg Frankreichs und Rußlands gegen Deutschland kommen, und er hatte über ihn folgendes Urteil; Deutschland sei nicht nur das Land der Hohenzollern, sondern auch der Sitz der stärksten und am besten organisierten sozialistischen Arbeiterschaft der Welt. Deshalb sei ein Angriff auf Deutschland zugleich ein Angriff auf die Existenz der sozialistischen deutschen Arbeiterklasse. Darum erfordere das Interesse der sozialistischen Internationale den Abwehrsieg Deutschlands. Freilich habe die deutsche Arbeiterschaft die Pflicht, dafür zu sorgen, daß der Krieg zur Revolutionierung Rußlands führe und daß Frankreich durch ein siegreiches Deutschland nicht vergewaltigt werde. Der Krieg würde auch innerpolitisch die Macht der deutschen Arbeiter außerordentlich steigern und bei gutem Ausgang den Sieg des Sozialismus in Deutschland vorbereiten. Friedrich Engels wünschte also für den europäischen Krieg, daß die Arbeiterschaft der großen Länder, jede an ihrem Platz, für die gemeinsame Aufgabe wirke: die deutschen Arbeiter für den deutschen Sieg, aber mit ihren eigenen Kriegszielen, nicht mit den Kriegszielen des deutschen Großkapitals, die russischen Arbeiter für die russische Revolution, und die französischen Arbeiter für einen möglichst schnellen Frieden mit Deutschland ohne gegenseitige Vergewaltigung.
Von den Gedanken der Altmeister des Sozialismus war in der deutschen Arbeiterschaft so viel lebendig, daß in einem Kriege Deutschlands mit dem russischen Zaren und seinen Verbündeten die deutschen Arbeiter das Recht und die Pflicht der Landesverteidigung hätten. Diese Tradition von Marx und Engels wirkte in der Abstimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 4. August entscheidend nach. Aber der Burgfrieden mit der kaiserlichen Regierung folgte aus der Lehre von Marx und Engels nicht. Selbst die bürgerlichen Parteien Deutschlands hätten sich mit guten Gründen gegen den Burgfrieden wehren können.
Wenn ein großes Volk im Kriege um seine Existenz kämpft, muß es alle Kräfte entfesseln, die in seinem Innern schlummern. Mit allen Mitteln muß der Geist und Wille gerade der ärmeren Volksmassen geweckt werden. Das ist aber nicht möglich unter der Losung »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, sondern nur unter höchster freier Selbsttätigkeit der Massen. Das berühmteste Beispiel eines solchen Volkskrieges ist die Verteidigung des revolutionären Frankreichs 1793/94 gegen das monarchistische Europa. Ebensowenig hätten die Bolschewiki 1917/20 ohne die ungeheuere Willenssteigerung der russischen Arbeiter und Bauern siegen können. Auch auf die englische Revolution von 1688 folgte der lange, schwere Krieg mit Ludwig XIV., in dem England nur siegen konnte, weil das Unterhaus alle Kräfte in der Nation lebendig machte. Die Geschichte lehrt, daß ein Volkskrieg nicht unter aristokratischem Kommando mit Zensur und Belagerungszustand zu führen ist, sondern nur durch die selbständige Aktivität der Massen.
Ferner: Ist es erforderlich, daß in einem großen Kriege die Parteigegensätze schweigen und daß jede Kritik an der zufällig vorhandenen Regierung verstummt? Auch diese Frage ist nach der geschichtlichen Erfahrung zu verneinen. Das englische Unterhaus dachte von 1689 bis 1697 gar nicht daran, mit den konservativen »Jakobiten« Burgfrieden zu schließen, sondern es schickte sie auf den Galgen. Die Bergpartei hat 1792 bis 1794 mitten im Kriege die feudale wie die Bourgeois-Aristokratie Frankreichs niedergeworfen. Die Landesverteidigung hat wahrlich darunter nicht gelitten. Aus der rücksichtslosen Verschärfung des Klassenkampfes schöpften die Bolschewiki die Kraft, die Entente abzuwehren. Mustafa Kemal hat während des Befreiungskrieges der modernen Türkei die Alttürken mit Feuer und Schwert ausgerottet. Um die Engländer und Franzosen aus dem Lande werfen zu können, mußte Kemal zunächst den Sultan in Konstantinopel stürzen.
In einem großen Volkskrieg wird stets die entschlossenste Partei oder Klasse, die Richtung, die am tiefsten in den Massen verwurzelt ist, die Macht an sich reißen und aus der Überwindung der innerpolitischen Gegner die Kraft zum Siege über den äußeren Feind schöpfen. Die Entwicklung in England und Frankreich während des Weltkrieges lehrt das gleiche. In beiden Ländern war die bürgerliche Demokratie fest gegründet, Arbeiter und Bauern stellten sich unter die Führung des Bürgertums, das so die Gesamtkraft der Nation mobilisierte. In beiden Ländern hat man während des Krieges rücksichtslos die politische und militärische Führung kritisiert. Ungeeignete Minister und Feldmarschälle wurden durch die öffentliche Kritik beseitigt. In England wie in Frankreich war die Arbeiterschaft politisch zu schwach, um die Macht zu übernehmen. Aber als die Schwierigkeiten sich im Laufe des Krieges häuften, kam in England Lloyd George zur Macht und in Frankreich Clemenceau. Beide verkörperten den äußersten linken Flügel des Bürgertums mit der stärksten Verbindung zu den ärmeren Volksmassen. Lloyd George hatte vor dem Kriege die Macht des aristokratischen Oberhauses gebrochen und im Bunde mit den englischen Arbeitern das berühmte Budget aufgestellt, das die Reichen aufs schärfste besteuerte. Clemenceau blickte auf vierzig Kampfjahre in den Reihen der radikalen Bewegung von Gambetta bis zur Dreyfus-Affäre zurück. So gewannen die beiden Männer die Autorität, mit der sie ihre Völker im Kriege führten. Die deutschen Lloyd George und Clemenceau waren Michaelis und Hertling. Bei beispielloser Aufopferung und Ausdauer mußte doch das deutsche Volk im Weltkriege für die Mängel seiner geschichtlichen Entwicklung büßen.
Am 4. August hätten die Parteien im Reichstag sich sagen können, daß die Koalition Englands, Frankreichs, Rußlands und Japans gegen Deutschland den völligen Bankrott der Außenpolitik Wilhelms II. und Bethmann-Hollwegs darstellte. Mit der Kriegserklärung hört die Politik nicht auf, sondern das Schicksal Deutschlands hing mindestens ebenso wie von den Waffen von der politischen Geschicklichkeit seiner Regierung ab. Wenn es im Augenblick nicht zweckmäßig war, Bethmann-Hollweg oder gar den Kaiser abzusetzen, hätte man nicht mindestens die öffentliche Kritik an der Regierung sichern müssen? Hätte man nicht die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit der politischen Parteien verteidigen müssen? Hätte nicht zumindest der Reichstag über den 4. August hinaus zusammenbleiben müssen, um bei den Krisen des Krieges, die jeden Augenblick eintreten konnten, auf dem Posten zu sein? Mußten die Parteien sich nicht darüber Gedanken machen, was Deutschland in diesem Kriege bezweckte? Denn mit allgemeinen Schlagworten wie »Verteidigung« und »Sicherung« läßt sich keine Politik machen. Aber die Parteien, von den Konservativen bis zu den Sozial-demokraten, haben solche Fragen am 4. August nicht gestellt. Sie bewilligten die Kredite und ließen sich bis auf weiteres nach Hause schicken. Die Regierung behielt unangefochten die diktatorische Gewalt, alle militärischen, politischen und wirtschaftlichen Fragen zu entscheiden. Mit Hilfe von Zensur und Belagerungszustand konnte die Regierung jede politische Meinungsäußerung im Volke unterdrücken. Das war der deutsche Burgfrieden von 1914. Wie wurde er möglich?
Es entsprach den Gedankengängen der militärischen Aristokratie Preußens, daß im Kriege der König unbedingt freie Hand haben mußte. So deckte sich der Burgfrieden zunächst mit der konservativen Anschauung. Die konservativ gestimmte Führung des Zentrums hatte ebenfalls keine Neigung, die verfassungsmäßigen Rechte des Kaisers anzutasten. Eher war Widerstand von dem liberalen Bürgertum und von den Sozialdemokraten zu erwarten. Aber beiden Gruppen fehlte der politische Machtwille, der nötig gewesen wäre, um beim Kriegsausbruch dem Reichstag neue Rechte zu erobern. In derselben Richtung wirkte die beispiellose Autorität des deutschen Generalstabs. Das Ansehen des Kaisers war seit der »Daily-Telegraph«-Affäre stark gesunken, und dem Reichskanzler Bethmann-Hollweg sowie der deutschen Diplomatie traute niemand große Fähigkeiten zu. Aber der Berliner Generalstab galt als der schweigende Hüter der Tradition von 1870. Der Generalstab hatte sich auch unter Wilhelm II. von allen Tagesstreitigkeiten und Tagesdiskussionen ferngehalten. So wirkte er als geheimnisvolle militärische Autorität ohnegleichen. Am 4. August stand man mitten in der Mobilmachung, die mit einer unheimlichen Präzision im ganzen Lande vor sich ging. Keine Partei wollte es damals wagen, dem Generalstab in die Räder zu fallen. Der Reichstag bewilligte das nötige Geld und demonstrierte die Einigkeit des Volkes. So war es auch 1870 gewesen. Dann schwiegen die Politiker, und Moltke hatte das Wort.
Es ist historische Pflicht, auf den fehlenden politischen Willen im Reichstag von 1914 hinzuweisen. Aber ebenso muß man zugeben, daß die Abgeordneten damals unter dem Druck einer gewaltigen historischen Tradition standen, von der sie sich nicht befreien konnten. Friedrich Engels freilich hatte der deutschen Sozialdemokratie eine stärkere Selbständigkeit zugetraut. Nach seinem Rat hätte die Partei beim Kriegsausbruch verlangen müssen, daß der Krieg mit revolutionären Mitteln geführt werde. Dazu rechnete Engels in erster Linie die allgemeine Volksbewaffnung: nicht nur die Einberufung aller ausgebildeten Männer, sondern auch die sofortige Einziehung, Bewaffnung und notdürftige Ausbildung aller übrigen Leute im wehrpflichtigen Alter. So hätte jeder Arbeiter sofort sein Gewehr in der Hand gehabt, und die Gewalt der herrschenden Aristokratie wäre von selbst auch ohne Volksaufstand verschwunden. Gestützt auf die bewaffneten Massen hätte die Sozialdemokratie nach Meinung von Engels die Kontrolle über die Innen- und Außenpolitik der Regierung erzwingen können. Eine Probe darauf, ob das Rezept von Engels durchführbar war, wurde nicht gemacht; denn der sozialdemokratische Parteivorstand von 1914 machte keinen Versuch, der kaiserlichen Regierung seinen Willen aufzuzwingen und die Kriegführung in die Hand zu nehmen. Das liberale Bürgertum blieb ebenso passiv. Selbstverständlich hätte sich der absolute Burgfrieden im Sinne des 4. August nur bei einer ganz kurzen Dauer des Krieges aufrechterhalten lassen. Als der deutsche Generalstab dem Volke den erhofften schnellen Sieg nicht brachte, mußten die politischen Kämpfe der Parteien und Klassen von neuem entbrennen.
Das deutsche Heer von 1914 vereinigte in sich alle Eigenschaften, aus denen sich die Leistungen des deutschen Volkes auf dem Gebiet der Industrie, Technik und Organisation erklären. Die Schattenseite des Heeres war die Überspannung der militärischen Disziplin, wie sie sich aus der Herrschaft der preußischen Aristokratie ergab. Das höhere Offizierskorps umfaßte eine bedeutende Zahl von Männern, die vollkommen die umfangreiche und verwickelte militärische Wissenschaft der Gegenwart beherrschten und allen Anforderungen der Truppenführung gewachsen waren. Die entscheidende Frage war, ob auch überall die richtigen Männer auf dem richtigen Posten standen und ob die Erfahrung und Leistungsfähigkeit, die in der Armee steckten, auch wirklich ausgenutzt wurden. Die Besetzung der höchsten militärischen Kommandostellen ist niemals eine rein militärische Fachangelegenheit, sondern sie hängt von den politischen Machtverhältnissen des Staates ab. Es ist niemals möglich, auf Grund der Friedensleistungen mit unbedingter Sicherheit zu beurteilen, wie ein General sich im Kriege bewähren wird. Hier sind Irrtümer auch bei der besten und sorgfältigsten Auslese unvermeidlich. Es kommt nur darauf an, wie schnell solche Irrtümer im Kriege erkannt und korrigiert werden.
Jede Armee hat in sich eine gewisse militärische öffentliche Meinung, die über die bekannteren Generäle urteilt. In den bürgerlichen Demokratien pflegen die verantwortlichen Staatsmänner sehr sorgfältig auf die Stimme dieser öffentlichen Meinung des Heeres zu hören und demgemäß das Armeeoberkommando zusammenzusetzen. Diese Form der Führerauslese hat sich im modernen Frankreich und England ausgezeichnet bewährt. Zur Zeit des Kriegsausbruches hatte die französische Armee den denkbar besten Führer in General Joffre. Das an die Kolonialkriege gewöhnte englische Offizierskorps hat sich erst langsam den Verhältnissen des großen europäischen Krieges angepaßt. Aber es ist nicht zu leugnen, daß zu jeder Zeit des Weltkrieges die englische Oberste Heeresleitung das Beste an Kräften vereinigte, was im britischen Offizierskorps vorhanden war.
Nach der Bismarckschen Verfassung dagegen lag die Ernennung des Generalstabschefs ausschließlich in der Hand des Kaisers. Wenn ein Regent die feine Menschenkenntnis und das erprobte militärische Urteil Wilhelms I. hatte, kamen tatsächlich die besten Männer in die Führung. Der preußische Generalstab verdankte seine Leistungen von 1866/71 nicht einer mystischen militärischen Begabung des Preußentums, sondern der Tatsache, daß Wilhelm I. den alten General Moltke herausfand und ihm die Armeeführung übertrug. Unter Wilhelm II. war die Besetzung der militärischen Kommandostellen eine Sache des Zufalls. Bestimmend war die eigene Meinung des Kaisers, die ohne tiefere Personen- und Sachkenntnis sich oft nach Äußerlichkeiten bildete, ferner waren es die Vorschläge des Militärkabinetts, die von allen möglichen persönlichen und höfischen Einflüssen getragen waren. So kam es, daß zu Kriegsbeginn der jüngere General von Moltke als Chef des Generalstabs das deutsche Heer zu führen hatte.
General von Moltke war ein hochgebildeter Mann mit einem für einen hohen Offizier ungewöhnlichen, weichen und empfindsamen Charakter. Er litt im Kriege unendlich unter dem Blutvergießen, das die von ihm befohlenen Schlachten verursachten. Aber sein körperlicher und Nervenzustand war 1914 so schlecht, daß Moltke schon längst hätte pensioniert werden müssen. Bei jeder anderen Verfassungsform hätte die politische Leitung den Zustand des Generalstabschefs bemerkt und ihn in schonender Weise rechtzeitig entfernt. Man kann sich nicht denken, daß in Staaten wie Frankreich, England, Amerika und Sowjetrußland ein Mann wie Moltke die Armee in den Krieg hätte führen dürfen. Wilhelm II. beachtete das alles nicht und ließ Moltke den Oberbefehl. So hat die Bismarcksche Verfassung dahin geführt, daß die deutsche Politik im August 1914 von Bethmann-Hollweg und das deutsche Heer vom jüngeren Moltke geleitet wurde.
Für die Operationen legte General von Moltke den Schlierffenschen Plan zugrunde2. Nur eine schwache deutsche Armee wurde in Ostpreußen aufgestellt, um die Österreicher bei der Abwehr der Russen zu unterstützen. Die Hauptmasse des deutschen Heeres marschierte im Westen auf, um durch Belgien hindurch in einer gewaltigen Umfassung von Norden her die feindlichen Streitkräfte zu erdrücken. Planmäßig mußte ungefähr in sechs Wochen der entscheidende Sieg im Westen erfochten sein, damit nachher das deutsche Heer den Russen entgegentreten konnte. Zahlenmäßig waren die Kräfte an der Westfront ungefähr gleich, da die Franzosen im ersten Abschnitt des Krieges nur von 100 000 Engländern und von ein paar belgischen Divisionen unterstützt wurden. Soweit richtete sich Moltke nach den Vorschriften Schlieffens. Aber er verdarb den Plan Schlieffens von vornherein dadurch, daß er ungefähr ein Drittel des deutschen Heeres in Elsaß-Lothringen stehen ließ, wo die Truppen für die Entscheidung nichts nützen konnten. Demgemäß war der Umfassungsflügel in Belgien viel zu schwach. Im Geiste von Schlieffen hätte in Elsaß-Lothringen nur eine Mindestzahl deutscher Truppen bleiben müssen. Wären die Franzosen hier eingebrochen, ja sogar über den Rhein gelangt, um so schlimmer für sie: Die französische Rheinarmee hätte nur gefehlt, während die Entscheidungsschlacht irgendwo zwischen Lille und Paris geliefert wurde. Sie hätte umkehren müssen und wäre der siegreichen deutschen Hauptarmee in die Arme gelaufen.
Es scheint, daß Moltke sich bei der Veränderung des Schlieffenschen Planes von politischen Erwägungen leiten ließ. Er wollte dem deutschen Lande um jeden Preis eine größere feindliche Invasion ersparen. Das Prestige von Kaiser und Armee sollte nicht darunter leiden, daß der Feind ins Land kam. So erklärt sich offenbar die militärisch verfehlte Truppenanhäufung in Elsaß-Lothringen sowie die Panikstimmung im Großen Hauptquartier, als später die Nachricht vom Russeneinfall in Ostpreußen eintraf. Diese innere Schwäche hat die französische Oberste Heeresleitung nicht gehabt. General Joffre hat sich in seinen Plänen durch die deutsche Invasion nie beirren lassen.
Als der Aufmarsch im Westen vollendet war, kam es in Lothringen und vor Verdun zu verlustreichen Schlachten, bei denen die deutschen Armeen etwas Raum gewannen, ohne Wesentliches zu erreichen. Dagegen zeigte im Norden trotz aller Verstümmelungen der Schlieffensche Plan seine sieghafte Kraft. Die deutschen Truppen umfaßten, über Lüttich und Brüssel vorbrechend, den Nordflügel der Ententeheere. So brachte die große Schlacht bei Charleroi einen deutschen Sieg. Die Franzosen und Engländer zogen sich schleunigst nach Süden zurück, um aus der Umklammerung herauszukommen. Die Reste des belgischen Heeres gingen in die Festung Antwerpen. Waren die deutschen Armeen in Belgien so stark gewesen, wie der ursprüngliche Plan Schlieffens es erforderte, so hätte die Umfassung schon Ende August den entscheidenden Sieg bringen können. So mußte man sich mit der Verfolgung des auf Paris weichenden Feindes begnügen.
General Joffre überblickte die Situation mit vollkommener Klarheit. Die Gefahr für die Ententeheere lag in der ständigen Umfassung ihres linken Flügels durch die Deutschen. Diese Gefahr mußte erst einmal ausgeschaltet und damit der Schlieffensche Plan vereitelt werden. Joffre nahm ohne Rücksicht auf alle Stimmungsmomente seine Truppen bis weit südlich von Paris zurück. Der deutsche rechte Umfassungsflügel war zahlenmäßig zu schwach, um rechts und links an Paris vorbeizugehen. So mußten die Deutschen östlich an Paris vorbeimarschieren. Unterdessen hatte Joffre mehrere entbehrliche Armeekorps aus der elsaß-lothringischen Front mit der Eisenbahn nach Paris geworfen. Denn Joflre wußte im Gegensatz zu Moltke, wo die Entscheidung fiel und wo nicht. Die äußerste rechte Flanke der deutschen Umfassungstruppen war bisher die I. Armee (Befehlshaber General von Kluck, Generalstabschef General von Kuhl) gewesen. Die äußerste linke Flanke der Entente waren bisher die Engländer. Also marschierte Anfang September die Armee Kluck östlich an Paris vorbei nach Süden, um die Engländer weiter zu verfolgen. Da tauchte eine neue französische Armee, aus Paris hervorbrechend, im Rücken von Kluck auf. In diesem Moment war der Plan Schlieffens gescheitert. Die deutsche Armee umfaßte nicht mehr, sondern wurde selbst umfaßt. Auch jetzt konnten die Deutschen im Westen noch Siege erfechten, aber sie konnten sich damit höchstens aus der Umklammerung befreien und den Gegner frontal zurückwerfen. Es war jetzt keine Feldzugsentscheidung durch Vernichtung der feindlichen Macht mehr möglich.
Inzwischen saß die deutsche Oberste Heeresleitung in Luxemburg und verlor von Tag zu Tag mehr die Fühlung mit den Frontarmeen. Weit davon entfernt zu führen, wußte General von Moltke kaum, was an der Front vorging. In jenen ersten Kampfwochen haben die Heeresberichte aus dem Großen Hauptquartier, gezeichnet vom Generalquartiermeister von Stein, das deutsche Volk begeistert. Aber mit den wirklichen Vorgängen hatten sie nicht viel gemein. Ein Wille zur Täuschung lag nicht im entferntesten vor. Aber die Oberste Heeresleitung konnte nicht mehr berichten, als was sie selbst wußte. Als in den letzten Augusttagen von den Armeen überall Siegesmeldungen kamen, war die Stimmung des Generals von Moltke überaus optimistisch. So erklären sich die berühmten Heeresberichte aus jenen Tagen.
Zur selben Zeit mußte der in Ostpreußen kommandierende General von Prittwitz melden, daß zwei ihm an Zahl weit überlegene russische Heere in Preußen eingebrochen waren. Mit solchen Vorfällen mußte die Oberste Heeresleitung bei der ganzen Anlage des Kriegsplans rechnen. Besondere Fehler waren dem General von Prittwitz nicht nachzuweisen. Trotzdem wurde er sofort abgesetzt. An seine Stelle trat General von Hindenburg mit General Ludendorff als Generalstabschef. Darüber hinaus hielt Moltke es für notwendig, die Truppen in Preußen durch zwei Armeekorps aus dem Westen zu verstärken. Er nahm sie aber nicht dort fort, wo sie entbehrlich waren, aus der Lothringer Front, sondern vom rechten Umfassungsflügel des deutschen Heeres. In der Marneschlacht hat das Fehlen der beiden Korps an der entscheidenden Stelle das Resultat wesentlich bestimmt. Um ein weiteres zu tun, befahl Moltke neben der Hauptoffensive der deutschen Heere bei Paris noch eine Nebenoffensive der Lothringer Truppen in Richtung Nancy, die unter schwersten Opfern scheiterte.
Inzwischen ergriff General Joffre unter Umzingelung des deutschen Westflügels von Paris her, auf der ganzen Front bis Verdun selbst die Offensive. Die Marneschlacht begann. Die deutsche Armee Kluck war schwer gefährdet. Denn sie hatte vor sich die Engländer und im Rücken die neue französische Armee, die aus Paris hervorgekommen war. Kluck und Kuhl faßten einen kühnen Entschluß: Sie rechneten mit der übergroßen Vorsicht der damals sich noch unsicher fühlenden englischen Führung. Sie ließen die Engländer einfach stehen, machten kehrt und schlugen in mehrtägigen Kämpfen die aus Paris herausgekommenen Franzosen zurück. Dadurch war eine breite Lücke zwischen der Armee Kluck und den übrigen deutschen Heeren entstanden, die in frontalen Kämpfen von der Marne bis Verdun die französische Offensive auffingen.
Inzwischen saß der kranke General von Moltke in Luxemburg ahnungs- und hilflos, und Wilhelm II. verließ sich auf seinen Generalstabschef. Moltke ahnte, daß ein Verhängnis über das deutsche Westheer heraufzog. Er fühlte aber nicht die Kraft, selbst an die Front zu gehen und den Oberbefehl wieder in die Hand zu nehmen. So schickte er einen jüngeren Generalstabsoffizier, den Oberstleutnant Hentsch an die Front mit unbeschränkten Vollmachten. Hentsch besichtigte die Lage bei der Armee Kluck. Er erkannte die gefährliche Lücke, in die sich feindliche Truppen hineinschieben konnten, und befahl den Abbruch der Schlacht. Das deutsche Heer ging hinter die Aisne zurück. Die Westoffensive war gescheitert. Der Rückzugsbefehl des Oberstleutnants Hentsch war durchaus nicht notwendig. Denn alle an der Schlacht beteiligten deutschen Armeen hatten gute taktische Erfolge, und eine an Ort und Stelle befindliche geschickte oberste Führung hätte auch die Gefahr beseitigen können, die von der Lücke in der Front und von den Engländern drohte.
Ein deutscher Sieg an der Marne hätte einen weiteren französischen Rückzug nach Süden gebracht. Aber das deutsche Heer wäre nach wie vor aus Paris im Rücken bedroht gewesen, und die französische Armee hätte weitergekämpft. Was Deutschland im Westen brauchte, war kein gewöhnlicher taktischer Sieg und kein Raumgewinn, sondern ein ungeheueres Sedan, eine Ausschaltung des feindlichen Heeres, um die Truppen für den Osten freizubekommen. Die Hoffnung darauf war mit dem Scheitern des Schlieffenschen Plans begraben. Durch die Fehler der Führung behielt das deutsche Heer an der Marne nicht einmal den so wohlverdienten taktischen Sieg. In der Marneschlacht war das deutsche Heer seinen Gegnern mindestens gewachsen, aber die Entscheidung kam durch die geistige Überlegenheit der französischen Obersten Heeresleitung. Als General von Moltke die Größe der Niederlage übersah, brach er völlig zusammen und mußte vom Oberkommando enthoben werden.
Die Bismarcksche Verfassung fand darin ihre Rechtfertigung, daß das deutsche Volk, um sich in der Welt behaupten zu können, den König von Preußen und sein Heer brauchte. Die moralische Existenzberechtigung des alten Systems ging in den Luxemburger Tagen des Septembers 1914 endgültig verloren. Der König von Preußen hatte nicht nur durch die Fehler seiner Außenpolitik dazu beigetragen, daß das deutsche Volk in einen hoffnungslosen Krieg geriet. Er hatte auch dem deutschen Heere, das so opferwillig ins Feld zog, die denkbar unfähigste Führung gegeben. Einen »Dolchstoß« gab es im September 1914 wahrlich nicht. Die deutschen Granaten, die an der Marne verschossen wurden, hatte der gesamte Reichstag bewilligt, einschließlich der späteren Unabhängigen, einschließlich Liebknechts. Niemals hatte ein Volk seinen Regenten so gutwillig den Blankowechsel vollsten Vertrauens ausgestellt wie das deutsche Volk seinem Kaiser am 4. August. Die Folge davon war das Hauptquartier in Luxemburg und die Niederlage an der Marne. Als die Oberste Heeresleitung in Luxemburg zusammenbrach, verstummten für einige Zeit auch die Heeresberichte. Während des Krieges hat das deutsche Volk niemals die Wahrheit über die Marneschlacht erfahren. Selbst die führenden Reichstagsabgeordneten konnten sich erst spät, unvollständig und auf Umwegen, über die Septemberereignisse an der Westfront orientieren.
General von Moltke mußte durch einen neuen Generalstabschef ersetzt werden. Reichstag, Presse und Volk hatten keinen Einfluß darauf, wem das Schicksal des deutschen Heeres und damit des deutschen Volkes jetzt anvertraut wurde. Wilhelm II. wählte nach seinem freien Ermessen den bisherigen Kriegsminister von Falkenhayn. General von Falkenhayn war wenigstens physisch seiner Aufgabe gewachsen. Er hätte sich auch als Führer einer einzelnen Armee bewährt, wie er 1916 nach seinem Rücktritt vom Posten des Generalstabschefs in Rumänien gezeigt hat. Aber er war zur Führung des Gesamtheeres ebensowenig befähigt wie Moltke. Dabei hatte das deutsche Heer 1914 eine Reihe von erstklassigen Generälen. Es standen zur Verfügung, um nur einige Namen zu nennen: Ludendorff, Loßberg, Seeckt, Hoffmann und Groener. Aber sie kamen nicht an die Spitze, weil Wilhelm II. sie nicht ernannte. Zwei Jahre lang ist das deutsche Heer unzulänglich geführt worden, und als dann endlich im Sommer 1916 ein hervorragender General, Ludendorff, das wirkliche Oberkommando übernahm, war die Gelegenheit, eine militärische Entscheidung zu erringen, schon verpaßt. In der Freude, endlich einen wirklichen Führer zu haben, gab das deutsche Volk dem General Ludendorff dann auch die oberste politische Gewalt, und so wurde das Letzte verdorben, was noch zu retten gewesen wäre.
Im Winter 1914/15 und im Frühjahr 1915 schwebte Deutschland ununterbrochen in der Gefahr einer vollständigen militärischen Niederlage. Die Hauptmasse der deutschen Streitkräfte war an die Westfront gebunden, ohne dort eine Entscheidung erreicht zu haben. Zur gleichen Zeit setzte das russische Millionenheer seine Offensive fort, um mit seiner Übermacht die österreichischen und die deutschen Osttruppen niederzurennen. Gelang dies den Russen, so war der Krieg für die Entente gewonnen. Die deutsche Kriegführung im Osten unter der Leitung Hindenburgs und Ludendorffs errang eine Reihe bedeutender Erfolge. Die Pläne des Generals Ludendorff, die zur Schlacht bei Tannenberg, zur Schlacht an den Masurischen Seen, zum Vorstoß auf Warschau im Oktober 1914, zu den Schlachten bei Lodz im November und Dezember 1914 und zur »Winterschlacht in Masuren« führten, waren militärische Meisterstücke. Je weniger es gelang, an den anderen Fronten Entscheidendes zu erreichen, um so stärker wuchs das Vertrauen in der Armee und im Volke zur Führung im Osten. Auf dem Schlachtfeld von Tannenberg wurden die Grundlagen zu der Diktatur geschaffen, die dann General Ludendorff von 1916 bis 1918 ausgeübt hat. Ebenso hat der hervorragende österreichische Generalstabschef von Conrad aus den österreichischen Armeen alles Menschenmögliche herausgeholt.
Trotzdem war keine Erleichterung geschaffen, weil die Kraft der russischen Offensive durch die örtlichen Niederlagen nicht zu brechen war. Noch im April 1915 bestand ernsthaft die Möglichkeit, daß die Russen über die Karpaten gegen Wien und Budapest vordrangen, Österreich niederwarfen und dann auch Deutschland den Todesstoß versetzten. Der ganze Ostkrieg seit Oktober 1914 war völlig planwidrig: Die Pläne des deutschen Generalstabs beruhten darauf, daß sechs bis acht Wochen nach Kriegsbeginn die deutsche Hauptarmee in Frankreich frei werden und gegen Rußland antreten würde. Davon war gar keine Rede mehr. Das deutsche Heer führte bis April 1915 einen Zweifrontenkrieg gegen große Übermacht, wobei eigentlich täglich eine Katastrophe möglich war. In der Heimat wußte man aber von der wirklichen Kriegslage so wenig, daß in denselben Monaten das deutsche Volk den Streit begann, wie viel oder wie wenig man beim Frieden annektieren solle.
Erst der Mai 1915 brachte eine Entlastung. Die deutsche Oberste Heeresleitung riskierte es, im Westen eine Anzahl Armeekorps fortzuziehen, um gegen die Russen eine Entscheidung zu suchen. In der Schützengrabenfront von Flandern bis zum Elsaß hielt das verkleinerte deutsche Westheer das ganze Jahr 1915 hindurch den Angriffen der Franzosen und Engländer stand und bot so die Grundlage für die Operationen im Osten. General von Conrad hatte den Plan, die russische Front im Gebiet von Krakau zu durchbrechen, so in den Rücken der großen russischen Karpatenarmee zu kommen und sie zum Rückzug zu zwingen. Falkenhayn nahm den Plan Conrads an und stellte zu seiner Durchführung mehrere deutsche Armeekorps zur Verfügung. Die Schlacht bei Gorlice im Mai 1915 hatte den Zusammenbruch der russischen Karpatenfront zur Folge und leitete die lange Reihe von Kämpfen ein, bei denen im Sommer 1915 die Russen aus Polen und Galizien vertrieben wurden. Die Kraft der russischen Offensive war für dieses Jahr gebrochen. Die Russen hatten ungeheure Verluste erlitten. Aber das russische Heer blieb kampffähig. Eine Entscheidung hatte die deutsche Armee im Osten nicht erkämpft.
General Ludendorff erkannte die Mängel der Falkenhaynschen Führung. Er schlug eine Operation vor, die eine Art von Übertragung des Schlieffenschen Plans nach dem Osten bedeutete, nämlich eine großzügige Umfassung des russischen Heeres von Norden her, über Kurland und Wilna, um so eine Vernichtungsschlacht zu liefern. Falkenhayn verweigerte dem Plan Ludendorffs seine Zustimmung. So blieben die ganzen Anstrengungen des deutschen Heeres im Jahre 1915 umsonst. Deutschland hatte Schlachten gewonnen und Land erobert, war aber der Entscheidung um keinen Schritt näher gerückt. Im Jahre 1916 war ein neues russisches Millionenheer zur Offensive bereit. Die Franzosen waren nicht besiegt. Inzwischen ging England zur allgemeinen Wehrpflicht über und stellte ebenfalls ein Millionenheer an der Westfront auf. So war die militärische Lage für Deutschland im Jahre 1916 noch schlechter als 1915. Deutschland sollte im wesentlichen aus eigener Kraft gegen drei feindliche Millionenheere kämpfen.
Niemals hatte der Berliner Generalstab vor 1914 eine solche verzweifelte Lage in seinen Plänen für möglich gehalten. Eigentlich war jeder Monat, in dem die deutschen Fronten weiter standen, militärisch ein Wunder. Aber in der Heimat ging der Streit um die Annexionen weiter. 1915 hatte sich Italien der Entente angeschlossen und band damit einen großen Teil des österreichischen Heeres. Die Mittelmächte waren durch Bulgarien und die Türkei verstärkt, die dafür eine Anzahl englischer und französischer Truppenteile auf sich zogen. Eine deutschösterreichisch-bulgarische Expedition besetzte Serbien, und nach dem Fall von Antwerpen war fast ganz Belgien in deutscher Hand. An den Grundfragen des Krieges änderte all dies nichts. Für das Frühjahr 1916 plante Falkenhayn überhaupt keine kriegsentscheidende Operation, obwohl bei der verzweifelten militärischen Lage Deutschlands mindestens der Versuch dazu, sei es im Osten oder in Italien, hätte gemacht werden müssen. Denn die Zeit arbeitete für die Entente und gegen Deutschland. Statt dessen begann Falkenhayn den Angriff auf Verdun, ohne operativen Plan, in der Einbildung, er könne damit das französische Heer zermürben. In Wirklichkeit haben die grauenhaften Kämpfe vor Verdun das deutsche Heer zumindest ebenso zerrüttet wie das französische.
Zur See stand von Anfang an die Überlegenheit der Entente ganz fest. Denn die Schlachtflotte der Entente war dreimal so stark wie die deutsche, und die Seeherrschaft hängt von den Großkampfschiffen ab und nicht von den U-Booten. Die englische Panzerflotte brauchte gar keine Schlacht zu liefern, durch ihre bloße Existenz sicherte sie der Entente die Herrschaft über die Meere und blockierte Deutschland mit den furchtbarsten Folgen für die deutsche Volkswirtschaft. Die Versuche, durch den U-Boot-Krieg die feindliche Schiffahrt zu schädigen, führten sofort zu ernsten Konflikten zwischen Deutschland und den Neutralen, besonders den Vereinigten Staaten. So war die Frage des U-Boot-Krieges von Anfang an viel mehr ein politisches als ein militärisches Problem.
Je länger der Krieg dauerte, um so deutlicher zeigten sich im Innern Deutschlands wieder die politischen und die Klassengegensätze. Das politische Hauptresultat des 4. August war ein äußerlicher Friedensschluß zwischen dem Hohenzollern-Kaisertum und der in Deutschland regierenden militärischen Aristokratie auf der einen Seite und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auf der anderen Seite gewesen. Was der Friedensschluß praktisch bedeuten würde, darüber waren sich beide Teile noch völlig im unklaren. Einen festen Plan, wie man organisch die Arbeiter und selbstverständlich auch das Bürgertum in den Rahmen der Bismarckschen Verfassung einfügen sollte, hatte damals niemand. Bethmann-Hollweg versprach, im besonderen Hinblick auf die Sozialdemokratie, eine »Neuorientierung« Deutschlands nach dem Kriege. Aber darunter konnte sich jeder denken, was er wollte.
So viel war der regierenden preußischen Schicht klar, daß die Arbeiterschaft nach dem Kriege, vielleicht schon im Kriege, verstärkte politische Forderungen stellen würde3. Wenn die Millionen proletarischer Kriegsteilnehmer aus den Schützengräben zurückkehrten, dann ließen sie sich nicht mehr mit den alten Polizeimethoden einschüchtern. Das war sicher, ganz gleich wie der Krieg ausging. Noch im Jahre 1914 tauchte die preußische Wahlrechtsfrage wieder auf. Aber der konservative preußische Grundbesitz war auch jetzt nicht bereit, etwas von seinen Privilegien zu opfern. In der preußischen Wahlrechtsfrage wurden allerlei Akten geschrieben, Projekte entworfen und Sitzungen abgehalten4. Die alte Mehrheit des preußischen Landtags hatte kein Interesse daran, sich selbst zum eigenen Schaden zu »reformieren«, und die regierende Bürokratie hatte erst recht keine Eile. So kam die Wakhlreform erst im Jahre 1917 stärker in Fluß. Auf jeden Fall fühlte sich der preußische Adel durch eine neue Zeit, deren Entwicklungsmöglichkeiten er nicht übersah, bedroht, und er sann auf Abwehr. Dabei traf er sich mit den Bestrebungen der Industrie.
Auch die Industriellen rechneten unter der Neuorientierung zumindest mit einer Stärkung der Gewerkschaften und mit einer Erschwerung ihrer eigenen Position in den Wirtschaftskämpfen der Zukunft. Wenn das alte Preußen ins Wanken geriet, so war die starke Staatsgewalt gefährdet, die bisher dem Unternehmer Beistand gegen die Arbeiter geleistet hatte. So bekämpfte die preußische nationalliberale Landtagsfraktion, in der die Einflüsse der rheinisch-westfälischen Industrie überwogen, die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen. In den Jahren vor Kriegsausbruch hatten sich die industriellen Kreise immer mehr von der agrar-konservativen Politik getrennt. Beim Sturze Bülows, bei den Reichstagswahlen 1912 und in der Zabern-Angelegenheit standen die Nationalliberalen gegen die Konservativen. Seit Kriegsbeginn setzte eine rückläufige Bewegung ein. Zwar erkannten einzelne nationalliberale Führer, wie Stresemann und von Richthofen, daß die neue Zeit eine Entwicklung Deutschlands zur Parlamentarisierung und damit die politische Stärkung des Bürgertums bringen müsse. Das hätte eine Fortsetzung der nationalliberalen Politik von 1912 bedeutet, eine Festigung des liberalen Bürgerblocks der Nationalliberalen und der Fortschrittler.
In der Tat waren von 1906 bis 1914 die beiden liberalen Strömungen, die industrielle und die kaufmännische, fast ständig zusammengegangen. Hätte sich im Kriege diese bürgerlich-liberale Einheitsfront gestärkt, so hätte dies die bedeutendsten Folgen haben können. Das Bürgertum hätte seine Rechte auf Kosten der konservativen Aristokratie erweitert und dabei ein Zusammenwirken mit den Sozialdemokraten möglich gemacht. In Wirklichkeit ging die Entwicklung umgekehrt: Die Haltung der Nationalliberalen im Kriege wurde nicht von den Männern bestimmt, die den Weg vorwärts zur Parlamentarisierung suchten, sondern von solchen Industriellen, die im Bunde mit der militärischen Aristokratie ein Bollwerk gegen die Arbeiterforderungen aufrichten wollten. So sah das Bismarcksche Reich in seinem Untergang noch einmal das Wiederaufleben der alten Kartellidee Bismarcks. Die Vaterlandspartei von 1917 war weiter nichts als das Kartell von 1887, angepaßt den Verhältnissen des Weltkrieges.
Während sich so unter dem Schleier des Burgfriedens die aristokratisch-industrielle Abwehrfront gegen die Arbeiter bildete, dachte auch die Arbeiterschaft über die neue politische Lage nach. Die Situation nach dem 4. August war für die Sozialdemokratie überaus eigenartig und schwierig. Der sozialdemokratische Arbeiter bekannte sich opferwillig zur Landesverteidigung. Aber er konnte nicht begreifen, daß seine alten Feinde, der preußische »Militarismus« und die Schwerindustrie, nun plötzlich nicht mehr bekämpft werden sollten. Der Arbeiter stellte fest, daß zwar jetzt seine Abgeordneten für die Regierung stimmten und daß die Soldaten jetzt auch den »Vorwärts« lesen durften. Aber das militärisch-polizeiliche Herrentum war eigentlich in Preußen dasselbe wie vor dem 4. August, und in der Fabrik war das Übergewicht des Unternehmers durch den Burgfrieden auch nicht verändert. Das konnte auch gar nicht anders sein, da der 4. August weder eine politische noch eine soziale Revolution gewesen war. Im Gegenteil, der Arbeiter hörte zwar von der kommenden »Neuorientierung«, aber er hatte den Eindruck, daß die Machtstellung des Proletariats als Klasse sich seit dem 4. August verschlechtert hatte. Im Frieden hatten die sozialdemokratischen Zeitungen und sozialdemokratischen Versammlungsredner offen ausgesprochen, was die Masse drückte. Jetzt stand man unter dem Druck des militärischen Belagerungszustandes und der Militärzensur. Presse, Vereins- und Versammlungsleben waren gleichmäßig gelähmt. Weiter hatte man den Eindruck, daß die Unternehmer im Dienste der Kriegsindustrie viel Geld verdienten, während die Arbeiter ihr altes Kampfmittel, den Streik, verloren hatten. Denn der Burgfrieden und die militärischen Erfordernisse ließen keinen Streik zu.
So erfüllte schon im ersten Kriegswinter eine tiefe Unzufriedenheit die Massen. Die Stimmung der werktätigen Massen wäre nur zu heben gewesen, wenn man ihnen nachgewiesen hätte, daß sie jetzt in Deutschland mitregierten, daß sie als Subjekt und nicht als Objekt des Staatslebens den Krieg mitführten. In den Ländern der bürgerlichen Demokratie konnte das regierende Bürgertum in den Massen diese Stimmung erwecken. In England und Frankreich saßen Arbeiterführer in der Regierung und in den Verwaltungsbehörden. Da konnten auch die Massen der ärmeren Bevölkerung zu dem Glauben kommen, daß der Staatsapparat unter ihrer Kontrolle stehe und daß sie politisch keine »Herren« hätten. Das schuf sofort eine ganz andere Einstellung zum Staat und zum Krieg. In Deutschland unter der Bismarckschen Verfassung ließ sich eine solche Massenstimmung nicht erzeugen.
In der Begeisterung der ersten Kriegswochen hatten die werktätigen Massen im Unterbewußtsein das Gefühl, als würde eine Welle der nationalen Brüderlichkeit die alten Gegensätze wegschwemmen« Als die Ernüchterung kam, sah man selbstverständlich, daß es auch im Kriege Arme und Reiche gab und daß die preußisch-deutschen Behörden von ihrem Autoritätsgefühl nichts eingebüßt hatten. Die militärischen Vorgesetzten und die Zivilbehörden waren wahrlich im Kriege im Verhältnis zu den breiten Volksschichten nicht schlechter als im Frieden, aber das Kriegserlebnis hatte den Massen eine neue An des Sehens gegeben, die alles viel schwerer empfand als früher5. So war schon an sich, etwa vom ersten Kriegswinter an, der Gegensatz zwischen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und der herrschenden aristokratischindustriellen Schicht in Deutschland nicht milder, sondern schärfer als im Frieden.
Dazu kamen in den Jahren 1915/16 die immer stärkeren wirtschaftlichen Auswirkungen der Blockade. Die Nahrungsmittel wurden so knapp, daß im steigenden Maße die Zwangswirtschaft an Stelle des freien Lebensmittelhandels trat. Für die breite Masse der städtischen Bevölkerung kam die Hungerzeit mit ihren Kohlrüben und dem Polonäsestehen vor den Läden. Trotz der gestiegenen Löhne, besonders der Munitionsarbeiter, konnte die Masse der Lohnempfänger sich nicht mehr satt essen. Daneben beobachtete man, wie der Schleichhandel blühte und wie die wohlhabenden Familien in der Lage waren, sich manches zu gönnen, was dem Armen versagt blieb. So nahm in Deutschland, ungeachtet des Burgfriedens, der Klassenkampf die furchtbarste Form an, die überhaupt möglich ist, nämlich des Kampfes buchstäblich um das Stück Brot. Auch wer die Überzeugung hat, daß der Klassenkampf eine notwendige Erscheinungsform der modernen Gesellschaft ist, kann nur mit Grauen an diese Zeit zurückdenken. Der Kampf ums Dasein ging um 500 Gramm Brot, um 100 Gramm Fett und um ein Ei. Einer machte dem andern diese elenden Grundlagen menschlicher Existenz streitig.
Hunger und Verbitterung erfüllten die Arbeitermassen. Der Klassengegensatz zum Fabrikanten, zum reichen, mit Kriegsmaterial aller Art handelnden Geschäftsmann und zum kommandierenden Offizierskorps wurde immer stärker. Der Kampf ums Brot drang auch in die Armee ein. In normalen Verhältnissen nahm niemand daran Anstoß, daß die Offiziere besser und abgesondert von der Mannschaft aßen. Als die Lebensmittelnot einsetzte und auch die Mannschaftsverpflegung beeinträchtigte, richteten sich grollende und neidische Blicke auf die Offiziersmesse. Die Erbitterung kam dort weniger auf, wo die gemeinsame Lebensgefahr den Frontoffizier und den U-Boot-Kommandanten mit Soldaten und Matrosen vereinte. Um so tiefer war die Kluft in der Etappe, in den Garnisonen der Heimat und auf den großen Kampfschiffen, die fast den ganzen Krieg hindurch stillagen und wo kasernenartiger Dienstbetrieb bestand. Wer den Ursachen der militärischen Revolution Deutschlands nachspürt, stößt überall auf die Lebensmittelfrage6, auf die Erbitterung der Mannschaften, die glaubten, daß man sie ungerecht in der Verpflegung gegenüber den Offizieren zurücksetzte.
So bilden sich allmählich in den Jahren 1915/16 zwei Kampffronten. Auf der einen Seite die militärisch, wirtschaftlich und politisch herrschende Schicht, Offiziere, Grundbesitzer, Industrielle, die überall das Kommando hatten und von denen die Masse glaubte, daß sie »besser« lebten, politisch vertreten durch die Konservativen und Nationalliberalen. Auf der anderen Seite die notleidende Arbeitermasse, politisch und wirtschaftlich ohne Bewegungsfreiheit, verkörpert vor allem in der Sozialdemokratie. Wie standen zu diesen beiden Fronten die übrigen Schichten des Volkes, also politisch das Zentrum und die Fortschrittspartei, sozial die nichtsozialistischen Arbeitnehmer, der kleine Mittelstand, die Kaufleute und vor allem die Bauern?
Es muß dabei gleich hervorgehoben werden, daß ein großer Teil der Wähler der Konservativen und Nationalliberalen aus den Mittelschichten und dem Bauerntum sich im Laufe des Krieges von der Parteiführung lossagte, die sie bei den Wahlen 1912 unterstützt hatten. Das ist ein Prozeß, der parteipolitisch kaum in Erscheinung trat, ohne den aber die Revolution von 1918 nicht zu verstehen ist.
Im Zentrum fühlten die christlichen Arbeiter dieselben wirtschaftlichen und politischen Nöte wie die sozialdemokratische Arbeiterschaft. So kam es zu einer Annäherung der sozialistischen »freien« und der christlichen Gewerkschaften, zum Beispiel in der preußischen Wahlrechtsfrage. Auf der anderen Seite stand die alte konservative Führergruppe des Zentrums, die bis zum Frühjahr 1917 die Partei in der Hand behielt. Diese hohen Staatsbeamten und hohen katholischen Geistlichen suchten die konservativen Kräfte zu stützen. Sie suchten politisch Anschluß an die Konservativen und Nationalliberalen, und konservativ gestimmte Bischöfe wollten es verhindern, daß die christlichen Gewerkschaften im Kriege die preußische Wahlrechtsfrage aufrollten7. Im Frieden hatte die konservative Führergruppe des Zentrums die Herrschaft über die Partei dadurch behauptet, daß sie die Bauern gegen die Arbeiter ausspielen konnte. Aber die Stimmung der deutschen Bauernschaft, der evangelischen und der katholischen, änderte sich im Kriege radikal8.
Zunächst hatte die physisch kräftige, für den Felddienst besonders geeignete Landbevölkerung die schwersten blutigen Verluste zu tragen. Die Landarbeit daheim mußte von Frauen, Jugendlichen und alten Leuten geleistet werden. Die Preise aller Industriewaren stiegen im Kriege mächtig an. Die Lebensmittel, die der Bauer verkaufte, unterlagen den Höchstpreisen. Dazu kam der ganze bürokratische Druck, der bei der Durchführung der Zwangswirtschaft und besonders bei der zwangsweisen Erfassung der Lebensmittel auf der Landbevölkerung lag. Die Städter waren auf die Agrarier erbittert, von denen sie sich bewuchert und ausgehungert fühlten. Ohne Zweifel nährte sich die Masse der Landleute trotz der Zwangswirtschaft besser als die Industriearbeiterschaft. Und die viele Schleichhandelsware, die notorisch in Deutschland während des Krieges umlief, mußte letzten Endes vom Produzenten gekommen sein. Trotzdem war die Lage der Landbevölkerung unter der Kriegswirtschaft schwer, und sie trieb die Bauern in immer schärfere Opposition gegen das bestehende Staatssystem.
Der deutsche Bauer war im Frieden konservativ gewesen, weil der Staat ihm sein freies Eigentum sicherte und weil er ihn mit der Zollpolitik unterstützte. Jetzt im Kriege, unter der Blockade, waren die Zölle gleichgültig, und nun kamen die staatlichen Beamten auf die Bauernhöfe und kontrollierten, ob irgendwo ein Pfund Butter versteckt war. Der Staat mutete den schwer arbeitenden Landleuten zu, daß sie sich nicht einmal satt essen sollten. So erzeugte die Kriegswirtschaft in der Stadt die Verbitterung der Arbeiter und auf dem Lande eine parallele Erregung der Bauern. Am frühesten und heftigsten läßt sich die Bauernopposition in Bayern beobachten, wo die ländliche Gesellschaft rein demokratisch ohne Einfluß des Grundadels ist und wo man besonders geneigt war, die »Berliner« Zentralbehörden für alles Übel verantwortlich zu machen.
Selbstverständlich wurde der erbitterte deutsche Bauer im Kriege kein Sozialdemokrat; denn er führte ja gerade den Druck der Zwangswirtschaft auf den Einfluß der Sozialdemokraten und überhaupt der Städter zurück. Die Radikalisierung der Bauern trug 1917 zur Linksschwenkung des Zentrums bei. Ebenso wurde im Laufe des Krieges eine kleine örtliche Bauernpartei, der Bayrische Bauernbund, immer mehr in die Opposition gedrängt. Die unzufriedene Stimmung der norddeutschen evangelischen Landbevölkerung fand parteipolitisch keinen Ausdruck. Aber es gab ein Gebiet, wo die Arbeiter- und Bauernopposition gegen das bestehende System sich treffen konnte, und das war das allergefährlichste, nämlich die Armee 9.
Im Heere stand das aristokratisch abgeschlossene Offizierskorps einer einheitlichen Soldatenmasse gegenüber. Die alten, vorwiegend adligen Frontoffiziere waren zwar meistens in den ersten Kriegsmonaten gefallen. Das Offizierskorps des Millionenheeres von 1915 bis 1918 trug höchstens in den höheren Stäben den alten Charakter. Die unteren Chargen besetzten vorwiegend Reserveoffiziere und Kriegsleutnants. Das waren Männer, die im Frieden als Studenten, Kaufleute, Lehrer usw. sich niemals zu einem aristokratischen Herrentum gerechnet hatten und die bereit waren, wenn sie den Krieg überlebten, in ihre bescheidene Friedensstellung zurückzukehren. Aber mit der Ernennung zum Offizier war notwendig auch die aristokratische Absonderung verbunden, die nach dem preußischen Staatssystem den Offizier von der Mannschaft trennte. Das deutsche Offizierskorps, als Stand betrachtet, war im Kriege auf keinen Fall moralisch oder menschlich schlechter als das französische oder englische. Der erbitterte Haß, der sich in Deutschland im Laufe des Krieges in weitesten Volksschichten gegen die Offiziere richtete, ist nur aus den eigenartigen Gesellschafts- und Verfassungszuständen Deutschlands zu erklären.
Die Masse des Volkes hatte nicht das Gefühl, daß der Staat ihr mitgehöre und daß sie über den Staat mitbestimme. Sie fühlte sich von oben herab regiert, und zwar im Kriege sehr schlecht regiert. Die Gewalt- und Befehlsträger waren aber im Kriege überall die Offiziere. So wurde das Kriegsoffizierskorps der – menschlich vielfach unschuldige – Blitzableiter für allen sozialen Groll, der in den Volksmassen steckte. Es ist schon oben betont worden, wie dieser Gegensatz sich im Fronterlebnis abschwächte, aber wie er um so stärker dort hervorbrach, wo nicht direkt gegen den Feind gekämpft wurde. Im Laufe des Krieges fand sich im Gegensatz zu den Offizieren in immer stärkerem Grade der Bauernsoldat mit den Leuten zusammen, die im Zivilberuf Arbeiter und Handwerker waren. 1918 hat der bäuerliche Soldat die Revolution zwar nicht gemacht, aber doch geschehen lassen, vielfach sogar gern geschehen lassen. Der bayrische Bauernsoldat, 1914 der Stolz der Armee, war 1918 unter den ersten, die sich unter die rote Fahne stellten.
In den Jahren 1915 bis Sommer 1918 empfanden die Massen des Volkes trotz der stets wachsenden Nöte und trotz aller Verbitterung die Verteidigung des Vaterlandes noch als unbedingte Pflicht. Aber sie wünschten, daß der Krieg so schnell wie möglich beendet werde.
Die wirtschaftliche Lage der städtischen Kaufmannschaft war im Kriege, je nach der Stellung des einzelnen, ganz verschieden. Aber sie fühlte weniger den Gegensatz zu den Arbeitern als den zu der Landwirtschaft. Sie wünschte, gemäß ihren Traditionen aus der Vorkriegszeit, die Neuorientierung Deutschlands. So begrüßten es die Fortschrittler, daß Bethmann-Hollweg diese Losung herausgab. Sie drängten auf die preußische Wahlreform. Es lag ihnen aber ganz fern, von sich aus die Initiative zur Störung des Burgfriedens zu ergreifen und der Regierung Schwierigkeiten zu machen. Erst die Schwenkung des Zentrums im Jahre 1917 hat auch die Haltung der Fortschrittspartei verändert.
Wie stand die kaiserliche Regierung zu der immer tiefer gehenden politischen und sozialen Zerklüftung des deutschen Volkes in den Jahren 1915/16? Wilhelm II. selbst zog sich mit Kriegsausbruch aus der politischen Aktivität zurück. Der Kaiser litt immer schwerer unter der Riesenverantwortung, die im Kriege bei der geltenden deutschen Verfassung auf ihm lastete. Von dem stolzen Selbstbewußtsein, das er bis 1914 gegenüber allen Fragen und Personen gezeigt hatte, blieb nidits übrig. Er hielt es für seine Pflicht, in militärischen Fragen dem Rat des Generalstabschefs und in politischen den Vorschlägen des Reichskanzlers zu folgen. So führten erst Moltke und dann Falkenhayn, ohne nennenswerte kaiserliche Eingriffe, das Armeekommando, und Bethmann-Hollweg gewann eine politische Stellung, wie sie kein Kanzler Wilhelms II. seit 1890 besessen hatte.
Die ersten beiden Generalstabschefs im Kriege hatten so viele militärische Sorgen, daß sie sich um die Politik nicht kümmerten. Bethmann-Hollweg wiederum griff niemals in die militärische Kriegführung ein. So ist es in den ersten beiden Kriegsjahren zu ernstlichen Konflikten zwischen der militärischen und Zivilleitung nicht gekommen. Zwar lag die oberste Exekutivgewalt im Reich auf Grund des Belagerungszustandes bei den stellvertretenden Generalkommandos. In jeder deutschen Landschaft hatte der zuständige Kommandierende General die oberste Verfügungsgewalt. Für die Bevölkerung hatte dies den Anschein einer Militärdiktatur. Aber wenn auch Bethmann-Hollweg nicht mit jeder Einzelverfügung eines jeden Kommandierenden Generals einverstanden gewesen sein wird, alle wesentlichen politischen Entscheidungen hatte der Reichskanzler dennoch in der Hand. Das zeigte sich besonders klar im Jahre 1916 beim Streit um den unbeschränkten U-Boot-Krieg10. Die Marine, an der Spitze der Staatssekretär von Tirpitz, war für die unbeschränkte Einsetzung der U-Boote. Der Generalstabschef von Falkenhayn schloß sich mit militärischen Gründen der Forderung der Marine an. Bethmann-Hollweg war entgegengesetzter Meinung, aus Rücksicht auf Amerika. Wilhelm II entschied zugunsten des Reichskanzlers, und Tirpitz nahm seinen Abschied. Die Erschütterung der Stellung Bethmann-Hollwegs kam erst im Gefolge der einschneidenden Veränderungen, als die Oberste Heeresleitung Hindenburgs und Ludendorffs ihr Amt antrat.
Innerpolitisch war Bethmann-Hollweg davon überzeugt, daß er den Krieg ohne und gegen die organisierte Arbeiterschaft nicht führen könne. So suchte er im Reichstag die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten aufrechtzuerhalten. Die sozialdemokratischen Führer hatten beim Reichskanzler jetzt eine ähnliche Vertrauensstellung wie die Zentrumsführung im Frieden. Wie vor 1914 die Zustimmung von Spahn notwendig war, damit die Reichsmaschine ohne äußere Reibung funktionierte, so suchte Bethmann-Hollweg jetzt die Fühlung mit Scheidemann11. Zwar hat die Sozialdemokratie von Bethmann-Hollweg nichts weiter als wohlwollende Worte und Versprechungen für die Zukunft erhalten. Aber schon dies genügte, um das Mißtrauen der militärischen Aristokratie und der Industrie zu erwecken, die sich um so unsicherer fühlten, je länger der Krieg dauerte. Bald nach Kriegsausbruch zeigte sich eine gewisse Mißstimmung der Konservativen und Nationalliberalen gegen Bethmann-Hollweg. Als dazu der Streit um die Kriegsziele kam, verwandelte sich das Mißtrauen in erbitterte Feindschaft.
Alle Klassengegensätze, wie sie an sich im modernen Europa vorhanden sind und wie sie in Deutschland die besondere Verfassungsund Kriegslage verschärfte, brachen in dem Streit um die Kriegsziele hervor. So ist die Frage der Kriegsziele die zentrale Frage der deutschen Innen- und Verfassungspolitik im Kriege geworden. Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg hatten den Krieg nicht gewollt und nicht vorbereitet. Deshalb gingen sie ohne ein klares politisches Ziel in den Krieg hinein, und sie haben im Verlauf der langen Kriegsjahre sich auch kein klares Kriegsziel gebildet. Das Urteil über den Krieg und seinen Zweck hing davon ab, wie sich Deutschland zu den drei feindlichen Großmächten in Europa künftig stellen würde.
Über das Ziel eines kommenden deutsch-französischen Krieges hatte sich Bismarck in den achtziger Jahren dahin geäußert, daß eine weitere Schwächung Frankreichs nicht im Interesse Deutschlands liege. Er, Bismarck, würde den Franzosen nach der ersten gewonnenen Schlacht den Frieden anbieten, und zwar einen Frieden, wie ihn Preußen mit Österreich 1866 geschlossen hat, das heißt einen Frieden ohne Schädigung Frankreichs und ohne Verlangen nach Landabtretung (s.o.S.32). Hätte Bethmann-Hollweg im Geist Bismarcks gehandelt, so hätte er um den 1. September 1914 den Franzosen einen solchen Frieden angeboten. Ob Frankreich darauf eingegangen wäre, ist heute mit Sicherheit nicht festzustellen. Immerhin hätte vor der Marneschlacht ein solcher großzügiger deutscher Vorschlag gewisse Aussichten gehabt. Denn die Stimmung in Frankreich war damals, infolge der Niederlagen und des Vormarsches der Deutschen auf Paris, sehr gedrückt, und die Hilfe des kleinen englischen Landheeres fiel in jenen Tagen nur wenig ins Gewicht. Die Aussichten auf einen deutsch-französischen Sonderfrieden sanken, als die Marneschlacht die Wendung in der Kriegslage brachte und als das englische Millionenheer in Frankreich aufmarschierte, wodurch Frankreich auch in seinen Kriegszielen in größere Abhängigkeit von England geriet.
Friedrich Engels empfahl ebenfalls den deutschen Sozialdemokraten, darauf zu dringen, daß Deutschland nach den ersten militärischen Siegen den Franzosen den Frieden anbiete. Bei dieser Gelegenheit solle Deutschland, um sich endgültig mit Frankreich zu verständigen, den Franzosen eine Lösung der elsaß-lothringischen Frage vorschlagen, entweder durch Volksabstimmung in Elsaß-Lothringen, oder durch Rückgabe von Metz und seiner französisch sprechenden Umgebung an Frankreich12. Es ist wichtig, daß Engels diese Konzession nach einem deutschen Sieg vorschlägt, als ein ohne Zwang gemachtes Zugeständnis im Interesse der internationalen Stellung Deutschlands. Was das deutsche Kriegsziel gegenüber Frankreich betrifft, sind in der Grundidee Bismarck und Engels, also die beiden stärksten politischen Köpfe Deutschlands seit 1870, einig. Das gibt ihrer Auffassung eine nicht unwesentliche Autorität.
Um so stärker weichen voneinander, wenigstens scheinbar, Bismarck und Engels in den Kriegszielen nach Osten ab. Bismarck hat immer wieder die Ansicht vertreten, daß Deutschland das große russische Reich, auch bei einem vollständigen militärischen Sieg, nicht vernichten könne. Es sei absurd, wenn Deutschland einen Landgewinn auf Kosten Rußlands suche. Deutschland müsse vermeiden, daß aus Rußland ebenso ein revanchelüsterner Gegner würde, wie es Frankreich seit 1871 sei. Aus solchen Erwägungen heraus hätte Bismarck sich unbedingt bemüht, aus dem deutsch-russischen Krieg so schnell wie möglich auf der Grundlage des Status quo herauszukommen. Engels dagegen empfahl den deutschen Sozialdemokraten, den Krieg mit Rußland »revolutionär«, mit dem Endziel der russischen Revolution zu führen. Deutschland solle sofort nach Kriegsausbruch an die Wiederherstellung Polens gehen. Das neue Polen müsse aber, neben Russisch-Polen, auch Galizien und ein Stück von Preußisch-Polen erhalten, etwa einen Teil der Provinz Posen. Deutschland solle für die nationale Befreiung aller vom Zarismus unterdrückten Völker Westrußlands eintreten13.
Wie man sieht, ist der Unterschied in der Ostpolitik von Bismarck und von Engels ungeheuer. Er beruht darauf, daß die beiden Staatsmänner sich ein ganz verschiedenes Deutschland denken. Für das kaiserliche Deutschland war die Wiederherstellung Polens ein ungeheuerer Fehler; denn dadurch wurde jede Verständigung mit dem zaristischen Rußland unmöglich. Wenn dagegen ein von der sozialistischen Arbeiterschaft geleitetes Deutschland die Revolution nach dem Osten trug, und im Verlaufe der Revolution lösten sich die Westprovinzen von Rußland los, so konnte deswegen ein neues »rotes« Rußland den deutschen Arbeitern keinen Vorwurf machen. Der Weltkrieg brachte nun aber die phantastische Situation, daß Bethmann-Hollweg und Wilhelm II. anscheinend das rote Barrikaden-Programm von Engels gegenüber dem Zarismus durchführten.
Das reale Interesse Deutschlands hätte von 1914 bis 1916 erfordert, daß man so schnell wie möglich einen Status-quo-Frieden mit Rußland und Frankreich herbeiführte. Die Auseinandersetzung mit England war um so schwieriger. Denn das englische Bürgertum hatte den Krieg zum Anlaß genommen, um den deutschen Konkurrenten in den überseeischen Ländern restlos auszuschalten. Diesem Zweck sollte nicht nur die Besetzung der deutschen Kolonien dienen, sondern auch die Beschlagnahme des deutschen Eigentums im Ausland, die Liquidation der deutschen auswärtigen Firmen und die Zerschneidung aller deutschen kaufmännischen Verbindungen. Die Vernichtung des deutschen Wirtschaftskonkurrenten war das Ziel, in dem sich England mit den großen Dominions des Britischen Reiches traf. Es sei nur an die Rolle erinnert, die der australische Ministerpräsident Hughes bei der Inszenierung des Wirtschaftskrieges gegen Deutschland spielte. Um dieses wirtschaftliche Ziel zu erreichen, mußte England die politische und militärische Macht Deutschlands brechen. So wird Englands Hauptziel im Kriege die Vernichtung des deutschen »Militarismus«, das heißt die Auflösung des deutschen Heeres und der deutschen Flotte. Demgegenüber waren einzelne territoriale Veränderungen in Europa für die englischen Staatsmänner ziemlich gleichgültig.
Zu einem Verzicht auf sein großes hauptsächliches Kriegsziel wäre England nur zu bringen gewesen, wenn es sich einem starken, geschlossenen europäischen Kontinent gegenübergesehen hätte. Eine solche europäische kontinentale Verständigung war aber nur zu erzielen, wenn Deutschland jetzt unter dem Donner der Kanonen die Fehler wieder gutmachte, die von der kaiserlichen Politik seit 1890 begangen worden waren. Man mußte, wenn auch unter Opfern, die Verständigung mit Frankreich und Rußland erzielen, um dann England zu zwingen, daß es für die kontinental-europäischen Völker den freien Wettbewerb in den überseeischen Gebieten zuließ. Die Möglichkeit für Deutschland, sich weltwirtschaftlich wie die anderen Völker zu betätigen, lag ebenso im Interesse des deutschen Bürgertums wie der deutschen Arbeiter. Die breiten Schichten des deutschen Volkes empfanden, daß England der Hauptgegner im Kriege sei.
Die Regierung hätte nicht die Kindereien und Geschmacklosigkeiten des »Gott strafe England« mitmachen sollen, aber sie hätte der allgemeinen Volksstimmung den politischen Ausdruck verschaffen müssen und den Massen klarmachen können, daß ein Erfolg gegen England nur dann möglich war, wenn Deutschland gegen Frankreich und Rußland Mäßigung zeigte. Ebenso hätte es von Anfang an klar sein müssen, daß Deutschland auch nach einem Sonderfrieden mit Rußland und Frankreich das Britische Reich und seine ungeheuere Seemacht nicht »niederzwingen« konnte, sondern daß nur ein Kompromiß zu erzielen war. Oder wenn die Regierung die entgegengesetzte Auffassung hatte, daß Deutschland zu schwach sei, um England auch nur zu einem Kompromiß zu zwingen, und daß man um jeden Preis zunächst eine Verständigung mit England brauchte, so hätte demgemäß die deutsche Außenpolitik geleitet werden müssen. Dann hätte die Regierung das Volk über diese Notwendigkeit aufklären und ihre ganze Politik auf diese Linie bringen müssen.
Aber Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg haben weder den einen noch den andern Weg eingeschlagen, denn sie hatten überhaupt keine Politik. Die grauenhafte Ziel- und Sinnlosigkeit der deutschen Außenpolitik von 1890 bis 1914 setzte sich im Kriege fort. Denn wenn die deutsche Regierung von Zeit zu Zeit erklärte, sie wolle »keine Eroberungen«, oder sie wolle durch den Frieden »Deutschlands Zukunft sichern«, so nutzten solche allgemeinen Reden für die deutsche Außenpolitik gar nichts. Im vertrauten Kreise hat Bethmann-Hollweg manchmal die Notwendigkeit eines Sonderfriedens mit Frankreich und Rußland betont14. Aber seine Handlungen und öffentlichen Erklärungen haben zumindest den Frieden mit Rußland unmöglich gemacht.
Die politische Hilflosigkeit der Reichsregierung hätte vielleicht durch Vorschläge oder eine Initiative aus dem Volke heraus überwunden werden können. Aber dazu fehlte die wichtigste Voraussetzung: Dem Volke war die wirkliche Kriegslage unbekannt. Das lag nicht an den deutschen Heeresberichten. Über die seltsamen Heeresberichte der Periode Moltke-Stein ist schon das Nötige gesagt worden. Aber unter den folgenden Heeresleitungen, Falkenhayn und Ludendorff, von Ende September 1914 bis zum Ende des Krieges sind die Tagesberichte durchaus sorgfältig und zuverlässig gewesen. Sie enthielten das, was Berichte dieser Art bieten können, nämlich Angaben, wo die Front lief und was an wichtigsten Ereignissen geschehen war. Aber das eigentlich Entscheidende über die Kriegslage kann man in die Tagesberichte nicht hineinschreiben: Die eigene Truppenstärke im Verhältnis zum Feinde, die beiderseitigen Reserven und die strategische Gesamtlage. Über diese wirkliche Kriegssituation hat das deutsche Volk, einschließlich der Parlamentarier15, nichts erfahren. Die Kriegslage war bekannt: am Hof, bei der Obersten Heeresleitung und allenfalls beim Reichskanzler. Damit hörte der Kreis der Wissenden auf.
Die Irreführung der deutschen Öffentlichkeit wurde durch den Umstand verstärkt, daß die deutschen Truppen überall in Feindesland standen und wichtige Gebiete besetzt hielten. Das Objekt der Kriegführung ist das feindliche Heer und nicht der feindliche Boden. Sieger ist, wer das feindliche Heer vernichtend schlägt. Wo die Schlacht stattfindet, ist militärisch gleichgültig. Es gab zum Beispiel einen Plan des alten Moltke für einen deutsch-französischen Krieg, wonach er die Franzosen nach Deutschland hereinlassen und bei Frankfurt am Main entscheidend schlagen wollte16. Der Zufall der militärischen Operationen hatte 1914 und 1915 das deutsche Heer nach Belgien und Polen geführt. Bei einem Umschwung der sehr zweifelhaften Kriegslage konnten die deutschen Truppen genötigt werden, diese Länder wieder zu räumen. Die Reichsregierung tat aber nichts, um das deutsche Volk auf den ganz unsicheren Charakter der sogenannten Eroberungen hinzuweisen. Weite Schichten des Volkes redeten sich ein, daß Deutschland nunmehr über die besetzten Gebiete verfügen könne.
Diese Tauschung der Öffentlichkeit über die Kriegslage entsprang einer patriarchalischen Auf fassung des Verhältnisses von Regierung und Volk. In England herrschte während des Krieges rücksichtslose Offenheit über die Lage. Parlament, Presse und Volk erörterten die günstigen und die ungünstigen Momente völlig offen auf Grund klarer Informationen. Es wäre ebenso lächerlich gewesen, wenn das regierende englische Bürgertum vor sich selbst Geheimnisse gehabt hätte, wie wenn ein Kaufmann sich scheuen würde, Bilanz über seine Geschäftslage zu machen. Die deutsche Regierung dagegen hielt es für nötig, durch Schönfärbung die Stimmung ihrer Untertanen aufrechtzuerhalten. Sie fürchtete, daß beim Durchsickern der ungünstigen Tatsachen die staatliche Autorität leiden würde. Die deutsche Regierung benahm sich wie ein sorgenvoller Familienvater, der seiner Frau und den Kindern nicht erzählen will, wie unsicher seine geschäftliche Zukunft ist. Noch seltsamer als das Schönfärben der militärischen Lage ist es, daß das deutsche Volk auch über seine Gesundheitslage im Kriege nichts erfahren durfte17. Daß die Hungerblockade viele tausende Todesopfer in der Zivilbevölkerung kostete, wurde verschwiegen. Statt dessen wurde offiziös versichert, daß die knappe Kriegsnahrung gesundheitlich auch ihre Vorteile hätte. Eine volkstümliche, die Massenpsychologie verstehende Regierung hätte statt dessen die Totenzahlen der Hungerblockade an jeder Straßenecke anschlagen lassen, wenn sie die Erbitterung gegen den Feind und die verzweifelte Kampfesstimmung steigern wollte. Wie hat man in England die Zeppelinangriffe auf englische Städte ausgenutzt, um die Kriegsstimmung aufzupeitschen!
Die Unkenntnis des deutschen Volkes von der wirklichen Kriegslage spiegelte sich in der Art und Weise wider, wie die einzelnen Schichten den Krieg beurteilten und wie sie ihn beendet wissen wollten. Die deutsche Industrie hoffte, daß ein guter Kriegsausgang ihre Rohstoffbasis verbreitern würde. Die Schwerindustrie insbesondere verfolgte den deutschen Vormarsch durch Belgien und Nordfrankreich mit ihren Hoffnungen. Die Kohle- und Eisengebiete von Luxemburg, von Belgien und von Longwy-Briey sollten unter deutsche Kontrolle kommen. So verlangte die Industrie in Eingaben und Anregungen an die Regierung die Annexion von Longwy-Briey und die Annexion, oder doch mindestens die wirtschaftliche Herrschaft Deutschlands über Belgien. Die deutschen Industriellen verfolgten also im Kriege dieselbe Taktik wie im Frieden. Vor 1914 hatten die einzelnen großen Firmen die deutsche Regierung gedrängt, ihre auswärtigen Unternehmungen mit der Macht des Reiches zu unterstützen. Jetzt drängte man die Regierung, möglichst viel von den industriellen Kriegswünschen zu verwirklichen. Hätte eine bürgerliche Industriepartei selbst die Regierung Deutschlands gebildet, so hätte sie auch die Verantwortung für die Verwirklichung ihrer Wunsche gehabt und hätte sich sehr sorgfältig gefragt, was von ihren Plänen durchführbar sei. Unter der kaiserlichen Verfassung jedoch konnten die industriellen Verbände, von keiner Verantwortung gehemmt, Eingaben schreiben. Die Erlangung dieser Objekte war Sache der Regierung.
Während die Industrie im Westen ihre Basis erweitern wollte, hatte der preußische Grundbesitz ähnliche Pläne für sich im Osten. Man wollte in den dünnbevölkerten Agrarländern Kurland und Litauen Siedlungsland für die jüngeren Söhne der deutschen Landwirte gewinnen. Man suchte Verbindung mit dem deutschbaltischen Adel der russischen Ostseeprovinzen. So sollte durch eine Gebietserweiterung nach Nordosten hin die agrarisch-aristokratische Regierungsschicht Preußens Verstärkung bekommen. Ein Teil der preußischen Konservativen zog freilich den Sonderfrieden mit dem russischen Kaisertum solchen Projekten vor.
Bei den politischen Machtverhältnissen in Deutschland war es besonders wichtig, welche Wünsche zur strategischen Sicherung der Generalstab und die Marineleitung hatten. Leitende Generale waren der Ansicht, daß vor allem die Industriegebiete Deutschlands im Westen bisher zu nah an der Grenze lagen. Zur besseren Sicherung des deutschlothringischen Industriebezirkes müsse ein Streifen französischen Landes erworben werden, und zur Deckung des Rheinlandes müsse mindestens Lüttich deutsch werden. Noch besser sei es, wenn ganz Belgien unter deutschem Einfluß bleibe. Im Osten wünschten die militärischen Stellen eine bessere Grenzsicherung für Oberschlesien, Ost- und Westpreußen, also die Abtretung von russisch-polnischem Gebiet an Deutschland. Man sieht, daß die militärischen Kriegsziele in weitem Umfang mit den industriellen übereinstimmten. In dem Gebietsstreifen, den die Generale zur Sicherung Lothringens forderten, lag gerade Longwy-Briey, und ebenso deckten sich die militärischen und die industriellen Forderungen in bezug auf Belgien. Auch die Marine drängte darauf, daß Deutschland die Kontrolle über Belgien behalte: Denn nur wenn Deutschland die Herrschaft über die flandrische Küste behaupte, könne es mit Hilfe von U-Booten usw. England in Schach halten.
Durch Zusammenlegung all dieser Kriegsziele der Industrie, des Großgrundbesitzes, der militärischen und Marinesachverständigen entstand ein einheitliches Programm des sogenannten deutschen »Siegfriedens«, dessen literarische und agitatorische Vorkämpfer vor allem im Alldeutschen Verband saßen18. Die Leidenschaft, mit der die führenden Schichten Deutschlands für den sogenannten Siegfrieden eintraten, ist aber nicht dadurch zu erklären, daß dieser oder jener für sich persönliche Vorteile erhoffte, sondern die politisch denkenden Männer des preußischen Adels und der Industrie empfanden, daß auf jeden Fall der Ausgang des Krieges ihre Machtstellung, und damit das alte Regierungssystem Deutschlands, aufs schwerste bedrohen würde. Ging der Krieg unglücklich aus, so war ein furchtbarer Zusammenbruch zu erwarten. Wenn der Krieg mit einem Status-quo-Frieden ende, dann müsse das deutsche Volk, ohne einen Vorteil errungen zu haben, Kriegsschulden von vielen Milliarden abtragen. Dies würde ohne ganz schwere Steuern nicht möglich sein. Wenn die Kriegsteilnehmer nach Hause kämen, würden sie nach so vielen Opfern ein verarmtes Vaterland vorfinden, und die Regierung würde von ihnen riesige Steuern verlangen. Das würde sich die Volksmasse nicht gefallen lassen, und so käme auch die Revolution. Das alte System Deutschlands war also nach Ansicht der sogenannten »Annexionisten« nur dann zu halten, wenn der Staat dem Volke nach dem Krieg etwas bieten konnte, sei es eine angemessene Kriegsentschädigung, oder Siedlungsland, oder eine in ihrer Leistungsfähigkeit erheblich gesteigerte Industrie, oder möglichst all dies zugleich.
So wird für die Konservativen und den größten Teil der Nationalliberalen der Siegfriede der letzte politische Rettungsanker19. Obwohl diese Kreise den wirklichen Ernst der Kriegslage nicht kannten, mußte man sich doch in den Jahren 1915 und 1916 allmählich sagen, daß ein voller militärischer Sieg Deutschlands über alle seine Feinde nicht wahrscheinlich sei. Aber da ließ die Marine unter der Hand überall verbreiten, daß sie eine Waffe habe, um den Hauptfeind England ungefähr in einem halben Jahr verhandlungsbereit zu machen, nämlich den unbeschränkten U-Boot-Krieg. Aus übertriebener Rücksicht auf England und Amerika scheue sich Bethmann-Hollweg, diese entscheidende Waffe anzuwenden. Die »Flaumacher« am kaiserlichen Hof, Männer wie die Kabinettschefs von Valentini und von Müller, seien dabei die Helfershelfer Bethmann-Hollwegs. So ziehe sich der Krieg hin, untergrabe die Wurzeln der deutschen Kraft und stärke den Sozialismus und die Demokratie. Bethmann-Hollweg müsse von seinem Posten entfernt werden, der verschärfte U-Boot-Krieg müsse ohne Rücksicht geführt werden 20. So könne Deutschland zum Sieg und zum Siegfrieden kommen. Nur so sei die Revolution abzuwehren und die traditionelle Staatsordnung zu verteidigen. So argumentierten das Offizierskorps, der preußische Großgrundbesitz und die Industrie.
Völlig entgegengesetzt waren die Kriegsziele der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Aus den oben erwähnten Gründen waren die Arbeiter von tiefem Mißtrauen gegen die herrschenden Schichten erfüllt und von dem Willen, so schnell wie möglich den Krieg zu beenden. Die Massen hatten den Eindruck, daß der Krieg den höheren Offizieren in den Stäben und den Großindustriellen gar nicht unangenehm sei. Nun hörten sie noch, daß diese selben regierenden Kreise große Eroberungspläne hegten. Sie hörten ferner die optimistische amtliche Auffassung der Kriegslage. Die Angriffe der Feinde auf Deutschlands Existenz waren überall zurückgeschlagen. Die deutschen Truppen standen überall in Feindesland. War es da nicht möglich, einen Frieden der Verständigung, ohne Eroberungen, jederzeit zu erhalten? Waren nicht die Eroberungspläne der regierenden Klassen das Haupthindernis des Friedens? Wenn führende Konservative und Alldeutsche erklärten, daß Deutschland einen sogenannten Verständigungsfrieden gar nicht annehmen dürfe und auf dem Siegfrieden bestehen müsse, so sahen die sozialdemokratischen Arbeiter darin die Bestätigung ihres Verdachts21. Dieselben Männer, von denen das Proletariat politisch, wirtschaftlich und im Heere gedrückt würde, seien auch die Kriegsverlängerer. Sie müsse man unschädlich machen, um so das Elend zu beenden. So belebte die Losung: »Gegen die Alldeutschen und Annexionisten« den Klassenkampfgeist der Arbeiter. Das war die Formel, mit der das Proletariat die Fesseln des Burgfriedens durchbrach und den politischen Machtkampf wieder aufnahm. Denn die »Annexionisten«, das waren in den Augen der sozialdemokratischen Arbeiter die herrschenden Schichten des kaiserlichen Deutschlands. Wenn man die »Annexionisten« niederschlug, dann gewannen die sozialdemokratischen Arbeiter das Übergewicht in Deutschland.
Das leidenschaftliche Verlangen der Arbeitermassen nach Kampf gegen jeglichen Annexionismus hätte eigentlich die sozialdemokratische Parteileitung in eine schwierige Lage bringen müssen. Die Sozialdemokratie hatte zwar nach Kriegsbeginn eine selbständige politische Initiative im Sinne von Engels nicht ergriffen. Aber sie hielt trotzdem im Sinne der Tradition von Marx und Engels an der Niederwerfung des Zarismus als einem wünschenswerten Kriegsziel fest. Ebenso war die sozialdemokratische Parteileitung damit einverstanden, daß durch die deutschen Siege im Osten die von Rußland unterdrückten Völker, vor allem die Polen, »befreit« wurden. Politisch hätte es klar sein müssen, daß das kaiserliche aristokratische Deutschland die Ostvölker gar nicht »befreien« konnte. Ein durch die Siege der kaiserlichen Armee »befreites« Polen, Litauen und Kurland konnte weiter nichts werden als ein Vasallenstaat der deutschen Aristokratie und der deutschen Industrie. Wenn also die Sozialdemokraten die Formel »keine Annexionen und Verständigungsfriede auf Grundlage des Status quo« aufnahmen, so hätte diese Losung für den Osten genauso gelten müssen wie für den Westen. Aber um ihr Kriegsziel vom 4. August, den Kampf gegen den Zarismus nicht ganz preiszugeben, blieb die Sozialdemokratie hier inkonsequent. Sie bekämpfte zwar alle Pläne eines offenen und versteckten deutschen Annexionismus in Belgien und Nordfrankreich. Sie hatte aber keine ernsten Einwendungen dagegen, daß Deutschland in Kurland, Polen und Litauen auf Kosten Rußlands neue Staaten gründete. Die Sozialdemokratie verlangte zwar, daß in diesen »befreiten« Ländern auch wirklich das Selbstbestimmungsrecht der Völker zur Geltung käm22. Aber für die reale Politik war das bedeutungslos.
Es ist bemerkenswert, daß die Arbeitermassen Deutschlands zwar jeden mit ungeheuerer Verbitterung verfolgten, der für die Annexion Belgiens und besonders der flandrischen Küste eintrat, daß sie aber gegen die östlichen Eroberungspläne kaum etwas einwandten. Die Massen waren nämlich gar nicht an sich gegen eine Machterweiterung Deutschlands, sondern sie waren nur gegen die Annexionen, sofern sie den Krieg verlängerten. Das ist auch ganz natürlich: Warum sollten die Arbeitermassen die politischen Grenzen Europas, so wie sie im Juli 1914 bestanden, als Werk von tausend diplomatischen Zufällen, heilig halten? Aber die Massen wehrten sich dagegen, das Kriegselend weiter zu tragen, damit nach ihrer Meinung ein paar Industrielle in Belgien Extrageschäfte machen konnten. Die deutschen Volksmassen hielten Rußland für ziemlich besiegt. Die stärksten und gefährlichsten Feinde Deutschlands seien England und Frankreich, also müsse man ihnen Zugeständnisse machen, um zum Frieden zu kommen. England habe erklärt, daß es zur Verteidigung Belgiens in den Krieg gehe, und die unbedingte Wiederherstellung Belgiens sei ein Hauptkriegsziel der Engländer. Also müsse Deutschland vor allem Belgien wieder aufgeben, und die annexionistischen Kriegsverlängerer, die das hinderten, müsse man unschädlich machen. Das alles war psychologisch, vom Standpunkt des deutschen Arbeiters im Kriege aus, durchaus begreiflich. Aber objektiv war es falsch; denn der Weg zum schnellen Frieden für Deutschland führte nicht über Angebote an England, sondern über eine Verständigung mit Rußland.
Von den mittleren Parteien war das Zentrum in dem Kriegszielstreit nicht einheitlich. Die konservative Führergruppe suchte auch hier Anschluß an die Rechtsparteien. Die christlichen Gewerkschaften wollten den »Verständigungsfrieden«, so wie die Sozialdemokratie. Die Kaufmannschaft in den Großstädten hatte gegen eine Machterweiterung Deutschlands nichts einzuwenden. Aber man suchte sie auf der Linie des geringsten feindlichen Widerstandes, durch Gründung neuer Staaten im Osten und durch Ausbau des Systems Berlin-Bagdad 23. Man hoffte, daß das Kriegsbündnis Deutschlands mit Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei eine dauernde politisch-wirtschaftliche Verbindung dieser Staaten herbeiführen würde. Dabei hätten die Verbündeten sich der deutschen Führung fügen müssen. Dieser Plan, wie ihn vor allem der fortschrittliche Führer Friedrich Naumann vertrat, war utopisch, weil weder das Habsburgerreich noch die Balkanvölker, noch die Türkei sich einer solchen deutschen Vorherrschaft unterworfen hätten.
Objektiv war dies der größte Annexionsplan, der in Deutschland während des Krieges entstanden ist; denn dadurch wären auswärtige Gebiete mit fast hundert Millionen Einwohnern politisch und wirtschaftlich von Deutschland unterjocht worden. Die englischen und amerikanischen Staatsmänner haben diesen Plan auch so gewertet. Aber innerpolitisch hat er die Geister in Deutschland kaum erregt, denn als eigentliche »Annexionen« empfanden die Massen nur die schwerindustriellen und militärischen Pläne in bezug auf Belgien und Nordfrankreich. An den speziell industriellen Kriegszielen hatten die kaufmännischen Kreise und die Fortschrittspartei kein Interesse. Die breiten Schichten der Landbevölkerung Deutschlands wollten, wie die Arbeiter, eine möglichst schnelle Beendigung des Krieges, ohne dabei bestimmte Parolen zu formulieren.
Dem Reichskanzler von Bethmann-Hollweg war der in den Jahren 1915 und 1916 immer stärker anschwellende Kriegszielstreit sehr unangenehm, weil er die Regierung zu einem Heraustreten aus ihrer Zurückhaltung und zur Stellungnahme im Streit der Parteien und Klassen nötigte. Das hielt Bethmann-Hollweg für eine schwere Schädigung des Burgfriedens. Mit Hilfe der Zensur suchte er die Kriegszieldiskussion im Volke abzuwürgen. Das machte das Übel noch schlimmer. Denn alle Schichten des Volkes wollten sich darüber klarwerden, wozu der Krieg geführt wurde und welches Ziel er haben könnte. Durch die Methode Bethmann-Hollwegs wurde die Kriegszieldiskussion hinter die Kulissen und in interne Kreise verlegt, was die Selbstverständigung des deutschen Volkes noch schwerer machte, als sie schon an sich war. Bethmann-Hollweg sah die Kriegslage Deutschlands ernst und pessimistisch an. Der Generalstabschef von Falkenhayn stimmte im Grunde darin mit ihm überein. Bethmann hätte mit einem Schlage die annexionistische Propaganda in Deutschland töten können, wenn er einen amtlichen, wahrheitsgetreuen Artikel über die Kriegslage, möglichst gedeckt durch die Autorität des Generalstabs, an die Presse gegeben hätte. Aber einen solchen Schritt tat Bethmann nicht, um nicht den Willen des Volkes zum »Durchhalten« zu schwächen.
Anstatt daß die Regierung mit einem klaren Kriegs- und Friedensprogramm an die Öffentlichkeit getreten wäre und so die politische Führung an sich gerissen hätte, gefiel sich Bethmann-Hollweg in Zweideutigkeiten. Er wollte die Konservativen und Nationalliberalen nicht verletzen, aber die Sozialdemokraten konnten die Kanzlerworte auch in ihrem Sinne auslegen. Die eigenen Kriegsziele Bethmann-Hollwegs waren ein Gemisch aus den Forderungen sämtlicher Richtungen24. Er gab jedem etwas und glaubte, so die Einigkeit des Volkes wiederherzustellen und die innere Krise zu besänftigen. Am entschiedensten legte Bethmann-Hollweg sich nach Osten hin fest.
Schon am 19. August 1915 kündigte Bethmann-Hollweg in ziemlich deutlichen Worten im Reichstag an, daß Deutschland Polen an Rußland nicht zurückgeben werde. Das war die politische Folgerung, die Bethmann-Hollweg aus den deutschen Siegen über die Russen im Frühjahr und Sommer 1915 zog. Am 5. April 1916 erklärte Bethmann-Hollweg ganz bestimmt im Reichstag, daß die »befreiten« Polen, Litauer, Letten und Balten nicht wieder unter russische Herrschaft zurückkommen dürften. So dachte Bethmann-Hollweg den Kriegszielen der Sozialdemokraten zu entsprechen und gleichzeitig die militärisch-agrarischen Ostpläne zu berücksichtigen. Seit den russischen Niederlagen des Jahres 1915 war Rußland von seinen Verbündeten fast vollständig abgeschnitten. Rußland trug die Hauptlast des Krieges, bei wachsender Revolutionsgefahr für den Zarismus. Die deutschen Siege im Osten hatten eine militärische Entscheidung nicht gebracht. Um so näher hätte es gelegen, nun wenigstens politisch die militärischen Erfolge auszuwerten. Ein Sonderfrieden Deutschlands mit Rußland auf Grundlage des Status quo wäre wahrscheinlich im Herbst 1915 und im Jahre 1916 zu erreichen gewesen. Aber wenn Bethmann-Hollweg der russischen Regierung ankündigte, daß sie unbedingt ihre Westprovinzen verlieren müsse, blieb der Zar lieber bei der Entente.
Was die westlichen Ziele betraf, so plante Bethmann-Hollweg die Erwerbung von Longwy-Briey. Zum Ersatz wollte er den Franzosen Grenzberichtigungen an anderen Stellen Elsaß-Lothringens gewähren. Dabei war es klar, daß Frankreich auf den Verlust des wertvollen Erzgebietes nur nach einer vollständigen militärischen Niederlage eingehen würde. Der Plan, die Franzosen anderweitig dafür zu entschädigen, konnte ernsthaft nichts bedeuten. Doch äußerte sich Bethmann-Hollweg offiziell darüber nicht. Dagegen sprach er über Belgiens Zukunft ebenfalls am 5. April 1916 im Reichstag. Er versicherte, daß der »Status quo« Belgiens erledigt sei. Deutschland müsse reale Garantien dafür haben, daß Belgien kein englisch-französischer Vasallenstaat werde. Ferner müsse Deutschland den flämischen Volksstamm vor der »Verwelschung« schützen. Das war im wesentlichen das alldeutsche Programm einer deutschen Vorherrschaft über Belgien. Bethmann-Hollweg schloß sich sogar den Projekten an, die sich in Belgien besonders auf die Flamen, im Gegensatz zu den französisch sprechenden Wallonen, stützen wollten. Hier lag ein historisch-politischer Irrtum schwerster Art. Die beiden Nationalitäten, aus denen Belgien sich zusammensetzt, stehen zueinander wie die deutschen zu den französischen Schweizern. Zu »befreien« gab es hier nichts. Mindestens 99 Prozent des flämischen Volkes lehnten jede Einmischung Deutschlands in die inneren Verhältnisse Belgiens ab. Ein von Deutschland geschaffenes autonomes Flandern wäre also nur mit Militärgewalt aufrechtzuerhalten gewesen.
An sich war die Sorge der deutschen Regierung verständlich, daß Belgien keine Einfallspforte Englands auf dem Kontinent sein sollte. Aber diese Gefahr war nur durch eine kontinentale Verständigung zwischen Deutschland, Frankreich und Rußland zu beseitigen. Wenn Deutschland bewies, daß es wirklich eine kontinentaleuropäische Verteidigungspolitik betrieb, dann hätte es von Belgien (im ganzen, nicht von einem utopischen Flandern) Garantien verlangen können, daß Belgien sich der kontinentaleuropäischen Front einfügte. Aber wenn Bethmann-Hollweg an Kriegsziele dachte, die eine völlige Besiegung Frankreichs und Rußlands voraussetzten, wie wollte er sich dann in der belgischen Frage gegen England durchsetzen? Und wie vertrug sich dieses Kriegszielprogramm mit der pessimistischen Beurteilung der Kriegslage durch Bethmann-Hollweg?
Es ist ganz klar, daß Bethmann-Hollweg seine Kriegsziele nicht auf Grund der militärischen und außenpolitischen Lage Deutschlands, sondern als innerpolitisches Kompromiß formulierte. War Bethmann-Hollweg auch in der Sache, was die westlichen Kriegsziele betraf, mit den Konservativen und Nationalliberalen im wesentlichen einig, so wählte er seine Ausdrücke so sorgfältig, daß er auch die Sozialdemokraten nicht ganz abstieß. Bei gutem Willen konnte man seine Worte so auslegen, daß er keine »Eroberungen«, sondern nur friedliche, billige Vereinbarungen anstrebe. Aber gerade diese seine vorsichtige Form erbitterte die konservativ-nationalliberale Gruppe. In der Sache bot Bethmann-Hollweg den sogenannten Annexionisten eigentlich alles, was sie nur wünschen konnten. Aber sie wollten die offene, scharfe Aussprache der deutschen Kriegsziele, eigentlich nicht gegenüber dem Feind, sondern als innerpolitische Machtprobe: Scheidemann sollte nicht sagen dürfen, daß er den Reichskanzler richtig auslege25. Die bisher in Deutschland herrschenden Schichten wollten nicht einmal den Schein dulden, als ob die Sozialdemokratie auf die deutsche Kriegspolitik Einfluß übe. Auch bei den sogenannten Alldeutschen war der Kriegszielstreit in erster Linie eine innerpolitische Frage, genauso wie auf der anderen Seite bei den Arbeitern.
Bethmann-Hollweg hat das Kompromiß zwischen den Kriegszielen der aristokratischen und industriellen Oberschicht und den Zielen der sozialdemokratischen Arbeiter in denkbar unglücklichster Form gesucht. Der Einfluß der Sozialdemokraten auf ihn führte nicht dazu, daß er seine Forderungen mäßigte, sondern er packte eigentlich auf die alldeutschen Eroberungspläne auch noch die sozialdemokratischen Befreiungsprojekte im Osten auf und schuf sich so ein absurdes, völlig undurchführbares Kriegszielprogramm. Die Haltung der Regierung befriedigte niemand. Auf der rechten Seite wuchs die Opposition der Konservativen und Nationalliberalen gegen den Reichskanzler, und auf der linken Seite wurde es der sozialdemokratischen Parteiführung immer schwerer, die Politik der Regierung gegen die erbitterten Arbeiter zu verteidigen.
Einen ähnlichen Mittelweg wie in der Frage der Kriegsziele suchte Bethmann-Hollweg auf dem Gebiet der Kriegswirtschaft. Die ständigen Klagen der Sozialdemokraten über die schlechte Ernährung der Arbeiter beantwortete Bethmann-Hollweg mit immer schärferem Ausbau der Zwangswirtschaft. Deutschland war damals in der Lage einer belagerten Festung. So war ein staatliches Eingreifen in die Lebensmittelversorgung unvermeidlich. Aber die preußisch-deutsche Bürokratie, die in normalen Verhältnissen pünktlich und exakt arbeitete, war diesen neuen ungeheueren Aufgaben nicht gewachsen. Je mehr auf dem Gebiet der Ernährung »organisiert« wurde, um so mehr verschwanden die Lebensmittel vom Markt. Was im einzelnen damals in Deutschland hätte besser gemacht werden können, ließe sich selbstverständlich nur durch eine eingehende Spezialuntersuchung feststellen. Politisch hatte die Regierung mit der Zwangswirtschaft, die sich schließlich auf so gut wie alle Nahrungsmittel ausdehnte, nur Mißerfolge. Die Lebensmittelkarte mit ihrer gleichen Nahrungsmenge für arm und reich sollte als Konzession an die städtische Arbeiterschaft wirken. Aber die steigende Hungersnot machte die Stimmung des Proletariats immer schlechter, und zur selben Zeit entfremdete sich die Regierung, wie oben festgestellt wurde, alle Sympathien der Landbevölkerung.
Nach zwei Jahren Krieg und »Burgfrieden« hatte die kaiserliche Regierung gleichmäßig in allen Schichten des deutschen Volkes ihre Autorität eingebüßt. Niemand traute ihr, und niemand hoffte etwas von ihr. Der nächste Anstoß genügte, um sie über den Haufen zu rennen. Er kam durch eine neue Wendung der Kriegslage.