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Erstes Buch
ОглавлениеDer Welt als Vorstellung erste Betrachtung:
Die Vorstellung unterworfen dem Satze vom Grunde: das Objekt der Erfahrung und Wissenschaft.
§ 1
»Die Welt ist meine Vorstellung:« – dies ist die Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektierte abstrakte Bewusstsein bringen kann: und tut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiss, dass er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; dass die Welt, welche ihn umgibt, nur als Vorstellung da ist, d.h. durchweg nur in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist. – Wenn irgendeine Wahrheit a priori ausgesprochen werden kann, so ist es diese: denn sie ist die Aussage derjenigen Form aller möglichen und erdenklichen Erfahrung, welche allgemeiner, als alle andern, als Zeit, Raum und Kausalität ist: denn alle diese setzen jene eben schon voraus, und wenn jede dieser Formen, welche alle wir als so viele besondere Gestaltungen des Satzes vom Grunde erkannt haben, nur für eine besondere Klasse von Vorstellungen gilt; so ist dagegen das Zerfallen in Objekt und Subjekt die gemeinsame Form aller jener Klassen, ist diejenige Form, unter welcher allein irgend eine Vorstellung, welcher Art sie auch sei, abstrakt oder intuitiv, rein oder empirisch, nur überhaupt möglich und denkbar ist. Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als diese, dass Alles, was für die Erkenntnis da ist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung. Natürlich gilt Dieses, wie von der Gegenwart, so auch von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft, vom Fernsten, wie vom Nahen: denn es gilt von Zeit und Raum selbst, in welchen allein sich dieses alles unterscheidet. Alles, was irgend zur Welt gehört und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtsein durch das Subjekt behaftet, und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung.
Neu ist diese Wahrheit keineswegs. Sie lag schon in den skeptischen Betrachtungen, von welchen Cartesius ausging. Berkeley aber war der erste, welcher sie entschieden aussprach: er hat sich dadurch ein unsterbliches Verdienst um die Philosophie erworben, wenn gleich das Übrige seiner Lehren nicht bestehen kann. Kants erster Fehler war die Vernachlässigung dieses Satzes, wie im Anhange ausgeführt ist. – Wie früh hingegen diese Grundwahrheit von den Weisen Indiens erkannt worden ist, indem sie als der Fundamentalsatz der dem Vyasa zugeschriebenen Vedantaphilosophie auftritt, bezeugt W. Jones, in der letzten seiner Abhandlungen: on the philosophy of the Asiatics; Asiatic researches, Vol. IV, p. 164: the fundamental tenet of the Vedanta school consisted not in denying the existence of matter, that is of solidity, impenetrability, and extended figure (to deny which would be lunacy), but in correcting the popular notion of it, and in contending that it has no essence independent of mental perception; that existence and perceptibility are convertible terms5. Diese Worte drücken das Zusammenbestehn der empirischen Realität mit der transzendentalen Idealität hinlänglich aus.
Also nur von der angegebenen Seite, nur sofern sie Vorstellung ist, betrachten wir die Welt in diesem ersten Buche. Dass jedoch diese Betrachtung, ihrer Wahrheit unbeschadet, eine einseitige, folglich durch irgendeine willkürliche Abstraktion hervorgerufen ist, kündigt Jedem das innere Widerstreben an, mit welchem er die Welt als seine bloße Vorstellung annimmt; welcher Annahme er sich andererseits doch nimmermehr entziehen kann. Die Einseitigkeit dieser Betrachtung aber wird das folgende Buch ergänzen, durch eine Wahrheit, welche nicht so unmittelbar gewiss ist, wie die, von der wir hier ausgehen; sondern zu welcher nur tiefere Forschung, schwierigere Abstraktion, Trennung des Verschiedenen und Vereinigung des Identischen führen kann, – durch eine Wahrheit, welche sehr ernst und Jedem, wo nicht furchtbar, doch bedenklich sein muss, nämlich diese, dass eben auch er sagen kann und sagen muss: »Die Welt ist mein Wille.« –
Bis dahin aber, also in diesem ersten Buch, ist es nötig, unverwandt diejenige Seite der Welt zu betrachten, von welcher wir ausgehen, die Seite der Erkennbarkeit, und demnach, ohne Widerstreben, alle irgend vorhandenen Objekte, ja sogar den eigenen Leib (wie wir bald näher erörtern werden) nur als Vorstellung zu betrachten, bloße Vorstellung zu nennen. Das, wovon hierbei abstrahiert wird, ist, wie später hoffentlich Jedem gewiss sein wird, immer nur der Wille, als welcher allein die andere Seite der Welt ausmacht: denn diese ist, wie einerseits durch und durch Vorstellung, so andererseits durch und durch Wille. Eine Realität aber, die keines von diesen Beiden wäre, sondern ein Objekt an sich (zu welcher auch Kants Ding an sich ihm leider unter den Händen ausgeartet ist), ist ein erträumtes Unding und dessen Annahme ein Irrlicht in der Philosophie.
§ 2
Dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird, ist das Subjekt. Es ist sonach der Träger der Welt, die durchgängige, stets vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinenden, alles Objekts: denn nur für das Subjekt ist, was nur immer da ist. Als dieses Subjekt findet Jeder sich selbst, jedoch nur sofern er erkennt, nicht sofern er Objekt der Erkenntnis ist. Objekt ist aber schon sein Leib, welchen selbst wir daher, von diesem Standpunkt aus, Vorstellung nennen. Denn der Leib ist Objekt unter Objekten und den Gesetzen der Objekte unterworfen, obwohl er unmittelbares Objekt ist6. Er liegt, wie alle Objekte der Anschauung, in den Formen alles Erkennens, in Zeit und Raum, durch welche die Vielheit ist. Das Subjekt aber, das Erkennende, nie Erkannte, liegt auch nicht in diesen Formen, von denen selbst es vielmehr immer schon vorausgesetzt wird: ihm kommt also weder Vielheit, noch deren Gegensatz, Einheit, zu. Wir erkennen es nimmer, sondern es eben ist es, das erkennt, wo nur erkannt wird.
Die Welt als Vorstellung also, in welcher Hinsicht allein wir sie hier betrachten, hat zwei wesentliche, notwendige und untrennbare Hälften. Die eine ist das Objekt: dessen Form ist Raum und Zeit, durch diese die Vielheit. Die andere Hälfte aber, das Subjekt, liegt nicht in Raum und Zeit: denn sie ist ganz und ungeteilt in jedem vorstellenden Wesen; daher ein einziges von diesen, ebenso vollständig, als die vorhandenen Millionen, mit dem Objekt die Welt als Vorstellung ergänzt: verschwände aber auch jenes einzige; so wäre die Welt als Vorstellung nicht mehr. Diese Hälften sind daher unzertrennlich, selbst für den Gedanken: denn jede von beiden hat nur durch und für die andere Bedeutung und Dasein, ist mit ihr da und verschwindet mit ihr. Sie begrenzen sich unmittelbar: wo das Objekt anfängt, hört das Subjekt auf. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Grenze zeigt sich eben darin, dass die wesentlichen und daher allgemeinen Formen alles Objekts, welche Zeit, Raum und Kausalität sind, auch ohne die Erkenntnis des Objekts selbst, vom Subjekt ausgehend gefunden und vollständig erkannt werden können, d.h. in Kants Sprache, a priori in unserm Bewusstsein liegen. Dieses entdeckt zu haben, ist ein Hauptverdienst Kants und ein sehr großes. Ich behaupte nun überdies, dass der Satz vom Grunde der gemeinschaftliche Ausdruck für alle diese uns a priori bewussten Formen des Objekts ist, und dass daher Alles, was wir rein a priori wissen, nichts ist, als eben der Inhalt jenes Satzes und was aus diesem folgt, in ihm also eigentlich unsere ganze a priori gewisse Erkenntnis ausgesprochen ist. In meiner Abhandlung über den Satz vom Grunde habe Ich ausführlich gezeigt, wie jedes irgend mögliche Objekt demselben unterworfen ist, d.h. in einer notwendigen Beziehung zu andern Objekten steht, einerseits als bestimmt, andererseits als bestimmend: dies geht so weit, dass das ganze Dasein aller Objekte, sofern sie Objekte, Vorstellungen und nichts anderes sind, ganz und gar zurückläuft auf jene ihre notwendige Beziehung zu einander, nur in solcher besteht, also gänzlich relativ ist: wovon bald ein Mehreres. Ich habe ferner gezeigt, dass, gemäß den Klassen, in welche die Objekte ihrer Möglichkeit nach zerfallen, jene notwendige Beziehung, welche der Satz vom Grunde im Allgemeinen ausdrückt, in anderen Gestalten erscheint; wodurch wiederum die richtige Einheilung jener Klassen sich bewährt. Ich setze hier beständig alles dort Gesagte als bekannt und dem Leser gegenwärtig voraus: denn es würde, wenn es nicht schon gesagt wäre, hier seine notwendige Stelle haben.
§ 3
Der Hauptunterschied zwischen allen unsere Vorstellungen ist der des Intuitiven und Abstrakten. Letzteres macht nur eine Klasse von Vorstellungen aus, die Begriffe: und diese sind auf der Erde allein das Eigentum des Menschen, dessen ihn von allen Tieren unterscheidende Fähigkeit zu denselben von jeher Vernunft genannt worden ist7. Wir werden weiterhin diese abstrakten Vorstellungen für sich betrachten, zuvörderst aber ausschließlich von der intuitiven Vorstellung reden. Diese nun befasst die ganze sichtbare Welt, oder die gesamte Erfahrung, nebst den Bedingungen der Möglichkeit derselben. Es ist, wie gesagt, eine sehr wichtige Entdeckung Kants, dass eben diese Bedingungen, diese Formen derselben, d.h. das Allgemeinste in ihrer Wahrnehmung, das allen ihren Erscheinungen auf gleiche Weise Eigene, Zeit und Raum, auch für sich und abgesondert von ihrem Inhalt, nicht nur in abstracto gedacht, sondern auch unmittelbar angeschaut werden kann, und dass diese Anschauung nicht etwa ein durch Wiederholung von der Erfahrung entlehntes Phantasma ist, sondern so sehr unabhängig von der Erfahrung, dass vielmehr um gekehrt diese als von jener abhängig gedacht werden muss, indem die Eigenschaften des Raumes und der Zeit, wie sie die Anschauung a priori erkennt, für alle mögliche Erfahrung als Gesetze gelten, welchen gemäß diese überall ausfallen muss. Dieserhalb habe ich, in meiner Abhandlung über den Satz vom Grunde, Zeit und Raum, sofern sie rein und inhaltsleer angeschaut werden, als eine besondere und für sich bestehende Klasse von Vorstellungen betrachtet. So wichtig nun auch diese von Kant entdeckte Beschaffenheit jener allgemeinen Formen der Anschauung ist, dass sie nämlich für sich und unabhängig von der Erfahrung anschaulich und ihrer ganzen Gesetzmäßigkeit nach erkennbar sind, worauf die Mathematik mit ihrer Unfehlbarkeit beruht; so ist es doch eine nichtminder beachtenswerte Eigenschaft derselben, dass der Satz vom Grunde, der die Erfahrung als Gesetz der Kausalität und Motivation, und das Denken als Gesetz der Begründung der Urteile bestimmt, hier in einer ganz eigentümlichen Gestalt auftritt, der ich den Namen Grund des Seins gegeben habe, und welche in der Zeit die Folge ihrer Momente, und im Raum die Lage seiner sich ins Unendliche wechselseitig bestimmenden Theile ist.
Wem aus der einleitenden Abhandlung die vollkommene Identität des Inhalts des Satzes vom Grunde, bei aller Verschiedenheit seiner Gestalten, deutlich geworden ist, der wird auch überzeugt sein, wie wichtig zur Einsicht in sein Innerstes Wesen gerade die Erkenntnis der einfachsten seiner Gestaltungen, als solcher, ist, und für diese haben wir die Zeit erkannt. Wie in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst wieder ebenso schnell vertilgt zu werden; wie Vergangenheit und Zukunft (abgesehen von den Folgen ihres Inhalts) so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen Beiden ist; ebenso werden wir die selbe Nichtigkeit auch in allen andern Gestalten des Satzes vom Grunde wiedererkennen und einsehen, dass wie die Zeit, so auch der Raum, und wie dieser, so auch Alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, Alles also, was aus Ursachen oder Motiven hervorgeht, nur ein relatives Dasein hat, nur durch und für ein anderes, ihm gleichartiges, d.h. wieder nur ebenso bestehendes, ist. Das Wesentliche dieser Ansicht ist alt: Herakleitos bejammerte in ihr den ewigen Fluss der Dinge: Plato würdigte ihren Gegenstand herab, als das immerdar Werdende, aber nie Seiende; Spinoza nannte es bloße Akzidenzien der allein seienden und bleibenden einzigen Substanz; Kant setzte das so Erkannte als bloße Erscheinung dem Dinge an sich entgegen; endlich die uralte Weisheit der Inder spricht: »Es ist die Maja, der Schleier des Truges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehn lässt, von der man weder sagen kann, dass sie sei, noch auch, dass sie nicht sei: denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser hält, oder auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine Schlange ansieht.« (Diese Gleichnisse finden sich in unzähligen Stellen der Veden und Puranas wiederholt.) Was Alle diese aber meinten und wovon sie reden, ist nichts anderes, als was auch wir jetzt eben betrachten: die Welt als Vorstellung, unterworfen dem Satze des Grundes.
§ 4
Zeit aber und Raum, jedes für sich, sind auch ohne die Materie anschaulich vorstellbar; die Materie aber nicht ohne jene. Schon die Form, welche von ihr unzertrennlich ist, setzt den Raum voraus, und ihr Wirken, in welchem ihr ganzes Dasein besteht, betrifft immer eine Veränderung, also eine Bestimmung der Zeit. Aber Zeit und Raum werden nicht bloß jedes für sich von der Materie vorausgesetzt; sondern eine Vereinigung Beider macht ihr Wesen aus, eben weil dieses, wie gezeigt, im Wirken, in der Kausalität, besteht. Alle gedenkbaren, unzähligen Erscheinungen und Zustände nämlich könnten im unendlichen Raum, ohne sich zu beengen, neben einander liegen, oder auch in der unendlichen Zeit, ohne sich zu stören, auf einander folgen; daher dann eine notwendige Beziehung derselben auf einander und eine Regel, welche sie dieser gemäß bestimmte, keineswegs nötig, ja nicht einmal anwendbar wäre: folglich gäbe es alsdann, bei allem Nebeneinander im Raum und allem Wechsel in der Zeit, so lange jede dieser beiden Formen für sich, und ohne Zusammenhang mit der andern ihren Bestand und Lauf hätte, noch gar keine Kausalität, und da diese das eigentliche Wesen der Materie ausmacht, auch keine Materie. – Nun aber erhält das Gesetz der Kausalität seine Bedeutung und Notwendigkeit allein dadurch, dass das Wesen der Veränderung nicht im bloßen Wechsel der Zustände an sich, sondern vielmehr darin besteht, dass an dem selben Ort im Raum jetzt ein Zustand ist und darauf ein anderer, und zu einer und derselben bestimmten Zeit hier dieser Zustand und dort jener: nur diese gegenseitige Beschränkung der Zeit und des Raums durch einander gibt einer Regel, nach der die Veränderung vorgehen muss, Bedeutung und zugleich Notwendigkeit. Was durch das Gesetz der Kausalität bestimmt wird, ist also nicht die Sukzession der Zustände in der bloßen Zeit, sondern diese Sukzession in Hinsicht auf einen bestimmten Raum, und nicht das Dasein der Zustände an einem bestimmten Ort, sondern an diesem Ort zu einer bestimmten Zeit. Die Veränderung, d. h, der nach dem Kausalgesetz eintretende Wechsel, betrifft also jedes Mal einen bestimmten Theil des Raumes und einen bestimmten Theil der Zeit zugleich und im Verein. Demzufolge vereinigt die Kausalität den Raum mit der Zeit. Wir haben aber gefunden, dass im Wirken, also in der Kausalität, das ganze Wesen der Materie besteht: folglich müssen auch in dieser Raum und Zeit vereinigt sein, d.h. sie muss die Eigenschaften der Zeit und die des Raumes, so sehr sich Beide widerstreiten, zugleich an sich tragen, und was in jedem von jenen Beiden für sich unmöglich ist, muss sie in sich vereinigen, also die bestandlose Flucht der Zeit mit dem starren unveränderlichen Beharren des Raumes, die unendliche Teilbarkeit hat sie von Beiden. Diesem gemäß finden wir durch sie zuvörderst das Zugleichsein herbeigeführt, welches weder in der bloßen Zeit, die kein Nebeneinander, noch im bloßen Raum, der kein Vor, Nach oder Jetzt kennt, sein konnte. Das Zugleichsein vieler Zustände aber macht eigentlich das Wesen der Wirklichkeit aus: denn durch dasselbe wird allererst die Dauer möglich, indem nämlich diese nur erkennbar ist an dem Wechsel des mit dem Dauernden zugleich Vorhandenen; aber auch nur mittelst des Dauernden im Wechsel erhält dieser jetzt den Charakter der Veränderung, d.h. des Wandels der Qualität und Form, beim Beharren der Substanz, d.i. der Materie9. Im bloßen Raum wäre die Welt starr und unbeweglich: kein Nacheinander, keine Veränderung, kein Wirken: eben mit dem Wirken ist aber auch die Vorstellung der Materie aufgehoben. In der bloßen Zeit wiederum wäre alles flüchtig: kein Beharren, kein Nebeneinander und daher kein Zugleich, folglich keine Dauer: also wieder auch keine Materie. Erst durch die Vereinigung von Zeit und Raum erwächst die Materie, d.i. die Möglichkeit des Zugleichseins und dadurch der Dauer, durch diese wieder des Beharrens der Substanz, bei der Veränderung der Zustände10. Im Verein von Zeit und Raum ihr Wesen habend, trägt die Materie durchweg das Gepräge von Beiden. Sie beurkundet ihren Ursprung aus dem Raum, teils durch die Form, die von ihr unzertrennlich ist, besonders aber (weil der Wechsel allein der Zeit angehört, in dieser allein und für sich aber nichts Bleibendes ist) durch ihr Beharren (Substanz), dessen Gewissheit a priori daher ganz und gar von der des Raumes abzuleiten ist11: ihren Ursprung aus der Zeit aber offenbart sie an der Qualität (Akzidenz), ohne die sie nie erscheint, und welche schlechthin immer Kausalität, Wirken auf andere Materie, also Veränderung (ein Zeitbegriff) ist. Die Gesetzmäßigkeit dieses Wirkens aber bezieht sich immer auf Raum und Zeit zugleich und hat eben nur dadurch Bedeutung. Was für ein Zustand zu dieser Zeit an diesem Ort eintreten muss, ist die Bestimmung, auf welche ganz allein die Gesetzgebung der Kausalität sich erstreckt. Auf dieser Ableitung der Grundbestimmungen der Materie aus den uns a priori bewussten Formen unserer Erkenntnis beruht es, dass wir ihr gewisse Eigenschaften a priori zuerkennen, nämlich Raumerfüllung, d.i. Undurchdringlichkeit, d.i. Wirksamkeit, sodann Ausdehnung, unendliche Teilbarkeit, Beharrlichkeit, d.h. Unzerstörbarkeit, und endlich Beweglichkeit: hingegen ist die Schwere, ihrer Ausnahmslosigkeit ungeachtet, doch wohl der Erkenntnis a posteriori beizuzählen, obgleich Kant in den »Metaphys. Anfangsgr. d. Naturwiss.«, S. 71 (Rosenkranz. Ausg., S. 372) sie als a priori erkennbar aufstellt.
Wie aber das Objekt überhaupt nur für das Subjekt da ist, als dessen Vorstellung; so ist jede besondere Klasse von Vorstellungen nur für eine ebenso besondere Bestimmung im Subjekt da, die man ein Erkenntnisvermögen nennt. Das subjektive Korrelat von Zeit und Raum für sich, als leere Formen, hat Kant reine Sinnlichkeit genannt, welcher Ausdruck, weil Kant hier die Bahn brach, beibehalten werden mag; obgleich er nicht recht passt, da Sinnlichkeit schon Materie voraussetzt. Das subjektive Korrelat der Materie oder der Kausalität, denn Beide sind Eines, ist der Verstand, und er ist nichts außerdem. Kausalität erkennen ist seine einzige Funktion, seine alleinige Kraft, und es ist eine große, Vieles umfassende, von mannigfaltiger Anwendung, doch unverkennbarer Identität aller ihrer Äußerungen. Umgekehrt ist alle Kausalität, also alle Materie, mithin die ganze Wirklichkeit, nur für den Verstand, durch den Verstand, im Verstande. Die erste, einfachste, stets vorhandene Äußerung des Verstandes ist die Anschauung der wirklichen Welt: diese ist durchaus Erkenntnis der Ursache aus der Wirkung: daher ist alle Anschauung intellektuell. Es könnte dennoch nie zu ihr kommen, wenn nicht irgendeine Wirkung unmittelbar erkannt würde und dadurch zum Ausgangspunkte diente. Dieses aber ist die Wirkung auf die tierischen Leiber. Insofern sind diese die unmittelbaren Objekte des Subjekts: die Anschauung aller andern Objekte ist durch sie vermittelt. Die Veränderungen, welche jeder tierische Leib erfährt, werden unmittelbar erkannt, d.h. empfunden, und indem sogleich diese Wirkung auf ihre Ursache bezogen wird, entsteht die Anschauung der letzteren als eines Objekts. Diese Beziehung ist kein Schluss in abstrakten Begriffen, geschieht nicht durch Reflexion, nicht mit Willkür, sondern unmittelbar, notwendig und sicher. Sie ist die Erkenntnisweise des reinen Verstandes, ohne welchen es nie zur Anschauung käme; sondern nur ein dumpfes, pflanzenartiges Bewusstsein der Veränderungen des unmittelbaren Objekts übrigbliebe, die völlig bedeutungslos auf einander folgten, wenn sie nicht etwa als Schmerz oder Wollust eine Bedeutung für den Willen hätten. Aber wie mit dem Eintritt der Sonne die sichtbare Welt dasteht; so verwandelt der Verstand mit einem Schlage, durch seine einzige, einfache Funktion, die dumpfe, nichtssagende Empfindung in Anschauung. Was das Auge, das Ohr, die Hand empfindet, ist nicht die Anschauung: es sind bloße Data. Erst indem der Verstand von der Wirkung auf die Ursache übergeht, steht die Welt da, als Anschauung im Raume ausgebreitet, der Gestalt nach wechselnd, der Materie nach durch alle Zeit beharrend: denn er vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung Materie, d.i. Wirksamkeit. Diese Welt als Vorstellung ist, wie nur durch den Verstand, auch nur für den Verstand da. Im ersten Kapitel meiner Abhandlung »Über das Sehn und die Farben« habe ich bereits auseinandergesetzt, wie aus den Datis, welche die Sinne liefern, der Verstand die Anschauung schafft, wie durch Vergleichung der Eindrücke, welche vom nämlichen Objekt die verschiedenen Sinne erhalten, das Kind die Anschauung erlernt, wie eben nur dieses den Aufschluss über so viele Sinnenphänomene gibt, über das einfache Sehn mit zwei Augen, über das Doppeltsehn beim Schielen, oder bei ungleicher Entfernung hinter einander stehender Gegenstände, die man zugleich ins Auge fasst, und über allen Schein, welcher durch eine plötzliche Veränderung an den Sinneswerkzeugen hervorgebracht wird. Viel ausführlicher und gründlicher jedoch habe ich diesen wichtigen Gegenstand behandelt in der zweiten Auflage der Abhandlung über den Satz vom Grunde, § 21. Alles daselbst Gesagte hätte hier seine notwendige Stelle, müsste also eigentlich hier nochmals gesagt werden: da Ich Indessen fast so viel Widerwillen habe, mich selbst, als Andere abzuschreiben, auch nicht im Stande bin, es besser, als dort geschehen, darzustellen; so verweise ich darauf, statt es hier zu wiederholen, setze es nun aber auch als bekannt voraus.
Das Sehenlernen der Kinder und operierter Blindgebornen, das einfache Sehn des doppelt, mit zwei Augen, Empfundenen, das Doppeltsehn und Doppelttasten bei der Verrückung der Sinneswerkzeuge aus ihrer gewöhnlichen Lage, die aufrechte Erscheinung der Gegenstände, während ihr Bild im Auge verkehrt steht, das Übertragen der Farbe, welche bloß eine innere Funktion, eine polarische Teilung der Tätigkeit des Auges ist, auf die äußern Gegenstände, und endlich auch das Stereoskop – dies Alles sind feste und unwiderlegliche Beweise davon, dass alle Anschauung nicht bloß sensual, sondern intellektuell, d.h. reine Verstandeserkenntnis der Ursache aus der Wirkung ist, folglich das Gesetz der Kausalität voraussetzt, von dessen Erkenntnis alle Anschauung, mithin alle Erfahrung, ihrer ersten und ganzen Möglichkeit nach, abhängt, nicht umgekehrt die Erkenntnis des Kausalgesetzes von der Erfahrung, welches letztere der Humische Skeptizismus war, der erst hierdurch widerlegt ist. Denn die Unabhängigkeit der Erkenntnis der Kausalität von aller Erfahrung, d.h. ihre Apriorität, kann allein dargetan werden aus der Abhängigkeit aller Erfahrung von ihr: und dieses wieder kann allein geschehen, indem man auf die hier angegebene und an den soeben bezeichneten Stellen ausgeführte Art nachweist, dass die Erkenntnis der Kausalität in der Anschauung überhaupt, in deren Gebiet alle Erfahrung liegt, schon enthalten ist, also völlig a priori in Hinsicht auf die Erfahrung besteht, von ihr als Bedingung vorausgesetzt wird, nicht sie voraussetzt: nicht aber kann dasselbe dargetan werden auf die von Kant versuchte und von mir in der Abhandlung über den Satz vom Grunde § 23 kritisierte Weise.
§ 5
Man hüte sich aber vor dem großen Missverständnisse, dass, weil die Anschauung durch die Erkenntnis der Kausalität vermittelt ist, deswegen zwischen Objekt und Subjekt das Verhältnis von Ursache und Wirkung bestehe; da vielmehr dasselbe immer nur zwischen unmittelbarem und vermitteltem Objekt, also immer nur zwischen Objekten stattfindet. Eben auf jener falschen Voraussetzung beruht der törichte Streit über die Realität der Außenwelt, in welchem sich Dogmatismus und Skeptizismus gegenüberstehen und jener bald als Realismus, bald als Idealismus auftritt. Der Realismus setzt das Objekt als Ursache, und deren Wirkung ins Subjekt. Der Fichte'sche Idealismus macht das Objekt zur Wirkung des Subjekts. Weil nun aber, was nicht genug eingeschärft werden kann, zwischen Subjekt und Objekt gar kein Verhältnis nach dem Satz vom Grunde stattfindet; so konnte auch weder die eine, noch die andere der beiden Behauptungen je bewiesen werden, und der Skeptizismus machte auf beide siegreiche Angriffe. – Wie nämlich das Gesetz der Kausalität schon, als Bedingung, der Anschauung und Erfahrung vorhergeht, daher nicht aus diesen (wie Hume meinte) gelernt sein kann; so gehen Objekt und Subjekt, schon als erste Bedingung, aller Erkenntnis, daher auch dem Satz vom Grunde überhaupt, vorher, da dieser nur die Form alles Objekts, die durchgängige Art und Weise seiner Erscheinung ist; das Objekt aber immer schon das Subjekt voraussetzt: zwischen Beiden also kann kein Verhältnis von Grund und Folge sein. Meine Abhandlung über den Satz vom Grunde soll eben dieses leisten, dass sie den Inhalt jenes Satzes als die wesentliche Form alles Objekts, d.h. als die allgemeine Art und Weise alles Objektseins darstellt, als etwas, das dem Objekt als solchem zukommt: als solches aber setzt das Objekt überall das Subjekt voraus, als sein notwendiges Korrelat: dieses bleibt also immer außerhalb des Gebietes der Gültigkeit des Satzes vom Grunde. Der Streit über die Realität der Außenwelt beruht eben auf jener falschen Ausdehnung der Gültigkeit des Satzes vom Grunde auch auf das Subjekt, und von diesem Mißverständnisse ausgehend konnte er sich selbst nie verstehen. Einerseits will der realistische Dogmatismus, die Vorstellung als Wirkung des Objekts betrachtend, diese Beiden, Vorstellung und Objekt, die eben Eines sind, trennen und eine von der Vorstellung ganz verschiedene Ursache annehmen, ein Objekt an sich, unabhängig vom Subjekt: etwas völlig Undenkbares: denn eben schon als Objekt setzt es immer wieder das Subjekt voraus und bleibt daher immer nur dessen Vorstellung. Ihm stellt der Skeptizismus, unter derselben falschen Voraussetzung, entgegen, dass man in der Vorstellung immer nur die Wirkung habe, nie die Ursache, also nie das Sein, immer nur das Wirken der Objekte kenne; dieses aber mit jenem vielleicht gar keine Ähnlichkeit haben möchte, ja wohl gar überhaupt ganz fälschlich angenommen würde, da das Gesetz der Kausalität erst aus der Erfahrung angenommen sei, deren Realität nun wieder darauf beruhen soll. – Hierauf nun gehört Beiden die Belehrung, erstlich, dass Objekt und Vorstellung dasselbe sind; dann, dass das Sein der anschaulichen Objekte eben ihr Wirken ist, dass eben in diesem des Dinges Wirklichkeit besteht, und die Forderung des Daseins des Objekts außer der Vorstellung des Subjekts und auch eines Seins des wirklichen Dinges verschieden von seinem Wirken, gar keinen Sinn hat und ein Widerspruch ist; dass daher die Erkenntnis der Wirkungsart eines angeschauten Objekts eben auch es selbst erschöpft, sofern es Objekt, d.h. Vorstellung ist, da außerdem für die Erkenntnis nichts an ihm übrig bleibt. Insofern ist also die angeschaute Welt in Raum und Zeit, welche sich als lauter Kausalität kundgibt, vollkommen real, und ist durchaus das, wofür sie sich gibt, und sie gibt sich ganz und ohne Rückhalt, als Vorstellung, zusammenhängend nach dem Gesetz der Kausalität. Dieses ist ihre empirische Realität. Andererseits aber ist alle Kausalität nur im Verstande und für den Verstand, jene ganze wirkliche, d.i. wirkende Welt ist also als solche immer durch den Verstand bedingt und ohne ihn nichts. Aber nicht nur dieserhalb, sondern schon, weil überhaupt kein Objekt ohne Subjekt sich ohne Widerspruch denken lässt, müssen wir dem Dogmatiker, der die Realität der Außenwelt als Ihre Unabhängigkeit vom Subjekt erklärt, eine solche Realität derselben schlechthin ableugnen. Die ganze Welt der Objekte ist und bleibt Vorstellung, und eben deswegen durchaus und in alle Ewigkeit durch das Subjekt bedingt: d.h. sie hat transzendentale Idealität. Sie ist aber dieser wegen nicht Lüge, noch Schein: sie gibt sich als das, was sie ist, als Vorstellung, und zwar als eine Reihe von Vorstellungen, deren gemeinschaftliches Band der Satz vom Grunde ist. Sie ist als solche dem gesunden Verstande, selbst ihrer Innersten Bedeutung nach, verständlich und redet eine ihm vollkommen deutliche Sprache. Bloß dem durch Vernünfteln verschrobenen Geist kann es einfallen, über ihre Realität zu streiten, welches allemal durch unrichtige Anwendung des Satzes vom Grunde geschieht, der zwar alle Vorstellungen, welcher Art sie auch seien, unter einander verbindet, keineswegs aber diese mit dem Subjekt, oder mit etwas, das weder Subjekt noch Objekt wäre, sondern bloß Grund des Objekts; ein Unbegriff, weil nur Objekte Grund sein können und zwar immer wieder von Objekten. – Wenn man dem Ursprung dieser Frage nach der Realität der Außenwelt noch genauer nachforscht, so findet man, dass außer jener falschen Anwendung des Satzes vom Grunde auf Das, was außer seinem Gebiete liegt, noch eine besondere Verwechselung seiner Gestalten hinzukommt, nämlich diejenige Gestalt, die er bloß in Hinsicht auf die Begriffe oder abstrakten Vorstellungen hat, wird auf die anschaulichen Vorstellungen, die realen Objekte, übertragen und ein Grund des Erkennens gefordert von Objekten, die keinen andern als einen Grund des Werdens haben können. Über die abstrakten Vorstellungen, die zu Urteilen verknüpften Begriffe, herrscht der Satz vom Grunde allerdings in der Art, dass jedes derselben seinen Wert, seine Gültigkeit, seine ganze Existenz, hier Wahrheit genannt, einzig und allein hat durch die Beziehung des Urteils auf etwas außer ihm, seinen Erkenntnisgrund, auf welchen also immer zurückgegangen werden muss. Über die realen Objekte hingegen, die anschaulichen Vorstellungen, herrscht der Satz vom Grunde nicht als Satz vom Grund des Erkennens, sondern des Werdens, als Gesetz der Kausalität: jedes derselben hat ihm dadurch, dass es geworden ist, d.h. als Wirkung aus einer Ursache hervorgegangen ist, schon seine Schuld abgetragen: die Forderung eines Erkenntnisgrundes hat hier also keine Gültigkeit und keinen Sinn; sondern gehört einer ganz andern Klasse von Objekten an. Daher auch erregt die anschauliche Welt, so lange man bei ihr stehen bleibt, im Betrachter weder Skrupel noch Zweifel: es gibt hier weder Irrtum noch Wahrheit; diese sind ins Gebiet des Abstrakten, der Reflexion gebannt. Hier aber liegt für Sinne und Verstand die Welt offen da, gibt sich mit naiver Wahrheit für Das, was sie ist, für anschauliche Vorstellung, welche gesetzmäßig am Bande der Kausalität sich entwickelt.
So wie wir die Frage nach der Realität der Außenwelt bis hierher betrachtet haben, war sie immer hervorgegangen aus einer bis zum Missverstehen ihrer selbst gehenden Verirrung der Vernunft, und insofern war die Frage nur durch Aufklärung ihres Inhalts zu beantworten. Sie musste, nach Erforschung des ganzen Wesens des Satzes vom Grunde, der Relation zwischen Objekt und Subjekt und der eigentlichen Beschaffenheit der sinnlichen Anschauung, sich selbst aufheben, weil ihr eben gar keine Bedeutung mehr blieb. Allein jene Frage hat noch einen andern, von dem bisher angegebenen, rein spekulativen, gänzlich verschiedenen Ursprung, einen eigentlich empirischen, obwohl sie auch so noch immer in spekulativer Absicht aufgeworfen wird, und sie hat in dieser Bedeutung einen viel verständlicheren Sinn, als in jener ersteren, nämlich folgenden: wir haben Träume; ist nicht etwa das ganze Leben ein Traum? – oder bestimmter: gibt es ein sicheres Kriterium zwischen Traum und Wirklichkeit? zwischen Phantasmen und realen Objekten? – Das Vorgeben der geringeren Lebhaftigkeit und Deutlichkeit der geträumten, als der wirklichen Anschauung, verdient gar keine Berücksichtigung; da noch Keiner diese beiden zum Vergleich neben einander gehalten hat; sondern man nur die Erinnerung des Traumes vergleichen konnte mit der gegenwärtigen Wirklichkeit. – Kant löst die Frage so: »Der Zusammenhang der Vorstellungen unter sich nach dem Gesetze der Kausalität unterscheidet das Leben vom Traum.« – Aber auch im Traume hängt alles Einzelne ebenfalls nach dem Satz vom Grunde in allen seinen Gestalten zusammen, und dieser Zusammenhang bricht bloß ab zwischen dem Leben und dem Traume und zwischen den einzelnen Träumen, Kants Antwort könnte daher nur noch so lauten: der lange Traum (das Leben) hat in sich durchgängigen Zusammenhang gemäß dem Satz vom Grunde, nicht aber mit den kurzen Träumen; obgleich jeder von diesen in sich den selben Zusammenhang hat: zwischen diesen und jenem also ist jene Brüche abgebrochen und daran unterscheidet man beide. – Jedoch eine Untersuchung, ob etwas geträumt oder geschehen sei, nach diesem Kriterium anzustellen, wäre sehr schwierig und oft unmöglich; da wir keineswegs im Stande sind, zwischen jeder erlebten Begebenheit und dem gegenwärtigen Augenblick den kausalen Zusammenhang Glied vor Glied zu verfolgen, deswegen aber doch nicht sie für geträumt erklären. Darum bedient man sich im wirklichen Leben, um Traum von Wirklichkeit zu unterscheiden, gemeiniglich nicht jener Art der Untersuchung. Das allein sichere Kriterium zur Unterscheidung des Traumes von der Wirklichkeit ist in der That kein anderes, als das ganz empirische des Erwachens, durch welches allerdings der Kausalzusammenhang zwischen den geträumten Begebenheiten und denen des wachen Lebens ausdrücklich und fühlbar abgebrochen wird. Einen vortrefflichen Beleg hiezu gibt die Bemerkung, welche Hobbes im Leviathan, Kap. 2, macht: nämlich dass wir Träume dann leicht auch hinterher für Wirklichkeit halten, wann wir, ohne es zu beabsichtigen, angekleidet geschlafen haben, vorzüglich aber, wann noch hinzukommt, dass irgend ein Unternehmen, oder Vorhaben, alle unsere Gedanken einnimmt und uns im Traum eben so wie im Wachen beschäftigt: in diesen Fällen wird nämlich das Erwachen fast so wenig als das Einschlafen bemerkt, Traum fließt mit Wirklichkeit zusammen und wird mit ihr vermengt. Dann bleibt freilich nur noch die Anwendung des Kantischen Kriteriums übrig: wenn nun aber nachher, wie es oft der Fall ist, der kausale Zusammenhang mit der Gegenwart, oder dessen Abwesenheit, schlechterdings nicht auszumitteln ist, so muss es auf immer unentschieden bleiben, ob ein Vorfall geträumt oder geschehen sei. – Hier tritt nun in der That die enge Verwandtschaft zwischen Leben und Traum sehr nahe an uns heran: auch wollen wir uns nicht schämen sie einzugestehn, nachdem sie von vielen großen Geistern anerkannt und ausgesprochen worden ist. Die Veden und Puranas wissen für die ganze Erkenntnis der wirklichen Welt, welche sie das Gewebe der Maja nennen, keinen bessern Vergleich und brauchen keinen häufiger, als den Traum. Plato sagt öfter, dass die Menschen nur im Traume leben, der Philosoph allein sich zu wachen bestrebe. Pindaros sagt (II. ê, 135): skias onar anthrôpos (umbrae somnium homo) und Sophokles:
Horô gar hêmas ouden ontas allo, plên
Eidôl', hosoiper zômen, ê kouphên skian.
Ajax 125.
(Nos enim, quicunque vivimus, nihil aliud esse comperio, quam simulacra et levem umbram.)
Neben welchem am würdigsten Shakespeare steht:
We are such stuff
As dreams are made of, and our little life
Is rounded with a sleep. –
Temp. A. 4. Sc 1.12
Endlich war Calderon von dieser Ansicht so tief ergriffen, dass er in einem gewissermaaßen metaphysischen Drama »Das Leben ein Traum« sie auszusprechen suchte.
Nach diesen vielen Dichterstellen möge es nun auch mir vergönnt sein, mich durch ein Gleichniß auszudrücken. Das Leben und die Träume sind Blätter eines und des nämlichen Buches. Das Lesen im Zusammenhang heißt wirkliches Leben. Wann aber die jedesmalige Lesestunde (der Tag) zu Ende und die Erholungszeit gekommen ist, so blättern wir oft noch müßig und schlagen, ohne Ordnung und Zusammenhang, bald hier, bald dort ein Blatt auf: oft ist es ein schon gelesenes, oft ein noch unbekanntes, aber immer aus dem selben Buch So ein einzeln gelesenes Blatt ist zwar außer Zusammenhang mit der folgerechten Durchlesung: doch steht es hierdurch nicht so gar sehr hinter dieser zurück, wenn man bedenkt, dass auch das Ganze der folgerechten Lektüre eben so aus dem Stegreife anhebt und endigt und sonach nur als ein größeres einzelnes Blatt anzusehn ist.
Obwohl also die einzelnen Träume vom wirklichen Leben dadurch geschieden sind, dass sie in den Zusammenhang der Erfahrung, welcher durch dasselbe stetig geht, nicht mit eingreifen, und das Erwachen diesen Unterschied bezeichnet; so gehört ja doch eben jener Zusammenhang der Erfahrung schon dem wirklichen Leben als seine Form an, und der Traum hat eben so auch einen Zusammenhang in sich dagegen aufzuweisen. Nimmt man nun den Standpunkt der Beurtheilung außerhalb Beider an, so findet sich in ihrem Wesen kein bestimmter Unterschied, und man ist genöthigt, den Dichtern zuzugeben, dass das Leben ein langer Traum sei.
Kehren wir nun von diesem ganz für sich bestehenden, empirischen Ursprung der Frage nach der Realität der Außenwelt zu ihrem spekulativen zurück, so haben wir zwar gefunden, dass dieser liege, erstlich in der falschen Anwendung des Satzes vom Grunde, nämlich auch zwischen Subjekt und Objekt, und sodann wieder in der Verwechselung seiner Gestalten, indem nämlich der Satz vom Grunde des Erkennens auf das Gebiet übertragen wurde, wo der Satz vom Grunde des Werdens gilt: allein dennoch hätte jene Frage schwerlich die Philosophen so anhaltend beschäftigen können, wenn sie ganz ohne allen wahren Gehalt wäre und nicht in ihrem Innersten doch irgend ein richtiger Gedanke und Sinn als ihr eigentlichster Ursprung läge, von welchem man demnach anzunehmen hätte, dass allererst, indem er in die Reflexion trat und seinen Ausdruck suchte, er in jene verkehrten, sich selbst nicht verstehenden Formen und Fragen eingegangen wäre. So ist es, meiner Meinung nach, allerdings; und als den reinen Ausdruck jenes Innersten Sinnes der Frage, welchen sie nicht zu treffen wußte, setze ich diesen: Was ist diese anschauliche Welt noch außerdem, dass sie meine Vorstellung ist? Ist sie, deren ich mir nur ein Mal und zwar als Vorstellung bewußt bin, eben wie mein eigener Leib, dessen ich mir doppelt bewußt bin, einerseits Vorstellung, andererseits Wille? – Die deutlichere Erklärung und die Bejahung dieser Frage wird der Inhalt des zweiten Buches sein, und die Folgesätze aus ihr werden den übrigen Theil dieser Schrift einnehmen.
§ 6
Inzwischen betrachten wir für jetzt, in diesem ersten Buch, Alles nur als Vorstellung, als Objekt für das Subjekt: und wie alle andern realen Objekte, sehn wir auch den eigenen Leib, von dem das Anschauen der Welt in Jedem ausgeht, bloß von der Seite der Erkennbarkeit an: und er ist uns sonach nur eine Vorstellung. Zwar widerstrebt das Bewusstsein eines Jeden, welches sich schon gegen das Erklären der andern Objekte für bloße Vorstellungen auflehnte, noch mehr, wenn der eigene Leib bloß eine Vorstellung sein soll; welches daher kommt, dass Jedem das Ding an sich, sofern es als sein eigener Leib erscheint, unmittelbar, sofern es in den andern Gegenständen der Anschauung sich objektivirt, ihm nur mittelbar bekannt ist. Allein der Gang unserer Untersuchung macht diese Abstraktion, diese einseitige Betrachtungsart, dies gewaltsame Trennen des wesentlich zusammen Bestehenden notwendig: daher muss jenes Widerstreben einstweilen unterdrückt und beruhigt werden durch die Erwartung, dass die folgenden Betrachtungen die Einseitigkeit der gegenwärtigen ergänzen werden, zur vollständigen Erkenntnis des Wesens der Welt.
Der Leib ist uns also hier unmittelbares Objekt, d.h. diejenige Vorstellung, welche den Ausgangspunkt der Erkenntnis des Subjekts macht, indem sie selbst, mit ihren unmittelbar erkannten Veränderungen, der Anwendung des Gesetzes der Kausalität vorhergeht und so zu dieser die ersten Data liefert. Alles Wesen der Materie besteht, wie gezeigt, in ihrem Wirken. Wirkung und Ursache gibt es aber nur für den Verstand, als welcher nichts weiter, als das subjektive Korrelat derselben ist. Aber der Verstand könnte nie zur Anwendung gelangen, wenn es nicht noch etwas Anderes gäbe, von welchem er ausgeht. Ein solches ist die bloß sinnliche Empfindung, das unmittelbare Bewusstsein der Veränderungen des Leibes, vermöge dessen dieser unmittelbares Objekt ist. Die Möglichkeit der Erkennbarkeit der anschaulichen Welt finden wir demnach in zwei Bedingungen: die erste ist, wenn wir sie objektiv ausdrücken, die Fähigkeit der Körper auf einander zu wirken, Veränderungen in einander hervorzubringen, ohne welche allgemeine Eigenschaft aller Körper auch mittelst der Sensibilität der tierischen doch keine Anschauung möglich würde; wollen wir aber diese nämliche erste Bedingung subjektiv ausdrücken, so sagen wir: der Verstand vor Allem macht die Anschauung möglich: denn nur aus ihm entspringt und für ihn auch nur gilt das Gesetz der Kausalität, die Möglichkeit von Wirkung und Ursache, und nur für Ihn und durch ihn ist daher die anschauliche Welt da. Die zweite Bedingung aber ist die Sensibilität thierischer Leiber, oder die Eigenschaft gewisser Körper, unmittelbar Objekte des Subjekts zu sein. Die bloßen Veränderungen, welche die Sinnesorgane durch die ihnen specifisch angemessene Einwirkung von außen erleiden, sind nun zwar schon Vorstellungen zu nennen, sofern solche Einwirkungen weder Schmerz noch Wollust erregen, d.h. keine unmittelbare Bedeutung für den Willen haben, und dennoch wahrgenommen werden, also nur für die Erkenntnis dasind: und insofern also sage ich, dass der Leib unmittelbar erkannt wird, unmittelbares Objekt ist; jedoch ist hier der Begriff Objekt nicht ein Mal im eigentlichsten Sinn zu nehmen: denn durch diese unmittelbare Erkenntnis des Leibes, welche der Anwendung des Verstandes vorhergeht und bloße sinnliche Empfindung ist, steht der Leib selbst nicht eigentlich als Objekt da, sondern erst die auf ihn einwirkenden Körper; weil jede Erkenntnis eines eigentlichen Objekts, d.h. einer im Raum anschaulichen Vorstellung, nur durch und für den Verstand ist, also nicht vor, sondern erst nach dessen Anwendung. Daher wird der Leib als eigentliches Objekt, d.h. als anschauliche Vorstellung im Raum, eben wie alle andern Objekte, erst mittelbar, durch Anwendung des Gesetzes der Kausalität auf die Einwirkung eines seiner Theile auf den andern erkannt, also indem das Auge den Leib sieht, die Hand ihn betastet. Folglich wird durch das bloße Gemeingefühl die Gestalt des eigenen Leibes uns nicht bekannt; sondern nur durch die Erkenntnis, nur in der Vorstellung, d.h. nur im Gehirn, stellt auch der eigene Leib allererst sich dar als ein Ausgedehntes, Gegliedertes, Organisches: ein Blindgeborner erhält diese Vorstellung erst allmälig, durch die Data, welche das Getast ihm gibt; ein Blinder ohne Hände würde seine Gestalt nie kennen lernen, oder höchstens aus der Einwirkung anderer Körper auf ihn allmälig dieselbe erschließen und konstruiren. Mit dieser Restriktion also ist es zu verstehen, wenn wir den Leib unmittelbares Objekt nennen.
Uebrigens sind, dem Gesagten zufolge, alle tierischen Leiber unmittelbare Objekte, d.h. Ausgangspunkte der Anschauung der Welt, für das Alles erkennende und eben deshalb nie erkannte Subjekt. Das Erkennen, mit dem durch dasselbe bedingten Bewegen auf Motive, ist daher der eigentliche Charakter der Thierheit, wie die Bewegung auf Reize der Charakter der Pflanze: das Unorganisirte aber hat keine andere Bewegung, als die durch eigentliche Ursachen im engsten Verstande bewirkte; welches Alles ich ausführlicher erörtert habe in der Abhandlung über den Satz vom Grunde, 2. Aufl., § 20, in der Ethik, erste Abhandl., III, und »Über das Sehn und die Farben«, § 1; wohin ich also verweise.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass alle Thiere Verstand haben, selbst die unvollkommensten: denn sie alle erkennen Objekte, und diese Erkenntnis bestimmt als Motiv ihre Bewegungen. – Der Verstand ist in allen Tieren und allen Menschen der nämliche, hat überall die selbe einfache Form: Erkenntnis der Kausalität, Uebergang von Wirkung auf Ursache und von Ursache auf Wirkung, und nichts außerdem. Aber die Grade seiner Schärfe und die Ausdehnung seiner Erkenntnissphäre sind höchst verschieden, mannigfaltig und vielfach abgestuft, vom niedrigsten Grad, welcher nur das Kausalitätsverhältniß zwischen dem unmittelbaren Objekt und den mittelbaren erkennt, also eben hinreicht, durch den Uebergang von der Einwirkung, welche der Leib erleidet, auf deren Ursache, diese als Objekt im Raum anzuschauen, bis zu den höheren Graden der Erkenntnis des kausalen Zusammenhanges der bloß unmittelbaren Objekte unter einander, welche bis zum Verstehn der zusammengesetztesten Verkettungen von Ursachen und Wirkungen in der Natur geht. Denn auch dieses Letztere gehört immer noch dem Verstande an, nicht der Vernunft, deren abstrakte Begriffe nur dienen können, jenes unmittelbar Verstandene aufzunehmen, zu fixiren und zu verknüpfen, nie das Verstehn selbst hervorzubringen. Jede Naturkraft und Naturgesetz, jeder Fall, in welchem sie sich äußern, muss zuerst vom Verstande unmittelbar erkannt, intuitiv aufgefaßt werden, ehe er in abstracto für die Vernunft ins reflektierte Bewusstsein treten kann. Intuitive, unmittelbare Auffassung durch den Verstand war R. Hooke's Entdeckung des Gravitationsgesetzes und die Zurückführung so vieler und großer Erscheinungen auf dies eine Gesetz, wie sodann Neuton's Berechnungen solche bewährten; eben das war auch Lavoisier's Entdeckung des Sauerstoffs und seiner wichtigen Rolle in der Natur; eben das Goethes Entdeckung der Entstehungsart physischer Farben. Diese Entdeckungen alle sind nichts Anderes, als ein richtiges unmittelbares Zurückgehn von der Wirkung auf die Ursache, welchem alsbald die Erkenntnis der Identität der in allen Ursachen der selben Art sich äußernden Naturkraft folgt: und diese gesamte Einsicht ist eine bloß dem Grade nach verschiedene Äußerung der nämlichen und einzigenFunktion des Verstandes, durch welche auch ein Thier die Ursache, welche auf seinen Leib wirkt, als Objekt im Raum anschaut. Daher sind auch jene großen Entdeckungen alle, eben wie die Anschauung und jede Verstandesäußerung, eine unmittelbare Einsicht und als solche das Werk des Augenblicks, ein apperçu, ein Einfall, nicht das Produkt langer Schlußketten in abstracto; welche letztere hingegen dienen, die unmittelbare VerstandesErkenntnis für die Vernunft, durch Niederlegung in ihre abstrakten Begriffe, zu fixiren, d.h. sie deutlich zu machen, d.h. sich in den Stand zu setzen, sie Andern zu deuten, zu bedeuten. – Jene Schärfe des Verstandes im Auffassen der kausalen Beziehungen der mittelbar erkannten Objekte findet ihre Anwendung nicht allein in der Naturwissenschaft (deren sämmtliche Entdeckungen ihr zu verdanken sind); sondern auch im praktischen Leben, wo sie Klugheit heißt; da sie hingegen in der ersteren Anwendung besser Scharfsinn, Penetration und Sagacität genannt wird: genau genommen bezeichnet Klugheit ausschließlich den im Dienste des Willens stehenden Verstand. Jedoch sind die Gränzen dieser Begriffe nie scharf zu ziehn, da es immer eine und die selbe Funktion des nämlichen, schon bei der Anschauung der Objekte im Raum in jedem Thiere thätigen Verstandes ist, die, in ihrer größten Schärfe, bald in den Erscheinungen der Natur von der gegebenen Wirkung die unbekannte Ursache richtig erforscht und so der Vernunft den Stoff gibt zum Denken allgemeiner Regeln als Naturgesetze; bald, durch Anwendung bekannter Ursachen zu bezweckten Wirkungen, komplicirte sinnreiche Maschinen erfindet; bald, auf Motivation angewendet, entweder feine Intriguen und Machinationen durchschaut und vereitelt, oder aber auch selbst die Motive und die Menschen, welche für jedes derselben empfänglich sind, gehörig stellt, und sie eben nach Belieben, wie Maschinen durch Hebel und Räder, in Bewegung setzt und zu ihren Zwecken leitet. – Mangel an Verstand heißt im eigentlichen Sinne Dummheit und ist eben Stumpfheit in der Anwendung des Gesetzes der Kausalität, Unfähigkeit zur unmittelbaren Auffassung der Verkettungen von Ursache und Wirkung, Motiv und Handlung. Ein Dummer sieht nicht den Zusammenhang der Naturerscheinungen ein, weder wo sie sich selbst überlassen hervortreten, noch wo sie absichtlich gelenkt, d.h. zu Maschinen dienstbar gemacht sind: dieserhalb glaubt er gern an Zauberei und Wunder. Ein Dummer merkt nicht, dass verschiedene Personen, scheinbar unabhängig von einander, in der That aber in verabredetem Zusammenhange handeln: er lässt sich daher leicht mystificiren und intriguiren: er merkt nicht die verheimlichten Motive gegebener Rathschläge, ausgesprochener Urteile u.s.w. Immer aber mangelt ihm nur das Eine: Schärfe, Schnelligkeit, Leichtigkeit der Anwendung des Gesetzes der Kausalität, d.i. Kraft des Verstandes. – Das größte und in der zu betrachtenden Rücksicht lehrreiche Beispiel von Dummheit, das mir je vorgekommen, war ein völlig blödsinniger Knabe von etwa elf Jahren, im Irrenhause, der zwar Vernunft hatte, da er sprach und vernahm, aber an Verstand manchem Thiere nachstand: denn er betrachtete, so oft ich kam, ein Brillenglas, das ich am Halse trug und in welchem, durch die Spiegelung, die Fenster des Zimmers und Baumgipfel hinter diesen erschienen: darüber hatte er jedes Mal große Verwunderung und Freude, und wurde nicht müde, es mit Erstaunen anzusehn; weil er diese ganz unmittelbare Kausalität der Spiegelung nicht verstand.
Wie bei den Menschen die Grade der Schärfe des Verstandes sehr verschieden sind, so sind sie zwischen den verschiedenen Thiergattungen es wohl noch mehr. Bei allen, selbst denen, welche der Pflanze am nächsten stehen, ist doch so viel Verstand da, als zum Uebergang von der Wirkung im unmittelbaren Objekt zum vermittelten als Ursache, also zur Anschauung, zur Apprehension eines Objekts, hinreicht: denn diese eben macht sie zu Tieren, indem sie ihnen die Möglichkeit gibt einer Bewegung nach Motiven und dadurch des Aufsuchens, wenigstens Ergreifens der Nahrung; statt dass die Pflanzen nur Bewegung auf Reize haben, deren unmittelbare Einwirkung sie abwarten müssen, oder verschmachten, nicht ihnen nachgehn, oder sie ergreifen können. In den vollkommensten Tieren bewundern wir ihre große Sagacität: so beim Hunde, Elephanten, Affen, beim Fuchse, dessen Klugheit Büffon so meisterhaft geschildert hat. An diesen allerklügsten Tieren können wir ziemlich genau abmessen, wie viel der Verstand ohne Beihülfe der Vernunft, d.h. der abstrakten Erkenntnis in Begriffen, vermag: an uns selbst können wir Dieses nicht so erkennen, weil Verstand und Vernunft sich da immer wechselseitig unterstützen. Wir finden deshalb oft die Verstandesäußerungen der Thiere bald über, bald unter unserer Erwartung. Einerseits überrascht uns die Sagacität jenes Elephanten, der, nachdem er auf seiner Reise in Europa schon über viele Brücken gegangen war, sich einst weigert, eine zu betreten, über welche er doch wie sonst den übrigen Zug von Menschen und Pferden gehen sieht, weil sie ihm für sein Gewicht zu leicht gebaut scheint; andererseits wieder wundern wir uns, dass die klugen Orang-Utane das vorgefundene Feuer, an dem sie sich wärmen, nicht durch Nachlegen von Holz unterhalten: ein Beweis, dass dieses schon eine Ueberlegung erfordert, die ohne abstrakte Begriffe nicht zu Stande kommt. Dass die Erkenntnis von Ursache und Wirkung, als die allgemeine Verstandesform, auch sogar a priori den Tieren einwohne, ist zwar schon daraus völlig gewiss, dass sie ihnen, wie uns, die vorhergehende Bedingung aller anschaulichen Erkenntnis der Außenwelt ist: will man jedoch noch einen besonderen Beleg dazu, so betrachte man z.B. nur, wie selbst ein ganz junger Hund nicht wagt vom Tische zu springen, so sehr er es auch wünscht, weil er die Wirkung der Schwere seines Leibes vorhersieht, ohne übrigens diesen besonderen Fall schon aus Erfahrung zu kennen. Wir müssen indessen bei Beurtheilung des Verstandes der Thiere uns hüten, nicht ihm zuzuschreiben, was Äußerung des Instinkts ist, einer von ihm, wie auch von der Vernunft, gänzlich verschiedenen Eigenschaft, die aber oft der vereinigten Tätigkeit jener Beiden sehr analog wirkt. Die Erörterung desselben gehört jedoch nicht hierher, sondern wird bei Betrachtung der Harmonie oder sogenannten Teleologie der Natur im zweiten Buch ihre Stelle finden: und das 27. Kapitel der Ergänzungen ist ihr eigens gewidmet.
Mangel an Verstand hieß Dummheit; Mangel an Anwendung der Vernunft auf das Praktische werden wir später als Thorheit erkennen: so auch Mangel an Urtheilskraft als Einfalt; endlich stückweisen oder gar gänzlichen Mangel des Gedächtnisses als Wahnsinn. Doch von jedem an seinem Ort. – Das durch die Vernunft richtig Erkannte ist Wahrheit, nämlich ein abstraktes Unheil mit zureichendem Grunde (Abhandlung über den Satz vom Grunde, § 29 ff.): das durch den Verstand richtig Erkannte ist Realität, nämlich richtiger Uebergang von der Wirkung im unmittelbaren Objekt auf deren Ursache. Der Wahrheit steht der Irrtum als Trug der Vernunft, der Realität der Schein als Trug des Verstandes gegenüber. Die ausführlichere Erörterung von allem Diesem ist im ersten Kapitel meiner Abhandlung über das Sehn und die Farben nachzulesen. – Schein tritt alsdann ein, wann eine und die selbe Wirkung durch zwei gänzlich verschiedene Ursachen herbeigeführt werden kann, deren eine sehr häufig, die andere selten wirkt: der Verstand, der kein Datum hat zu unterscheiden, welche Ursache hier wirkt, da die Wirkung ganz die selbe ist, setzt dann allemal die gewöhnliche Ursache voraus, und weil seine Tätigkeit nicht reflektiv und diskursiv ist, sondern direkt und unmittelbar, so steht solche falsche Ursache als angeschautes Objekt vor uns da, welches eben der falsche Schein ist. Wie auf diese Weise Doppeltsehn und Doppelttasten entstehn, wenn die Sinneswerkzeuge in eine ungewöhnliche Lage gebracht sind, habe ich am angeführten Orte gezeigt und eben damit einen unumstößlichen Beweis gegeben, dass die Anschauung nur durch den Verstand und für den Verstand dasteht. Beispiele von solchem Verstandestruge, oder Schein, sind ferner der ins Wasser getauchte Stab, welcher gebrochen erscheint; die Bilder sphärischer Spiegel, die bei konvexer Oberfläche etwas hinter derselben, bei konkaver weit vor derselben erscheinen: auch gehört hierher die scheinbar größere Ausdehnung des Mondes am Horizont als im Zenith, welche nicht optisch ist; da, wie das Mikrometer beweist, das Auge den Mond im Zenith sogar in einem etwas großem Sehewinkel auffaßt, als am Horizont; sondern der Verstand ist es, welcher als Ursache des schwachem Glanzes des Mondes und aller Sterne am Horizont eine größere Entfernung derselben annimmt, sie wie irdische Gegenstände nach der Luftperspektive schätzend, und daher den Mond am Horizont für sehr viel größer als im Zenith, auch zugleich das Himmelsgewölbe für ausgedehnter am Horizont, also für abgeplattet hält. Die selbe falsch angewandte Schätzung nach der Luftperspektive lässt uns sehr hohe Berge, deren uns allein sichtbarer Gipfel in reiner durchsichtiger Luft liegt, für näher als sie sind, zum Nachtheil ihrer Höhe, halten, z.B. den Montblanc von Salenche aus gesehn. – Und alle solche täuschende Scheine stehen in unmittelbarer Anschauung vor uns da, welche durch kein Räsonnement der Vernunft wegzubringen ist: ein solches kann bloß den Irrtum, d.h. ein Unheil ohne zureichenden Grund, verhüten, durch ein entgegengesetzes wahres, so z.B. in abstracto erkennen, dass nicht die größere Ferne, sondern die trüberen Dünste am Horizont Ursache des schwachem Glanzes von Mond und Sternen sind; aber der Schein bleibt in allen angeführten Fällen, jeder abstrakten Erkenntnis zum Trotz, unverrückbar stehen: denn der Verstand ist von der Vernunft, als einem beim Menschen allein hinzugekommenen Erkenntnisvermögen, völlig und scharf geschieden, und allerdings an sich auch im Menschen unvernünftig. Die Vernunft kann immer nur wissen: dem Verstand allein und frei von ihrem Einfluß bleibt das Anschauen.
§ 7
In Hinsicht auf unsere ganze bisherige Betrachtung ist noch Folgendes wohl zu bemerken. Wir sind in ihr weder vom Objekt noch vom Subjekt ausgegangen; sondern von der Vorstellung, welche jene Beiden schon enthält und voraussetzt; da das Zerfallen in Objekt und Subjekt Ihre erste, allgemeinste und wesentlichste Form ist. Diese Form als solche haben wir daher zuerst betrachtet, sodann (wiewohl hier der Hauptsache nach auf die einleitende Abhandlung verweisend) die andern ihr untergeordneten Formen, Zeit, Raum und Kausalität, welche allein dem Objekt zukommen; jedoch weil sie diesem als solchem wesentlich sind, dem Subjekt aber wieder als solchem das Objekt wesentlich ist, auch vom Subjekt ausgefunden, d.h. a priori erkannt werden können, und insofern als die gemeinschaftliche Grenze Beider anzusehn sind. Sie alle aber lassen sich zurückführen auf einen gemeinschaftlichen Ausdruck, den Satz vom Grunde, wie in der einleitenden Abhandlung ausführlich gezeigt ist.
Dies Verfahren unterscheidet nun unsere Betrachtungsart ganz und gar von allen je versuchten Philosophien, als welche alle entweder vom Objekt oder vom Subjekt ausgiengen, und demnach das eine aus dem andern zu erklären suchten, und zwar nach dem Satz vom Grunde, dessen Herrschaft wir hingegen das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt entziehen, ihr bloß das Objekt lassend. – Man könnte als nicht unter dem angegebenen Gegensatz begriffen die in unsern Tagen entstandene und allgemein bekannt gewordene Identitäts-Philosophie ansehn, sofern dieselbe weder Objekt noch Subjekt zum eigentlichen ersten Ausgangspunkte macht, sondern ein drittes, das durch Vernunft-Anschauung erkennbare Absolutum, welches weder Objekt noch Subjekt, sondern die Einerleiheit Beider ist. Obgleich ich, aus gänzlichem Mangel aller Vernunft-Anschauung, von der besagten ehrwürdigen Einerleiheit und dem Absolutum mitzureden, mich nicht unterfangen werde; so muss ich dennoch, indem ich bloß auf den Allen, auch uns Profanen, offenliegenden Protokollen der Vernunft-Anschauer fuße, bemerken, dass besagte Philosophie nicht von dem oben aufgestellten Gegensatze zweier Fehler auszunehmen ist; da sie trotz der nicht denkbaren, sondern bloß intellektuell anschaubaren, oder durch eigenes Versenken in sie zu erfahrenden Identität von Subjekt und Objekt, dennoch jene beiden entgegengesetzten Fehler nicht vermeidet; sondern vielmehr nur beide in sich vereinigt, indem sie selbst in zwei Disciplinen zerfällt, nämlich den transzendentalen Idealismus, der die Fichte'sche Ich-Lehre ist und folglich, nach dem Satz vom Grunde, das Objekt vom Subjekt hervorgebracht oder aus diesem herausgesponnen werden lässt, und zweitens die Naturphilosophie, welche eben so aus dem Objekt allmälig das Subjekt werden lässt, durch Anwendung einer Methode, welche Konstruktion genannt wird, von der mir sehr wenig, aber doch so viel klar ist, dass sie ein Fortschreiten gemäß dem Satze vom Grunde in mancherlei Gestalten ist. Auf die tiefe Weisheit selbst, welche jene Konstruktion enthält, thue ich Verzicht; da mir, dem die Vernunft-Anschauung völlig abgeht, alle jene sie voraussetzenden Vorträge ein Buch mit sieben Siegeln sein müssen; welches denn auch in solchem Grade der Fall ist, dass, es ist seltsam zu erzählen, bei jenen Lehren tiefer Weisheit mir immer ist, als hörte ich nichts als entsetzliche und noch obendrein höchst langweilige Windbeuteleien.
Die vom Objekt ausgehenden Systeme hatten zwar immer die ganze anschauliche Welt und ihre Ordnung zum Problem; doch ist das Objekt, welches sie zum Ausgangspunkte nehmen, nicht immer diese, oder deren Grundelement die Materie: vielmehr lässt sich, in Gemäßheit der in der einleitenden Abhandlung aufgestellten vier Klassen möglicher Objekte, eine Einheilung jener Systeme machen. So kann man sagen, dass von der ersten jener Klassen, oder der realen Welt, ausgegangen sind: Thales und die Jonier, Demokritos, Epikuros, Jordan Bruno und die französischen Materialisten. Von der zweiten, oder dem abstrakten Begriff: Spinoza (nämlich vom bloß abstrakten und allein in seiner Definition existierenden Begriff Substanz) und früher die Eleaten. Von der dritten Klasse, nämlich der Zeit, folglich den Zahlen: die Pythagoreer und die Chinesische Philosophie im Y-king. Endlich von der vierten Klasse, nämlich dem durch Erkenntnis motivirten Willensakt: die Scholastiker, welche eine Schöpfung aus Nichts, durch den Willensakt eines außerweltlichen, persönlichen Wesenslehren.
Am konsequentesten und am weitesten durchzuführen ist das objektive Verfahren, wenn es als eigentlicher Materialismus auftritt. Dieser setzt die Materie, und Zeit und Raum mit ihr, als schlechthin bestehend, und überspringt die Beziehung auf das Subjekt, in welcher dies Alles doch allein da ist. Er ergreift ferner das Gesetz der Kausalität zum Leitfaden, an dem er fortschreiten will, es nehmend als an sich bestehende Ordnung der Dinge, veritas aeterna; folglich den Verstand überspringend, in welchem und für welchen allein Kausalität ist. Nun sucht er den ersten, einfachsten Zustand der Materie zu finden, und dann aus ihm alle andern zu entwickeln, aufsteigend vom bloßen Mechanismus zum Chemismus, zur Polarität, Vegetation, Animalität, und gesetzt, dies gelänge, so wäre das letzte Glied der Kette die tierische Sensibilität, das Erkennen: welches folglich jetzt als eine bloße Modifikation der Materie, ein durch Kausalität herbeigeführter Zustand derselben, aufträte. Wären wir nun dem Materialismus, mit anschaulichen Vorstellungen, bis dahin gefolgt; so würden wir, auf seinem Gipfel mit ihm angelangt, eine plötzliche Anwandlung des unauslöschlichen Lachens der Olympier spüren, indem wir, wie aus einem Traum erwachend, mit einem Male inne würden, dass sein letztes, so mühsam herbeigeführtes Resultat, das Erkennen, schon beim allerersten Ausgangspunkt, der bloßen Materie, als unumgängliche Bedingung vorausgesetzt war, und wir mit ihm zwar die Materie zu denken uns eingebildet, in der That aber nichts Anderes als das die Materie vorstellende Subjekt, das sie sehende Auge, die sie fühlende Hand, den sie erkennenden Verstand gedacht hätten. So enthüllte sich unerwartet die enorme petitio principii: denn plötzlich zeigte sich das letzte Glied als den Anhaltspunkt, an welchem schon das erste hieng, die Kette als Kreis; und der Materialist gliche dem Freiherrn von Münchhausen, der, zu Pferde im Wasser schwimmend, mit den Beinen das Pferd, sich selbst aber an seinem nach Vorne übergeschlagenen Zopf in die Höhe zieht. Demnach besteht die Grundabsurdität des Materialismus darin, dass er vom Objektiven ausgeht, ein Objektives zum letzten Erklärungsgrunde nimmt, sei nun dieses die Materie, in abstracto, wie sie nur gedacht wird, oder die schon in die Form eingegangene, empirisch gegebene, also der Stoff, etwa die chemischen Grundstoffe, nebst ihren nächsten Verbindungen. Dergleichen nimmt er als an sich und absolut existirend, um daraus die organische Natur und zuletzt das erkennende Subjekt hervorgehn zu lassen und diese dadurch vollständig zu erklären; – während in Wahrheit alles Objektive, schon als solches, durch das erkennende Subjekt, mit den Formen seines Erkennens, auf mannigfaltige Weise bedingt ist und sie zur Voraussetzung hat, mithin ganz verschwindet, wenn man das Subjekt wegdenkt. Der Materialismus ist also der Versuch, das uns unmittelbar Gegebene aus dem mittelbar Gegebenen zu erklären. Alles Objektive, Ausgedehnte, Wirkende, also alles Materielle, welches der Materialismus für ein so solides Fundament seiner Erklärungen hält, dass eine Zurückführung darauf (zumal wenn sie zuletzt auf Stoß und Gegenstoß hinausliefe) nichts zu wünschen übrig lassen könne, – alles Dieses, sage ich, ist ein nur höchst mittelbar und bedingterweise Gegebenes, demnach nur relativ Vorhandenes: denn es ist durchgegangen durch die Maschinerie und Fabrikation des Gehirns und also eingegangen in deren Formen, Zeit, Raum und Kausalität, vermöge welcher allererst es sich darstellt als ausgedehnt im Raum und wirkend in der Zeit. Aus einem solchermaaßen Gegebenen will nun der Materialismus sogar das unmittelbar Gegebene, die Vorstellung (in der jenes Alles dasteht), und am Ende gar den Willen erklären, aus welchem vielmehr alle jene Grundkräfte, welche sich am Leitfaden der Ursachen und daher gesetzmäßig äußern, in Wahrheit zu erklären sind. – Der Behauptung, dass das Erkennen Modifikation der Materie ist, stellt sich also immer mit gleichem Recht die umgekehrte entgegen, dass alle Materie nur Modifikation des Erkennens des Subjekts, als Vorstellung desselben, ist. Dennoch ist im Grunde das Ziel und das Ideal aller Naturwissenschaft ein völlig durchgeführter Materialismus. Dass wir nun diesen hier als offenbar unmöglich erkennen, bestätigt eine andere Wahrheit, die aus unserer fernern Betrachtung sich ergeben wird, dass nämlich alle Wissenschaft im eigentlichen Sinne, worunter ich die systematische Erkenntnis am Leitfaden des Satzes vom Grunde verstehe, nie ein letztes Ziel erreichen, noch eine völlig genügende Erklärung geben kann; weil sie das Innerste Wesen der Welt nie trifft, nie über die Vorstellung hinaus kann, vielmehr im Grunde nichts weiter, als das Verhältnis einer Vorstellung zur andern kennen lehrt.
Jede Wissenschaft geht immer von zwei Haupt-Datis aus. Deren eines ist allemal der Satz vom Grunde, in irgend einer Gestalt, als Organen; das andere ihr besonderes Objekt, als Problem. So hat z.B. die Geometrie den Raum als Problem; den Grund des Seins in ihm als Organen: die Arithmetik hat die Zeit als Problem, und den Grund des Seins in ihr als Organen: die Logik hat die Verbindungen der Begriffe als solche zum Problem, den Grund des Erkennens zum Organen: die Geschichte hat die geschehenen Thaten der Menschen im Großen und in Masse zum Problem, das Gesetz der Motivation als Organen: die Naturwissenschaft nun hat die Materie als Problem und das Gesetz der Kausalität als Organen: ihr Ziel und Zweck demnach ist, am Leitfaden der Kausalität, alle möglichen Zustände der Materie auf einander und zuletzt auf einen zurückzuführen, und wieder aus einander und zuletzt aus einem abzuleiten. Zwei Zustände stehen sich daher in ihr als Extreme entgegen: der Zustand der Materie, wo sie am wenigsten, und der, wo sie am meisten unmittelbares Objekt des Subjekts ist: d.h. die todteste, roheste Materie, der erste Grundstoff, und dann der menschliche Organismus. Den ersten sucht die Naturwissenschaft als Chemie, den zweiten als Physiologie. Aber bis jetzt sind beide Extreme unerreicht, und bloß zwischen beiden ist Einiges gewonnen. Auch ist die Aussicht ziemlich hoffnungslos. Die Chemiker, unter der Voraussetzung, dass die qualitative Teilung der Materie nicht wie die quantitative ins Unendliche gehen wird, suchen die Zahl ihrer Grundstoffe, jetzt noch etwa 60, immer mehr zu verringern: und wären sie bis auf zwei gekommen, so würden sie diese auf einen zurückführen wollen. Denn das Gesetz der Homogeneität leitet auf die Voraussetzung eines ersten chemischen Zustandes der Materie, der allen andern, als welche nicht der Materie als solcher wesentlich, sondern nur zufällige Formen, Qualitäten, sind, vorhergegangen ist und allein der Materie als solcher zukommt. Andererseits ist nicht einzusehn, wie dieser, da noch kein zweiter, um auf ihn zu wirken, dawar, je eine chemische Veränderung erfahren konnte; wodurch hier im Chemischen die selbe Verlegenheit eintritt, auf welche im Mechanischen Epikuros stieß, als er anzugeben hatte, wie zuerst das eine Atom aus der ursprünglichen Richtung seiner Bewegung kam: ja, dieser sich ganz von selbst entwickelnde und weder zu vermeidende, noch aufzulösende Widerspruch könnte ganz eigentlich als eine chemische Antinomie aufgestellt werden: wie er sich hier an dem ersten der beiden gesuchten Extreme der Naturwissenschaft findet, so wird sich uns auch am zweiten ein ihm entsprechendes Gegenstück, zeigen. – Zur Erreichung dieses andern Extrems der Naturwissenschaft ist eben so wenig Hoffnung; da man immer mehr einsieht, dass nie ein Chemisches auf ein Mechanisches, noch ein Organisches auf ein Chemisches, oder Elektrisches, zurückgeführt werden kann. Die aber, welche heut zu Tage diesen alten Irrweg von Neuem einschlagen, werden ihn bald, wie alle ihre Vorgänger, still und beschämt zurückschleichen. Hievon wird im folgenden Buch ausführlicher die Rede sein. Die hier nur beiläufig erwähnten Schwierigkeiten stehen der Naturwissenschaft auf ihrem eigenen Gebiet entgegen. Als Philosophie genommen, wäre sie überdies Materialismus: dieser aber trägt, wie wir gesehn, schon bei seiner Geburt den Tod im Herzen; weil er das Subjekt und die Formen des Erkennens überspringt, welche doch bei der rohesten Materie, von der er anfangen möchte, schon eben so sehr, als beim Organismus, zu dem er gelangen will, vorausgesetzt sind. Denn »kein Objekt ohne Subjekt« ist der Satz, welcher auf immer allen Materialismus unmöglich macht. Sonnen und Planeten, ohne ein Auge, das sie sieht, und einen Verstand, der sie erkennt, lassen sich zwar mit Worten sagen; aber diese Worte sind für die Vorstellung ein Sideroxylon. Nun leitet aber dennoch andererseits das Gesetz der Kausalität und die ihm nachgehende Betrachtung und Forschung der Natur uns notwendig zu der sichern Annahme, dass, in der Zeit, jeder höher organisirte Zustand der Materie erst auf einen roheren gefolgt ist: dass nämlich Thiere früher als Menschen, Fische früher als Landthiere, Pflanzen auch früher als diese, das Unorganische vor allem Organischen dagewesen ist; dass folglich die ursprüngliche Masse eine lange Reihe von Veränderungen durchzugehn gehabt, bevor das erste Auge sich öffnen konnte. Und dennoch bleibt immer von diesem ersten Auge, das sich öffnete, und habe es einem Insekt angehört, das Dasein jener ganzen Welt abhängig, als von dem notwendig Vermittelnden der Erkenntnis, für die und in der sie allein ist und ohne die sie nicht ein Mal zu denken ist: denn sie ist schlechthin Vorstellung, und bedarf als solche des erkennenden Subjekts, als Trägers ihres Daseins: ja, jene lange Zeitreihe selbst, von unzähligen Veränderungen gefüllt, durch welche die Materie sich steigerte von Form zu Form, bis endlich das erste erkennende Thier ward, diese ganze Zeit selbst ist ja allein denkbar in der Identität eines Bewußtseins, dessen Folge von Vorstellungen, dessen Form des Erkennens sie ist und außer der sie durchaus alle Bedeutung verliert und gar nichts ist. So sehn wir einerseits notwendig das Dasein der ganzen Welt abhängig vom ersten erkennenden Wesen, ein so unvollkommenes dieses immer auch sein mag; andererseits eben so notwendig dieses erste erkennende Thier völlig abhängig von einer langen ihm vorhergegangenen Kette von Ursachen und Wirkungen, in die es selbst als ein kleines Glied eintritt. Diese zwei widersprechenden Ansichten, auf jede von welchen wir in der That mit gleicher Notwendigkeit geführt werden, könnte man allerdings wieder eine Antinomie in unserm Erkenntnisvermögen nennen und sie als Gegenstück der in jenem ersten Extrem der Naturwissenschaft gefundenen aufstellen; während die Kantische vierfache Antinomie in der, gegenwärtiger Schrift angehängten Kritik seiner Philosophie als eine grundlose Spiegelfechterei nachgewiesen werden wird. – Der sich uns hier zuletzt notwendig ergebende Widerspruch findet jedoch seine Auflösung darin, dass, in Kants Sprache zu reden, Zeit, Raum und Kausalität nicht dem Dinge an sich zukommen, sondern allein seiner Erscheinung, deren Form sie sind; welches in meiner Sprache so lautet, dass die objektive Welt, die Welt als Vorstellung, nicht die einzige, sondern nur die eine, gleichsam die äußere Seite der Welt ist, welche noch eine ganz und gar andere Seite hat, die ihr Innerstes Wesen, ihr Kern, das Ding an sich ist: und dieses werden wir im folgenden Buche betrachten, es benennend, nach der unmittelbarsten seiner Objektivationen, Wille. Die Welt als Vorstellung aber, welche allein wir hier betrachten, hebt allerdings erst an mit dem Aufschlagen des ersten Auges, ohne welches Medium der Erkenntnis sie nicht sein kann, also auch nicht vorher war. Aber ohne jenes Auge, d.h. außer der Erkenntnis, gab es auch kein Vorher, keine Zeit. Dennoch hat deswegen nicht die Zeit einen Anfang, sondern aller Anfang ist in ihr: da sie aber die allgemeinste Form der Erkennbarkeit ist, welcher sich alle Erscheinungen mittelst des Bandes der Kausalität einfügen, so steht mit dem ersten Erkennen auch sie (die Zeit) da, mit ihrer ganzen Unendlichkeit nach beiden Selten, und die Erscheinung, welche diese erste Gegenwart füllt, muss zugleich erkannt werden als ursächlich verknüpft und abhängig von einer Reihe von Erscheinungen, die sich unendlich in die Vergangenheit erstreckt, welche Vergangenheit selbst jedoch eben so wohl durch diese erste Gegenwart bedingt ist, als umgekehrt diese durch jene; so dass, wie die erste Gegenwart, so auch die Vergangenheit, aus der sie stammt, vom erkennenden Subjekt abhängig und ohne dasselbe nichts ist, jedoch die Notwendigkeit herbeiführt, dass diese erste Gegenwart nicht als die erste, d.h. als keine Vergangenheit zur Mutter habend und als Anfang der Zeit, sich darstellt; sondern als Folge der Vergangenheit, nach dem Grunde des Seins in der Zeit, und so auch die sie füllende Erscheinung als Wirkung früherer jene Vergangenheit füllender Zustände, nach dem Gesetz der Kausalität. – Wer mythologische Deuteleien liebt, mag als Bezeichnung des hier ausgedrückten Moments des Eintritts der dennoch anfangslosen Zeit die Geburt des Kronos (chronos), des jüngsten Titanen, ansehn, mit dem, da er seinen Vater entmannt, die rohen Erzeugnisse des Himmels und der Erde aufhören und jetzt das Götter-und Menschengeschlecht den Schauplatz einnimmt.
Diese Darstellung, auf welche wir gekommen sind, indem wir dem konsequentesten der vom Objekt ausgehenden philosophischen Systeme, dem Materialismus, nachgiengen, dient zugleich die untrennbare gegenseitige Abhängigkeit, bei nicht aufzuhebendem Gegensatz, zwischen Subjekt und Objekt anschaulich zu machen; welche Erkenntnis darauf leitet, das Innerste Wesen der Welt, das Ding an sich, nicht mehr in einem jener beiden Elemente der Vorstellung, sondern vielmehr in einem von der Vorstellung gänzlich Verschiedenen zu suchen, welches nicht mit einem solchen ursprünglichen, wesentlichen und dabei unauflöslichen Gegensatz behaftet ist.
Dem erörterten Ausgehn vom Objekt, um aus diesem das Subjekt entstehn zu lassen, steht das Ausgehn vom Subjekt entgegen, welches aus diesem das Objekt hervortreiben will. So häufig und allgemein aber in aller bisherigen Philosophie jenes Erstere gewesen ist; so findet sich dagegen vom Letzteren eigentlich nur ein einziges Beispiel, und zwar ein sehr neues, die Schein-Philosophie des J. G. Fichte, welcher daher in dieser Hinsicht bemerkt werden muss, so wenig ächten Werth und Innern Gehalt seine Lehre an sich auch hatte, ja, überhaupt nur eine Spiegelfechterei war, die jedoch mit der Miene des tiefsten Ernstes, gehaltenem Ton und lebhaftem Eifer vorgetragen und mit beredter Polemik schwachen Gegnern gegenüber vertheidigt, glänzen konnte und etwas zu sein schien. Aber der ächte Ernst, der, allen äußeren Einflüssen unzugänglich, sein Ziel, die Wahrheit, unverwandt im Auge behält, fehlte diesem, wie allen ähnlichen, sich in die Umstände schickenden Philosophen, gänzlich. Dem konnte freilich nicht anders sein. Der Philosoph nämlich wird es immer durch eine Perplexität, welcher er sich zu entwinden sucht, und welche des Plato's thaumazein, das er ein mala philosophikon nennt, ist. Aber hier scheidet die unächten Philosophen von den ächten dieses, dass letzteren aus dem Anblick der Welt selbst jene Perplexität erwächst, jenen ersteren hingegen nur aus einem Buche, einem vorliegenden Systeme: dieses war denn auch Fichtes Fall, da er bloß über Kants Ding an sich zum Philosophen geworden ist und ohne dasselbe höchst wahrscheinlich ganz andere Dinge mit viel besserem Erfolg getrieben hätte, da er bedeutendes rhetorisches Talent besaß. Wäre er jedoch in den Sinn des Buches, das ihn zum Philosophen gemacht hat, die Kritik der reinen Vernunft, nur irgend tief gedrungen; so würde er verstanden haben, dass ihre Hauptlehre, dem Geiste nach, diese ist: dass der Satz vom Grunde nicht, wie alle scholastische Philosophie will, eine veritas aeterna ist, d.h. nicht eine unbedingte Gültigkeit vor, außer und über aller Welt habe; sondern nur eine relative und bedingte, allein in der Erscheinung geltende, er mag als nothwendiger Nexus des Raumes oder der Zeit, oder als Kausalitäts-, oder als Erkenntnisgrundes-Gesetz auftreten; dass daher das innere Wesen der Welt, das Ding an sich, nimmer an seinem Leitfaden gefunden werden kann; sondern alles, wozu dieser führt, immer selbst wieder abhängig und relativ, immer nur Erscheinung, nicht Ding an sich ist; dass er ferner gar nicht das Subjekt trifft, sondern nur Form der Objekte ist, die eben deshalb nicht Dinge an sich sind, und dass mit dem Objekt schon sofort das Subjekt und mit diesem jenes da ist; also weder das Objekt zum Subjekt, noch dieses zu jenem erst als Folge zu seinem Grunde hinzukommen kann. Aber von allem Diesem hat nicht das Mindeste an Fichte gehaftet: ihm war das allein Interessante bei der Sache das Ausgehn vom Subjekt, welches Kant gewählt hatte, um das bisherige Ausgehn vom Objekt, welches dadurch zum Ding an sich geworden, als falsch zu zeigen. Fichte aber nahm dies Ausgehn vom Subjekt für Das, worauf es ankomme, vermeinte, nach Weise aller Nachahmer, dass wenn er Kamen darin noch überböte, er ihn auch überträfe, und wiederholte nun in dieser Richtung die Fehler, welche der bisherige Dogmatismus in der entgegengesetzten begangen und eben dadurch Kants Kritik veranlaßt hatte; so dass in der Hauptsache nichts geändert war und der alte Grundfehler, die Annahme eines Verhältnisses von Grund und Folge zwischen Objekt und Subjekt, nach wie vor blieb, der Satz vom Grunde daher, eben wie zuvor, eine unbedingte Gültigkeit behielt und das Ding an sich, statt wie sonst ins Objekt, jetzt in das Subjekt des Erkennens verlegt war, die gänzliche Relativität dieser Beiden aber, welche anzeigt, dass das Ding an sich, oder innere Wesen der Welt, nicht in ihnen, sondern außer diesem, wie außer jedem andern nur beziehungsweise Existirenden zu suchen sei, nach wie vor unerkannt blieb. Gleich als ob Kant gar nicht dagewesen wäre, ist der Satz vom Grunde bei Fichte noch eben Das, was er bei allen Scholastikern war, eine aeterna veritas. Nämlich gleich wie über die Götter der Alten noch das ewige Schicksal herrschte, so herrschten über den Gott der Scholastiker noch jene aeternae veritates, d.h. die metaphysischen, mathematischen und metalogischen Wahrheiten, bei Einigen auch die Gültigkeit des Moralgesetzes. Diese veritates allein hiengen von nichts ab: durch ihre Notwendigkeit aber war sowohl Gott als Welt. Dem Satz vom Grund, als einer solchen veritas aeterna, zufolge ist also bei Fichte das Ich Grund der Welt oder des Nicht-Ichs, des Objekts, welches eben seine Folge, sein Machwerk ist. Den Satz vom Grund weiter zu prüfen oder zu kontroliren, hat er sich daher wohlge hütet. Sollte ich aber die Gestalt jenes Satzes angeben, an deren Leitfaden Fichte das Nicht-Ich aus dem Ich hervorgehn lässt, wie aus der Spinne ihr Gewebe; so finde ich, dass es der Satz vom Grunde des Seins im Raum ist: denn nur auf diesen bezogen erhalten jene quaalvollen Deduktionen der Art und Weise wie das Ich das Nicht-Ich aus sich producirt und fabricirt, welche den Inhalt des sinnlosesten und bloß dadurch langweiligsten Buchs, das je geschrieben, ausmachen, doch eine Art von Sinn und Bedeutung. – Diese Fichte'sche Philosophie, sonst nicht ein Mal der Erwähnung werth, ist uns also nur interessant als der spät erschienene eigentliche Gegensatz des uralten Materialismus, welcher das konsequenteste Ausgehn vom Objekt war, wie jene das vom Subjekt. Wie der Materialismus übersah, dass er mit dem einfachsten Objekt schon sofort auch das Subjekt gesetzt hatte; so übersah Fichte, dass er mit dem Subjekt (er mochte es nun tituliren, wie er wollte) nicht nur auch schon das Objekt gesetzt hatte, weil kein Subjekt ohne solches denkbar ist; sondern er übersah auch dieses, dass alle Ableitung a priori, ja alle Beweisführung überhaupt, sich auf eine Notwendigkeit stützt, alle Notwendigkeit aber ganz allein auf den Satz vom Grund; weil notwendig sein und aus gegebenem Grunde folgen – Wechselbegriffe sind13, dass der Satz vom Grunde aber nichts Anderes als die allgemeine Form des Objekts als solchen ist, mithin das Objekt schon voraussetzt, nicht aber, vor und außer demselben geltend, es erst herbeiführen und in Gemäßheit seiner Gesetzgebung entstehn lassen kann. Ueberhaupt also hat das Ausgehn vom Subjekt mit dem oben dargestellten Ausgehn vom Objekt den selben Fehler gemein, zum voraus anzunehmen, was es erst abzuleiten vorgiebt, nämlich das notwendige Korrelat seines Ausgangspunkts.
Von diesen beiden entgegengesetzten Mißgriffen nun unterscheidet sich unser Verfahren toto genere, indem wir weder vom Objekt noch vom Subjekt ausgehen, sondern von der Vorstellung, als erster Thatsache des Bewußtseins, deren erste wesentlichste Grundform das Zerfallen in Objekt und Subjekt ist, die Form des Objekts wieder der Satz vom Grund, in seinen verschiedenen Gestalten, deren jede die ihr eigene Klasse von Vorstellungen so sehr beherrscht, dass, wie gezeigt, mit der Erkenntnis jener Gestalt auch das Wesen der ganzen Klasse erkannt ist, indem diese (als Vorstellung) eben nichts Anderes als jene Gestalt selbst ist: so die Zeit selbst nichts Anderes als der Grund des Seins in ihr, d.h. Sukzession; der Raum nichts Anderes als der Satz vom Grund in ihm, also Lage; die Materie nichts Anderes als Kausalität; der Begriff (wie sich sogleich zeigen wird) nichts Anderes als Beziehung auf den Erkenntnisgrund. Diese gänzliche und durchgängige Relativität der Welt als Vorstellung, sowohl nach Ihrer allgemeinsten Form (Subjekt und Objekt), als nach der dieser untergeordneten (Satz vom Grund), weist uns, wie gesagt, darauf hin, das Innerste Wesen der Welt in einer ganz andern, von der Vorstellung durchaus verschiedenen Seite derselben zu suchen, welche das nächste Buch in einer jedem lebenden Wesen eben so unmittelbar gewissen Thatsache nachweisen wird.
Doch ist zuvor noch diejenige Klasse von Vorstellungen zu betrachten, welche dem Menschen allein angehört, deren Stoff der Begriff und deren subjektives Korrelat die Vernunft ist, wie das der bisher betrachteten Vorstellungen Verstand und Sinnlichkeit war, welche auch jedem Thiere beizulegen sind14.
§ 8
Wie aus dem unmittelbaren Lichte der Sonne in den geborgten Wiederschein des Mondes, gehen wir von der anschaulichen, unmittelbaren, sich selbst vertretenden und verbürgenden Vorstellung über zur Reflexion, zu den abstrakten, diskursiven Begriffen der Vernunft, die allen Gehalt nur von jener anschaulichen Erkenntnis und in Beziehung auf dieselbe haben. So lange wir uns rein anschauend verhalten, ist Alles klar, fest und gewiss. Da gibt es weder Fragen, noch Zweifeln, noch Irren: man will nicht weiter, kann nicht weiter, hat Ruhe im Anschauen, Befriedigung in der Gegenwart. Die Anschauung ist sich selber genug; daher was rein aus ihr entsprungen und ihr treu geblieben ist, wie das ächte Kunstwerk, niemals falsch sein, noch durch irgend eine Zeit widerlegt werden kann: denn es gibt keine Meinung, sondern die Sache selbst. Aber mit der abstrakten Erkenntnis, mit der Vernunft, ist im Theoretischen der Zweifel und der Irrtum, im Praktischen die Sorge und dieReue eingetreten. Wenn in der anschaulichen Vorstellung der Schein auf Augenblicke die Wirklichkeit entstellt, so kann in der abstrakten der Irrtum Jahrtausende herrschen, auf ganze Völker sein eisernes Joch werfen, die edelsten Regungen der Menschheit ersticken und selbst Den, welchen zu täuschen er nicht vermag, durch seine Sklaven, seine Getäuschten, in Fesseln legen lassen. Er ist der Feind, gegen welchen die weisesten Geister aller Zeiten den ungleichen Kampf unterhielten, und nur was sie ihm abgewannen, ist Eigentum der Menschheit geworden. Daher ist es gut, sogleich auf ihn aufmerksam zu machen, indem wir den Boden betreten, auf welchem sein Gebiet liegt. Obwohl oft gesagt worden, dass man der Wahrheit nachspüren soll, auch wo kein Nutzen von ihr abzusehn, weil dieser mittelbar sein und hervortreten kann, wo man ihn nicht erwartet; so finde ich hier doch noch hinzuzusetzen, dass man auch eben so sehr bestrebt sein soll, jeden Irrtum aufzudecken und auszurotten, auch wo kein Schaden von ihm abzusehn, weil auch dieser sehr mittelbar sein und einst hervortreten kann, wo man ihn nicht erwartet: denn jeder Irrtum trägt ein Gift in seinem Innern. Ist es der Geist, ist es die Erkenntnis, welche den Menschen zum Herrn der Erde macht; so gibt es keine unschädlichen Irrthümer, noch weniger ehrwürdige, heilige Irrthümer. Und zum Trost Derer, welche dem edlen und so schweren Kampf gegen den Irrtum, in irgend einer Art und Angelegenheit, Kraft und Leben widmen, kann ich mich nicht entbrechen, hier hinzuzusetzen, dass zwar so lange, als die Wahrheit noch nicht dasteht, der Irrtum sein Spiel treiben kann, wie Eulen und Fledermäuse in der Nacht; aber eher mag man erwarten, dass Eulen und Fledermäuse die Sonne zurück in den Osten scheuchen werden, als dass die erkannte und deutlich und vollständig ausgesprochene Wahrheit wieder verdrängt werde, damit der alte Irrtum seinen breiten Platz nochmals ungestört einnehme. Das ist die Kraft der Wahrheit, deren Sieg schwer und mühsam, aber dafür, wenn ein Mal errungen, ihr nicht mehr zu entreißen ist.
Außer den bis hierher betrachteten Vorstellungen nämlich, welche, ihrer Zusammensetzung nach, sich zurückführen ließen auf Zeit und Raum und Materie, wenn wir aufs Objekt, oder reine Sinnlichkeit und Verstand (d.i. Erkenntnis der Kausalität), wenn wir aufs Subjekt sehn, ist im Menschen allein, unter allen Bewohnern der Erde, noch eine andere Erkenntniskraft eingetreten, ein ganz neues Bewusstsein aufgegangen, welches sehr treffend und mit ahndungsvoller Richtigkeit die Reflexion genannt ist. Denn es ist in der That ein Wiederschein, ein Abgeleitetes von jener anschaulichen Erkenntnis, hat jedoch eine von Grund aus andere Natur und Beschaffenheit als jene angenommen, kennt deren Formen nicht, und auch der Satz vom Grund, der über alles Objekt herrscht, hat hier eine völlig andere Gestalt. Dieses neue, höher potenzirte Bewusstsein, dieser abstrakte Reflex alles Intuitiven im nichtanschaulichen Begriff der Vernunft, ist es allein, der dem Menschen jene Besonnenheit verleiht, welche sein Bewusstsein von dem des Thieres so durchaus unterscheidet, und wodurch sein ganzer Wandel auf Erden so verschieden ausfällt von dem seiner unvernünftigen Brüder. Gleich sehr übertrifft er sie an Macht und an Leiden. Sie leben in der Gegenwart allein; er dabei zugleich in Zukunft und Vergangenheit. Sie befriedigen das augenblickliche Bedürfniß; er sorgt durch die künstlichsten Anstalten für seine Zukunft, ja für Zeiten, die er nicht erleben kann. Sie sind dem Eindruck des Augenblicks, der Wirkung des anschaulichen Motivs gänzlich anheimgefallen; ihn bestimmen abstrakte Begriffe unabhängig von der Gegenwart. Daher führt er überlegte Pläne aus, oder handelt nach Maximen, ohne Rücksicht auf die Umgebung und die zufälligen Eindrücke des Augenblicks: er kann daher z.B. mit Gelassenheit die künstlichen Anstalten zu seinem eigenen Tode treffen, kann sich verstellen, bis zur Unerforschlichkeit, und sein Geheimniß mit ins Grab nehmen, hat endlich eine wirkliche Wahl zwischen mehreren Motiven: denn nur in abstracto können solche, neben einander im Bewusstsein gegenwärtig, die Erkenntnis bei sich führen, dass eines das andere ausschließt, und so ihre Gewalt über den Willen gegen einander messen; wonach dann das überwiegende, indem es den Ausschlag gibt, die überlegte Entscheidung des Willens ist und als ein sicheres Anzeichen seine Beschaffenheit kund macht. Das Thier hingegen bestimmt der gegenwärtige Eindruck: nur die Furcht vor dem gegenwärtigen Zwange kann seine Begierde zähmen, bis jene Furcht endlich zur Gewohnheit geworden ist und nunmehr als solche es bestimmt: das ist Dressur. Das Thier empfindet und schaut an; der Mensch denkt überdies und weiß: Beide wollen. Das Thier theilt seine Empfindung und Stimmung mit, durch Geberde und Laut: der Mensch theilt dem andern Gedanken mit, durch Sprache, oder verbirgt Gedanken, durch Sprache. Sprache ist das erste Erzeugniß und das notwendige Werkzeug seiner Vernunft: daher wird im Griechischen und im Italiänischen Sprache und Vernunft durch das selbe Wort bezeichnet: ho logos, il discorso. Vernunft kommt von Vernehmen, welches nicht synonym ist mit Hören, sondern das Innewerden der durch Worte mitgetheilten Gedanken bedeutet. Durch Hülfe der Sprache allein bringt die Vernunft ihre wichtigsten Leistungen zu Stande, nämlich das übereinstimmende Handeln mehrerer Individuen, das planvolle Zusammenwirken vieler Tausende, die Civilisation, den Staat; ferner die Wissenschaft, das Aufbewahren früherer Erfahrung, das Zusammenfassen des Gemeinsamen in einen Begriff, das Mittheilen der Wahrheit, das Verbreiten des Irrthums, das Denken und Dichten, die Dogmen und die Superstitionen. Das Thier lernt den Tod erst im Tode kennen: der Mensch geht mit Bewusstsein in jeder Stunde seinem Tode näher, und dies macht selbst Dem das Leben bisweilen bedenklich, der nicht schon am ganzen Leben selbst diesen Charakter der steten Vernichtung erkannt hat. Hauptsächlich dieserhalb hat der Mensch Philosophien und Religionen: ob jedoch Dasjenige, was wir mit Recht an seinem Handeln über Alles hoch schätzen, das freiwillige Rechtthun und der Edelmuth der Gesinnung, je die Frucht einer jener Beiden gewesen, ist ungewiß. Als sichere, ihnen allein angehörige Erzeugnisse Beider und Produktionen der Vernunft auf diesem Wege stehen hingegen da die wunderlichsten, abenteuerlichsten Meinungen der Philosophen verschiedener Schulen, und die seltsamsten, bisweilen auch grausamen Gebräuche der Priester verschiedener Religionen.
Dass alle diese so mannigfaltigen und so weit reichenden Äußerungen aus einem gemeinschaftlichen Princip entspringen, aus jener besonderen Geisteskraft, die der Mensch vor dem Thiere voraus hat, und welche man Vernunft, ho logos, to logistikon, to logimon, ratio, genannt hat, ist die einstimmige Meinung aller Zeiten und Völker. Auch wissen alle Menschen sehr wohl die Aeußerungen dieses Vermögens zu erkennen und zu sagen, was vernünftig, was unvernünftig sei, wo die Vernunft im Gegensatz mit andern Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen auftritt, und endlich, was wegen des Mangels derselben auch vom klügsten Thiere nie zu erwarten steht. Die Philosophen aller Zeiten sprechen im Ganzen auch übereinstimmend mit jener allgemeinen Kenntniß der Vernunft, und heben überdies einige besonders wichtige Aeußerungen derselben hervor, wie die Beherrschung der Affekte und Leidenschaften, die Fähigkeit, Schlüsse zu machen und allgemeine Principien, sogar solche, die vor aller Erfahrung gewiss sind, aufzustellen u.s.w. Dennoch sind alle ihre Erklärungen vom eigentlichen Wesen der Vernunft schwankend, nicht scharf bestimmt, weitläuftig, ohne Einheit und Mittelpunkt, bald diese bald jene Äußerung hervorhebend, daher oft von einander abweichend. Dazu kommt, dass Viele dabei von dem Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung ausgehen, welcher der Philosophie ganz fremd ist, und nur dient die Verwirrung zu vermehren. Es ist höchst auffallend, dass bisher kein Philosoph alle jene mannigfaltigen Aeußerungen der Vernunft strenge auf eine einfache Funktion zurückgeführt hat, die in ihnen allen wiederzuerkennen wäre, aus der sie alle zu erklären wären und die demnach das eigentliche innere Wesen der Vernunft ausmachte. Zwar gibt der vortreffliche Locke, im »Essay on human understanding«. Buch 2, Kap. 11, §10 u. 11, als den unterscheidenden Charakter zwischen Thier und Mensch die abstrakten allgemeinen Begriffe sehr richtig an, und Leibnitz wiederholt Dieses völlig beistimmend, in den »Nouveaux essays sur l'entendement humain«. Buch 2, Kap. 11, § 10 u. 11. Allein wenn Locke in Buch 4, Kap. 17, § 2, 3, zur eigentlichen Erklärung der Vernunft kommt, so verliert er ganz jenen einfachen Hauptcharakter derselben aus dem Gesicht, und geräth eben auch auf eine schwankende, unbestimmte, unvollständige Angabe zerstückelter und abgeleiteter Aeußerungen derselben: auch Leibnitz, an der mit jener korrespondirenden Stelle seines Werkes, verhält sich im Ganzen eben so, nur mit mehr Konfusion und Unklarheit. Wie sehr nun aber Kant den Begriff vom Wesen der Vernunft verwirrt und verfälscht hat, darüber habe ich im Anhange ausführlich geredet. Wer aber gar sich die Mühe gibt, die Masse philosophischer Schriften, welche seit Kant erschienen sind, in dieser Hinsicht zu durchgehn, der wird erkennen, dass, so wie die Fehler der Fürsten von ganzen Völkern gebüßt werden, die Irrthümer großer Geister ihren nachtheiligen Einfluß auf ganze Generationen, sogar auf Jahrhunderte verbreiten, ja, wachsend und sich fortpflanzend, zuletzt in Monstrositäten ausarten: welches Alles daher abzuleiten ist, dass, wie Berkeley sagt: Few men think; yet all will have opinions.15
Wie der Verstand nur eine Funktion hat: unmittelbare Erkenntnis des Verhältnisses von Ursache und Wirkung, und die Anschauung der wirklichen Welt, wie auch alle Klugheit, Sagacität und Erfindungsgabe, so mannigfaltig auch ihre Anwendung ist, doch ganz offenbar nichts Anderes sind, als Aeußerungen jener einfachen Funktion; so hat auch die Vernunft eine Funktion: Bildung des Begriffs; und aus dieser einzigen erklären sich sehr leicht und ganz und gar von selbst alle jene oben angeführten Erscheinungen, die das Leben des Menschen von dem des Thieres unterscheiden, und auf die Anwendung oder Nicht-An wendung jener Funktion deutet schlechthin Alles, was man überall und jederzeit vernünftig oder unvernünftig genannt hat16.
§ 9
Die Begriffe bilden eine eigenthümliche, von den bisher betrachteten, anschaulichen Vorstellungen toto genere verschiedene Klasse, die allein im Geiste des Menschen vorhanden ist. Wir können daher nimmer eine anschauliche, eine eigentlich evidente Erkenntnis von ihrem Wesen erlangen; sondern auch nur eine abstrakte und diskursive. Es wäre daher ungereimt zu fordern, dass sie in der Erfahrung, sofern unter dieser die reale Außenwelt, welche eben anschauliche Vorstellung ist, verstanden wird, nachgewiesen, oder wie anschauliche Objekte vor die Augen, oder vor die Phantasie gebracht werden sollten. Nur denken, nicht anschauen lassen sie sich, und nur die Wirkungen, welche durch sie der Mensch hervorbringt, sind Gegenstände der eigentlichen Erfahrung. Solche sind die Sprache, das überlegte planmäßige Handeln und die Wissenschaft; hernach was aus diesen allen sich ergiebt. Offenbar ist die Rede, als Gegenstand der äußeren Erfahrung, nichts Anderes als ein sehr vollkommener Telegraph, der willkürliche Zeichen mit größter Schnelligkeit und feinster Nüancirung mittheilt. Was bedeuten aber diese Zeichen? Wie geschieht ihre Auslegung? Uebersetzen wir etwa, während der Andere spricht, sogleich seine Rede in Bilder der Phantasie, die blitzschnell an uns vorüberfliegen und sich bewegen, verketten, umgestalten und ausmalen, gemäß den hinzuströhmenden Worten und deren grammatischen Flexionen? Welch ein Tumult wäre dann in unserm Kopfe, während des Anhörens einer Rede, oder des Lesens eines Buches! So geschieht es keineswegs. Der Sinn der Rede wird unmittelbar vernommen, genau und bestimmt aufgefaßt, ohne dass in der Regel sich Phantasmen einmengten. Es ist die Vernunft die zur Vernunft spricht, sich in ihrem Gebiete hält, und was sie mittheilt und empfängt, sind abstrakte Begriffe, nichtanschauliche Vorstellungen, welche ein für alle Mal gebildet und verhältnißmäßig in geringer Anzahl, doch alle unzähligen Objekte der wirklichen Welt befassen, enthalten und vertreten. Hieraus allein ist es erklärlich, dass nie ein Thier sprechen und vernehmen kann, obgleich es die Werkzeuge der Sprache und auch die anschaulichen Vorstellungen mit uns gemein hat; aber eben weil die Worte jene ganz eigenthümliche Klasse von Vorstellungen bezeichnen, deren subjektives Korrelat die Vernunft ist, sind sie für das Thier ohne Sinn und Bedeutung. So ist die Sprache, wie jede andere Erscheinung, die wir der Vernunft zu schreiben, und wie Alles, was den Menschen vom Thiere unterscheidet, durch dieses Eine und Einfache als seine Quelle zu erklären: die Begriffe, die abstrakten, nicht anschaulichen, allgemeinen, nicht in Zeit und Raum individuellen Vorstellungen. Nur in einzelnen Fällen gehen wir von den Begriffen zur Anschauung über, bilden uns Phantasmen als anschauliche Repräsentanten der Begriffe, denen sie jedoch nie adäquat sind. Diese sind in der Abhandlung über den Satz vom Grunde, § 28, besonders erörtert worden, daher ich hier nicht das Selbe wiederholen will: mit dem dort Gesagten ist zu vergleichen, was Hume im zwölften seiner »Philosophical essays«, S. 244, und was Herder in der »Metakritik« (einem übrigens schlechten Buch), Theil 1, S. 274, sagt. – Die Platonische Idee, welche durch den Verein von Phantasie und Vernunft möglich wird, macht den Hauptgegenstand des dritten Buchs gegenwärtiger Schrift aus.
Obgleich nun also die Begriffe von den anschaulichen Vorstellungen von Grund aus verschieden sind, so stehen sie doch in einer notwendigen Beziehung zu diesen, ohne welche sie nichts wären, welche Beziehung folglich ihr ganzes Wesen und Dasein ausmacht. Die Reflexion ist notwendig Nachbildung, Wiederholung, der urbildlichen anschaulichen Welt, wiewohl Nachbildung ganz eigener Art, in einem völlig heterogenen Stoff. Deshalb sind die Begriffe ganz passend Vorstellungen von Vorstellungen zu nennen. Der Satz vom Grunde hat hier ebenfalls eine eigene Gestalt, und wie diejenige, unter welcher er in einer Klasse von Vorstellungen herrscht, auch eigentlich immer das ganze Wesen dieser Klasse, sofern sie Vorstellungen sind, ausmacht und erschöpft, so dass, wie wir gesehn haben, die Zeit durch und durch Sukzession und sonst nichts, der Raum durch und durch Lage und sonst nichts, die Materie durch und durch Kausalität und sonst nichts ist; so besteht auch das ganze Wesen der Begriffe, oder der Klasse der abstrakten Vorstellungen, allein in der Relation, welche in ihnen der Satz vom Grunde ausdrückt: und da diese die Beziehung auf den Erkenntnisgrund ist, so hat die abstrakte Vorstellung ihr ganzes Wesen einzig und allein in ihrer Beziehung auf eine andere Vorstellung, welche ihr Erkenntnisgrund ist. Diese kann nun zwar wieder zunächst ein Begriff, oder abstrakte Vorstellung sein, und sogar auch dieser wieder nur einen eben solchen abstrakten Erkenntnisgrund haben; aber nicht so ins Unendliche: sondern zuletzt muss die Reihe der Erkenntnisgründe mit einem Begriff schließen, der seinen Grund in der anschaulichen Erkenntnis hat. Denn die ganze Welt der Reflexion ruht auf der anschaulichen als ihrem Grunde des Erkennens. Daher hat die Klasse der abstrakten Vorstellungen von den andern das Unterscheidende, dass in diesen der Satz vom Grund immer nur eine Beziehung auf eine andere Vorstellung der nämlichen Klasse fordert, bei den abstrakten Vorstellungen aber zuletzt eine Beziehung auf eine Vorstellung aus einer andern Klasse.
Man hat diejenigen Begriffe, welche, wie eben angegeben, nicht unmittelbar, sondern nur durch Vermittelung eines oder gar mehrerer anderer Begriffe sich auf die anschauliche Erkenntnis beziehn, vorzugsweise abstracta, und hingegen die, welche ihren Grund unmittelbar in der anschaulichen Welt haben, concreta genannt. Diese letztere Benennung passt aber nur ganz uneigentlich auf die durch sie bezeichneten Begriffe, da nämlich auch diese immer noch abstracta sind und keineswegs anschauliche Vorstellungen. Jene Benennungen sind aber auch nur aus einem sehr undeutlichen Bewusstsein des damit gemeinten Unterschiedes hervorgegangen, können jedoch, mit der hier gegebenen Deutung, stehen bleiben. Beispiele der ersten Art, also abstracta im eminenten Sinn, sind Begriffe wie »Verhältnis, Tugend, Untersuchung, Anfang« u.s.w. Beispiele der letztern Art, oder uneigentlich so genannte concreta sind die Begriffe »Mensch, Stein, Pferd« u.s.w. Wenn es nicht ein etwas zu bildliches und dadurch ins Scherzhafte fallendes Gleichniß wäre; so könnte man sehr treffend die letzteren das Erdgeschoß, die ersteren die oberen Stockwerke des Gebäudes der Reflexion nennen17.
Dass ein Begriff Vieles unter sich begreift, d.h. dass viele anschauliche, oder auch selbst wieder abstrakte Vorstellungen in der Beziehung des Erkenntnisgrundes zu ihm stehen, d.h. durch ihn gedacht werden, dies ist nicht, wie man meistens angiebt, eine wesentliche, sondern nur eine abgeleitete sekundäre Eigenschaft desselben, die sogar nicht immer in der That, wiewohl immer der Möglichkeit nach, dasein muss. Jene Eigenschaft fließt daraus her, dass der Begriff Vorstellung einer Vorstellung ist, d.h. sein ganzes Wesen allein hat in seiner Beziehung auf eine andere Vorstellung; da er aber nicht diese Vorstellung selbst ist, ja diese sogar meistens zu einer ganz andern Klasse von Vorstellungen gehört, nämlich anschaulich ist, so kann sie zeitliche, räumliche und andere Bestimmungen, und überhaupt noch viele Beziehungen haben, die im Begriff gar nicht mit gedacht werden, daher mehrere im Unwesentlichen verschiedene Vorstellungen durch den selben Begriff gedacht, d.h. unter ihn subsumirt werden können. Allein dies Gelten von mehreren Dingen ist keine wesentliche, sondern nur accidentale Eigenschaft des Begriffs. Es kann daher Begriffe geben, durch welche nur ein einziges reales Objekt gedacht wird, die aber deswegen doch abstrakt und allgemein, keineswegs aber einzelne und anschauliche Vorstellungen sind: dergleichen ist z.B. der Begriff, den Jemand von einer bestimmten Stadt hat, die er aber bloß aus der Geographie kennt: obgleich nur diese eine Stadt dadurch gedacht wird, so wären doch mehrere in einigen Stücken verschiedene Städte möglich, zu denen allen er paßte. Nicht also weil ein Begriff von mehreren Objekten abstrahiert ist, hat er Allgemeinheit; sondern umgekehrt, weil Allgemeinheit, d.i. Nichtbestimmung des Einzelnen, ihm als abstrakter Vorstellung der Vernunft wesentlich ist, können verschiedene Dinge durch den selben Begriff gedacht werden.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass jeder Begriff, eben weil er abstrakte und nicht anschauliche und eben daher nicht durchgängig bestimmte Vorstellung ist, Dasjenige hat, was man einen Umfang oder Sphäre nennt, auch sogar in dem Fall, dass nur ein einziges reales Objekt vorhanden ist, das ihm entspricht. Nun finden wir durchgängig, dass die Sphäre jedes Begriffs mit den Sphären anderer etwas Gemeinschaftliches hat, d.h. dass in ihm zum Theil das Selbe gedacht wird, was in jenen andern, und in diesen wieder zum Theil das Selbe, was in jenem erstern; obgleich, wenn sie wirklich verschiedene Begriffe sind, jeder, oder wenigstens einer von beiden etwas enthält, das der andere nicht hat: in diesem Verhältnis steht jedes Subjekt zu seinem Prädikat. Dieses Verhältnis erkennen, heißt urtheilen. Die Darstellung jener Sphären durch räumliche Figuren ist ein überaus glücklicher Gedanke. Zuerst hat ihn wohl Gottfried Ploucquet gehabt, der Quadrate dazu nahm; Lambert, wiewohl nach ihm, bediente sich noch bloßer Linien, die er unter einander stellte: Euler führte es zuerst mit Kreisen vollständig aus. Worauf diese so genaue Analogie zwischen den Verhältnissen der Begriffe und denen räumlicher Figuren zuletzt beruhe, weiß ich nicht anzugeben. Es ist inzwischen für die Logik ein sehr günstiger Umstand, dass alle Verhältnisse der Begriffe sich sogar ihrer Möglichkeit nach, d.h. a priori, durch solche Figuren anschaulich darstellen lassen, in folgender Art:
1) Die Sphären zweier Begriffe sind sich ganz gleich: z.B. der Begriff der Notwendigkeit und der der Folge aus gegebenem Grunde; desgleichen der von Ruminantia und Bisulca (Wiederkäuer und Thiere mit gespaltenem Huf); auch von Wirbelthieren und Rothblütigen (wogegen jedoch wegen der Anneliden etwas einzuwenden wäre): es sind Wechselbegriffe. Solche stellt dann ein einziger Kreis dar, der sowohl den einen als den andern bedeutet.
2) Die Sphäre eines Begriffs schließt die eines andern ganz ein:
3) Eine Sphäre schließt zwei oder mehrere ein, die sich ausschließen und zugleich die Sphäre füllen:
4) Zwei Sphären schließen jede einen Theil der andern ein:
5)Zwei Sphären liegen in einer dritten, die sie jedoch nicht füllen:
Dieser letztere Fall gilt von allen Begriffen, deren Sphären nicht unmittelbare Gemeinschaft haben, da immer ein dritter, wenn gleich oft sehr weiter, beide einschließen wird.
Auf diese Fälle möchten alle Verbindungen von Begriffen zurückzuführen sein, und die ganze Lehre von den Urteilen, deren Konversion, Kontraposition, Reciprokation, Disjunktion (diese nach der dritten Figur) lässt sich daraus ableiten: eben so auch die Eigenschaften der Urteile, auf welche Kant die vorgeblichen Kategorien des Verstandes gründete, jedoch mit Ausnahme der hypothetischen Form, welche nicht mehr eine Verbindung von bloßen Begriffen, sondern von Urteilen ist; sodann mit Ausnahme der Modalität, über welche, wie über jede Eigenschaft von Urteilen, die den Kategorien zum Grunde gelegt ist, der Anhang ausführlich Rechenschaft gibt. Über die angegebenen möglichen Begriffsverbindungen ist nur noch zu bemerken, dass sie auch unter einander mannigfaltig verbunden werden können, z.B. die vierte Figur mit der zweiten. Nur wenn eine Sphäre, die eine andere ganz oder zum Theil enthält, wieder von einer dritten ganz oder zum Theil eingeschlossen wird, stellen diese zusammen den Schluss in der ersten Figur dar, d.h. diejenige Verbindung von Urteilen, durch welche erkannt wird, dass ein Begriff, der in einem andern ganz oder zum Theil enthalten ist, es auch eben so in einem dritten ist, der wieder diesen enthält: oder auch das Umgekehrte davon, die Negation; deren bildliche Darstellung natürlich nur darin bestehen kann, dass zwei verbundene Sphären nicht in einer dritten liegen. Umschließen sich viele Sphären auf diese Weise, so entstehn lange Ketten von Schlüssen. – Diesen Schematismus der Begriffe, der schon in mehreren Lehrbüchern ziemlich gut ausgeführt ist, kann man der Lehre von den Urteilen, wie auch der ganzen Syllogistik zum Grunde legen, wodurch der Vortrag Beider sehr leicht und einfach wird. Denn alle Regeln derselben lassen sich daraus ihrem Ursprung nach einsehen, ableiten und erklären. Diese aber dem Gedächtniß aufzuladen, ist nicht notwendig, da die Logik nie von praktischem Nutzen, sondern nur von theoretischem Interesse für die Philosophie sein kann. Denn obwohl sich sagen ließe, dass die Logik zum vernünftigen Denken sich verhält wie der Generalbaß zur Musik, und auch, wenn wir es weniger genau nehmen, wie die Ethik zur Tugend, oder die Aesthetik zur Kunst; so ist dagegen zu bedenken, dass noch kein Künstler es durch Studium der Aesthetik geworden ist, noch ein edler Charakter durch Studium der Ethik, dass lange vor Rameau richtig und schön komponirt wurde, und auch, dass man nicht den Generalbaß inne zu haben braucht, um Disharmonien zu bemerken: eben so wenig braucht man Logik zu wissen, um sich durch Trugschlüsse nicht täuschen zu lassen. Jedoch muss eingeräumt werden, dass, wenn auch nicht für die Beurtheilung, dennoch für die Ausübung der musikalischen Komposition der Generalbaß von großem Nutzen ist: sogar auch mögen, wenn gleich in viel geringerm Grade, Aesthetik und selbst Ethik für die Ausübung einigen, wiewohl hauptsächlich negativen Nutzen haben, also auch ihnen nicht aller praktische Werth abzusprechen sein; aber von der Logik lässt sich nicht ein Mal so viel rühmen. Sie ist nämlich bloß das Wissen in abstracto Dessen, was Jeder in concreto weiß. Daher, so wenig als man sie braucht, einem falschen Räsonnement nicht beizustimmen, so wenig ruft man ihre Regeln zu Hülfe, um ein richtiges zu machen, und selbst der gelehrteste Logiker setzt sie bei seinem wirklichen Denken ganz bei Seite. Dies erklärt sich aus Folgendem. Jede Wissenschaft besteht aus einem System allgemeiner, folglich abstrakter Wahrheiten, Gesetze und Regeln, in Bezug auf irgend eine Art von Gegenständen. Der unter diesen nachher vorkommende einzelne Fall wird nun jedes Mal nach jenem allgemeinen Wissen, welches ein für alle Mal gilt, bestimmt; weil solche Anwendung des Allgemeinen unendlich leichter ist, als den vorkommenden einzelnen Fall für sich von Vorne an zu untersuchen; indem allezeit die ein Mal erlangte allgemeine abstrakte Erkenntnis uns näher zur Hand liegt, als die empirische Untersuchung des Einzelnen. Mit der Logik aber ist es gerade umgekehrt. Sie ist das allgemeine, durch Selbstbeobachtung der Vernunft und Abstraktion von allem Inhalt erkannte und in der Form von Regeln ausgedrückte Wissen von der Verfahrungsweise der Vernunft. Dieser aber ist jene Verfahrungsweise notwendig und wesentlich: sie wird also in keinem Fall davon abweichen, sobald sie sich selbst überlassen ist. Es ist daher leichter und sicherer, sie in jedem besondern Fall ihrem Wesen gemäß verfahren zu lassen, als ihr das aus diesem Verfahren erst abstrahirte Wissen davon, in Gestalt eines fremden von außen gegebenen Gesetzes, vorzuhalten. Es ist leichter: weil, wenn gleich bei allen andern Wissenschaften die allgemeine Regel uns näher liegt, als die Untersuchung des einzelnen Falles allein und durch sich selbst; umgekehrt, beim Gebrauch der Vernunft, das im gegebenen Fall nöthige Verfahren derselben uns immer näher liegt, als die daraus abstrahirte allgemeine Regel, da das Denkende in uns ja selbst jene Vernunft ist. Es ist sicherer: weil viel leichter ein Irrtum in solchem abstrakten Wissen, oder dessen Anwendung, vorfallen kann, als ein Verfahren der Vernunft eintreten, das ihrem Wesen, ihrer Natur, zuwiderliefe. Daher kommt das Sonderbare, dass, wenn man in andern Wissenschaften die Wahrheit des einzelnen Falles an der Regel prüft, in der Logik umgekehrt die Regel immer am einzelnen Fall geprüft werden muss: und auch der geübteste Logiker wird, wenn er bemerkt, dass er in einem einzelnen Fall anders schließt als eine Regel aussagt, immer eher einen Fehler in der Regel suchen, als in dem von ihm wirklich gemachten Schluss. Praktischen Gebrauch von der Logik machen wollen, hieße also Das, was uns im Einzelnen unmittelbar mit der größten Sicherheit bewußt ist, erst mit unsäglicher Mühe aus allgemeinen Regeln ableiten wollen: es wäre gerade so, wie wenn man bei seinen Bewegungen erst die Mechanik, und bei der Verdauung die Physiologie zu Rathe ziehn wollte: und wer die Logik zu praktischen Zwecken erlernt, gleicht dem, der einen Bieber zu seinem Bau abrichten will. – Obgleich also ohne praktischen Nutzen, muss nichtsdestoweniger die Logik beibehalten werden, weil sie philosophisches Interesse hat, als specielle Kenntniß der Organisation und Aktion der Vernunft. Als abgeschlossene, für sich bestehende, in sich vollendete, abgerundete und vollkommen sichere Disciplin ist sie berechtigt, für sich allein und unabhängig von allem Andern wissenschaftlich abgehandelt und eben so auf Universitäten gelehrt zu werden; aber ihren eigentlichen Werth erhält sie erst im Zusammenhange der gesammten Philosophie, bei Betrachtung des Erkennens, und zwar des vernünftigen oder abstrakten Erkennens. Demgemäß sollte ihr Vortrag nicht so sehr die Form einer auf das Praktische gerichteten Wissenschaft haben, nicht bloß nackt hingestellte Regeln zum richtigen Umkehren der Urtheile, Schließen u.s.w. enthalten; sondern mehr darauf gerichtet sein, daß das Wesen der Vernunft und des Begriffs erkannt und der Satz vom Grunde des Erkennens ausführlich betrachtet werde: denn eine bloße Paraphrase desselben ist die Logik, und zwar eigentlich nur für den Fall, wo der Grund, welcher den Urtheilen Wahrheit giebt, nicht empirisch oder metaphysisch, sondern logisch oder metalogisch ist. Neben dem Satz vom Grunde des Erkennens sind daher die übrigen drei ihm so nah verwandten Grundgesetze des Denkens, oder Urtheile von metalogischer Wahrheit,aufzuführen; woraus denn nach und nach die ganze Technik der Vernunft erwächst. Das Wesen des eigentlichen Denkens, d.h. des Urtheilens und Schließens, ist aus der Verbindung der Begriffssphären, gemäß dem räumlichen Schema, auf die oben angedeutete Weise darzustellen und aus diesem alle Regeln des Urtheilens und Schließens durch Konstruktion abzuleiten. Der einzige praktische Gebrauch, den man von der Logik machen kann, ist, daß man, beim Disputiren, dem Gegner, nicht sowohl seine wirklichen Fehlschlüsse, als seine absichtlichen Trugschlüsse nachweist, indem man sie bei ihrem technischen Namen nennt. Durch solche Zurückdrängung der praktischen Richtung und Hervorhebung des Zusammenhanges der Logik mit der gesammten Philosophie, als ein Kapitel derselben, sollte ihre Kenntniß dennoch nicht seltener werden, als sie jetzt ist: denn heut zu Tage muß Jeder, welcher nicht in der Hauptsache roh bleiben und der unwissenden, in Dumpfheit befangenen Menge beigezählt werden will, spekulative Philosophie studirt haben: und dies deswegen, weil dieses neunzehnte Jahrhundert ein philosophisches ist; womit nicht sowohl gesagt sein soll, daß es Philosophie besitze, oder Philosophie in ihm herrschend sei, als vielmehr, daß es zur Philosophie reif und eben deshalb ihrer durchaus bedürftig ist: dieses ist ein Zeichen hochgetriebener Bildung, sogar ein fester Punkt auf der Skala der Kultur der Zeiten18.
So wenig praktischen Nutzen die Logik haben kann, so ist dennoch wohl nicht zu leugnen, daß sie zum praktischen Behuf erfunden worden. Ihre Entstehung erkläre ich mir auf folgende Weise. Als unter den Eleatikern, Megarikern und Sophisten die Lust am Disputiren sich immer mehr entwickelt hatte und allmälig fast zur Sucht gestiegen war, mußte die Verwirrung, in welche fast jede Disputation gerieth, ihnen bald die Nothwendigkeit eines methodischen Verfahrens fühlbar machen, als Anleitung zu welchem eine wissenschaftliche Dialektik zu suchen war. Das Erste, was bemerkt werden mußte, war, daß beide streitende Parteien allemal über irgend einen Satz einig sein mußten, auf welchen die strittigen Punkte zurückzuführen waren, im Disputiren. Der Anfang des methodischen Verfahrens bestand darin, daß man diese gemeinschaftlich anerkannten Sätze förmlich als solche aussprach und an die Spitze der Untersuchung stellte. Diese Sätze aber betrafen Anfangs nur das Materiale der Untersuchung. Man wurde bald inne, daß auch in der Art und Weise, wie man auf die gemeinschaftlich anerkannte Wahrheit zurückgieng und seine Behauptungen aus ihr abzuleiten suchte, gewisse Formen und Gesetze befolgt wurden, über welche man, obgleich ohne vorhergegangene Uebereinkunft, sich dennoch nie veruneinigte, woraus man sah, daß sie der eigenthümliche, in ihrem Wesen liegende Gang der Vernunft selbst sein mußten, das Formale der Untersuchung. Obgleich nun dieses nicht dem Zweifel und der Uneinigkeit ausgesetzt war, so gerieth doch irgend ein bis zur Pedanterie systematischer Kopf auf den Gedanken, daß es recht schön aussehn und die Vollendung der methodischen Dialektik sein würde, wenn auch dieses Formelle alles Disputirens, dieses immer gesetzmäßige Verfahren der Vernunft selbst, ebenfalls in abstrakten Sätzen ausgesprochen würde, welche man eben wie jene das Materiale der Untersuchung betreffenden gemeinschaftlich anerkannten Sätze, an die Spitze der Untersuchung stellte, als den festen Kanon des Disputirens selbst, auf welchen man stets zurückzusehn und sich darauf zu berufen hätte. Indem man auf diese Weise Das, was man bisher wie durch stillschweigende Uebereinkunft befolgt, oder wie instinktmäßig ausgeübt hatte, nunmehr mit Bewußtsein als Gesetz anerkennen und förmlich aussprechen wollte, fand man allmälig mehr oder minder vollkommene Ausdrücke für logische Grundsätze, wie den Satz vom Widerspruch, vom zureichenden Grunde, vom ausgeschlossenen Dritten, das dictum de omni et nullo, sodann die speciellern Regeln der Syllogistik, wie z.B. ex meris particularibus aut negativis nihil sequitur, a rationato ad rationem non valet consequentia u.s.w. Daß man hiemit aber nur langsam und sehr mühsam zu Stande kam und vor dem Aristoteles Alles sehr unvollkommen blieb, sehn wir theils aus der unbeholfenen und weitschweifigen Art, mit der in manchen Platonischen Gesprächen logische Wahrheiten ans Licht gebracht werden, noch besser aber aus dem, was uns Sextus Empirikus von den Streitigkeiten der Megariker über die leichtesten und einfachsten logischen Gesetze und die mühsame Art, wie sie solche zur Deutlichkeit brachten, berichtet (Sext. Emp. adv. Math. L. 8. p. 112 seqq.). Aristoteles aber sammelte, ordnete, berichtigte das Vorgefundene und brachte es zu einer ungleich hohern Vollkommenheit. Wenn man auf diese Weise beachtet, wie der Gang der Griechischen Kultur die Arbeit des Aristoteles vorbereitet und herbeigeführt hatte, wird man wenig geneigt sein, der Angabe Persischer Schriftsteller Glauben zu schenken, welche uns Jones, sehr für dieselbe eingenommen, mittheilt, daß nämlich Kallisthenes bei den Indern eine fertige Logik vorgefunden und sie seinem Oheim Aristoteles übersandt habe (Asiatic researches, Bd. 4, S. 163). – Daß im traurigen Mittelalter dem disputirsüchtigen, beim Mangel aller Realkenntniß, an Formeln und Worten allein zehrenden Geiste der Scholastiker die Aristotelische Logik höchst willkommen sein mußte, selbst in ihrer Arabischen Verstümmelung begierig ergriffen und bald zum Mittelpunkt alles Wissens erhoben wurde, läßt sich leicht begreifen. Von ihrem Ansehn zwar seitdem gesunken, hat sie sich dennoch bis auf unsere Zeit im Kredit einer für sich bestehenden, praktischen und höchst nöthigen Wissenschaft erhalten: sogar hat in unsern Tagen die Kantische Philosophie, die ihren Grundstein eigentlich aus der Logik nahm, wieder ein neues Interesse für sie rege gemacht, welches sie in dieser Hinsicht, d.h. als Mittel zur Erkenntnis des Wesens der Vernunft, auch allerdings verdient.
Wie die richtigen strengen Schlüsse dadurch zu Stande kommen, daß man das Verhältniß der Begriffssphären genau betrachtet, und nur wenn eine Sphäre ganz in einer andern und diese wieder ganz in einer dritten enthalten ist, auch die erste für in der dritten ganz enthalten anerkennt; so beruht hingegen die Ueberredungskunst darauf, daß man die Verhältnisse der Begriffssphären nur einer oberflächlichen Betrachtung unterwirft und sie dann seinen Absichten gemäß einseitig bestimmt, hauptsächlich dadurch, daß, wenn die Sphäre eines betrachteten Begriffs nur zum Theil in einer andern liegt, zum Theil aber auch in einer ganz verschiedenen, man sie als ganz in der ersten liegend angiebt, oder ganz in der zweiten, nach der Absicht des Redners, Z.B. wenn von Leidenschaft geredet wird, kann man diese beliebig unter den Begriff der größten Kraft, des mächtigsten Agens in der Welt subsumiren, oder unter den Begriff der Unvernunft, und diesen unter den der Ohnmacht, der Schwäche. Das selbe Verfahren kann man nun fortsetzen und bei jedem Begriff, auf den die Rede führt, von Neuem anwenden. Fast immer theilen sich in die Sphäre eines Begriffs mehrere andere, deren jede einen Theil des Gebiets des ersteren auf dem ihrigen enthält, selbst aber auch noch mehr außerdem umfaßt: von diesen letzteren Begriffssphären läßt man aber nur die eine beleuchtet werden, unter welche man den ersten Begriff subsumiren will, während man die übrigen unbeachtet liegen läßt, oder verdeckt hält. Auf diesem Kunstgriff beruhen eigentlich alle Ueberredungskünste, alle feineren Sophismen: denn die logischen, wie der mentiens, velatus, cornutus u.s.w. sind für die wirkliche Anwendung offenbar zu plump. Da mir nicht bekannt ist, daß man bisher das Wesen aller Sophistikation und Ueberredung auf diesen letzten Grund ihrer Möglichkeit zurückgeführt und denselben in der eigenthümlichen Beschaffenheit der Begriffe, d. i. in der Erkenntnisweise der Vernunft, nachgewiesen hat; so will ich, da mein Vortrag mich darauf geführt hat, die Sache, so leicht sie auch einzusehn ist, noch durch ein Schema auf der beifolgenden Tafel erläutern, welches zeigen soll, wie die Begriffssphären mannigfaltig in einander greifen und dadurch der Willkür Spielraum geben, von jedem Begriff auf diesen oder jenen andern überzugehn. Nur wünsche ich nicht, daß man durch die Tafel verleitet werde, dieser kleinen beiläufigen Erörterung mehr Wichtigkeit beizulegen, als sie ihrer Natur nach haben kann. Ich habe zum erläuternden Beispiel den Begriff des Reisens gewählt. Seine Sphäre greift in das Gebiet von vier an dern, auf jeden von welchen der Ueberredner beliebig übergehn kann: diese greifen wieder in andere Sphären, manche davon zugleich in zwei und mehrere, durch welche der Ueberredner nach Willkür seinen Weg nimmt, immer als wäre es der einzige, und dann zuletzt, je nachdem seine Absicht war, bei Gut oder Uebel anlangt. Nur muß man, bei Verfolgung der Sphären, immer die Richtung vom Centro (dem gegebenen Hauptbegriff) zur Peripherie behalten, nicht aber rückwärts gehn. Die Einkleidung einer solchen Sophistikation kann die fortlaufende Rede, oder auch die strenge Schlußform sein, je nachdem die schwache Seite des Hörers es anräth. Im Grunde sind die meisten wissenschaftlichen, besonders philosophischen Beweisführungen nicht viel anders beschaffen: wie wäre es sonst auch möglich, daß so Vieles, zu verschiedenen Zeiten, nicht nur irrig angenommen (denn der Irrthum selbst hat einen andern Ursprung), sondern demonstrirt und bewiesen, dennoch aber später grundfalsch befunden worden, z.B. Leibnitz-Wolfische Philosophie, Ptolemäische Astronomie, Stahlsche Chemie, Neutonische Farbenlehre u.s.w. u.s.w.19.
§ 10
Durch dieses Alles tritt uns immer mehr die Frage nah, wie denn Gewißheit zu erlangen, wie Urtheile zu begründen seien, worin das Wissen und die Wissenschaft bestehe, welche wir, neben der Sprache und dem besonnenen Handeln, als den dritten großen durch die Vernunft gegebenen Vorzug rühmen.
Die Vernunft ist weiblicher Natur: sie kann nur geben, nachdem sie empfangen hat. Durch sich selbst allein hat sie nichts, als die gehaltlosen Formen ihres Operirens. Vollkommen reine VernunftErkenntnis giebt es sogar keine andere, als die vier Sätze, welchen ich metalogische Wahrheit beigelegt habe, also die Sätze von der Identität, vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten und vom zureichenden Erkenntnisgrunde. Denn selbst das Uebrige der Logik ist schon nicht mehr vollkommen reine VernunftErkenntnis, weil es die Verhältnisse und Kombinationen der Sphären der Begriffe voraussetzt; aber Begriffe überhaupt sind erst da, nach vorhergegangenen anschaulichen Vorstellungen, die Beziehung auf welche ihr ganzes Wesen ausmacht, die sie folglich schon voraussetzen. Da indessen diese Voraussetzung sich nicht auf den bestimmten Gehalt der Begriffe, sondern nur allgemein auf ein Dasein derselben erstreckt; so kann die Logik doch, im Ganzen genommen, für reine Vernunftwissenschaft gelten. In allen übrigen Wissenschaften hat die Vernunft den Gehalt aus den anschaulichen Vorstellungen erhalten: in der Mathematik aus den vor aller Erfahrung anschaulich bewußten Verhältnissen des Raumes und der Zeit; in der reinen Naturwissenschaft, d.h. in dem, was wir vor aller Erfahrung über den Lauf der Natur wissen, geht der Gehalt der Wissenschaft aus dem reinen Verstande hervor, d.h. aus der Erkenntnis a priori des Gesetzes der Kausalität und dessen Verbindung mit jenen reinen Anschauungen des Raumes und der Zeit. In allen andern Wissenschaften gehört Alles, was nicht aus den eben genannten entlehnt ist, der Erfahrung an. Wissen überhaupt heißt: solche Urtheile in der Gewalt seines Geistes zu willkürlicher Reproduktion haben, welche in irgend etwas außer ihnen ihren zureichenden Erkenntnisgrund haben, d.h. wahr sind. Die abstrakte Erkenntnis allein ist also ein Wissen; dieses ist daher durch die Vernunft bedingt, und von den Thieren können wir, genau genommen, nicht sagen, daß sie irgend etwas wissen, wiewohl sie die anschauliche Erkenntnis, für diese auch Erinnerung und eben deshalb Phantasie haben, welche überdies ihr Träumen beweist. Bewußtsein legen wir ihnen bei, dessen Begriff folglich, obgleich das Wort von Wissen genommen ist, mit dem des Vorstellens überhaupt, von welcher Art es auch sei, zusammenfällt. Daher auch legen wir der Pflanze zwar Leben, aber kein Bewußtsein bei. – Wissen also ist das abstrakte Bewußtsein, das Fixirthaben in Begriffen der Vernunft, des auf andere Weise überhaupt Erkannten.
§ 11
In dieser Hinsicht ist nun der eigentliche Gegensatz des Wissens das Gefühl, dessen Erörterung wir deshalb hier einschalten müssen. Der Begriff, den das Wort Gefühl bezeichnet, hat durchaus nur einen negativen Inhalt, nämlich diesen, daß etwas, das im Bewußtsein gegenwärtig ist, nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntnis der Vernunft sei: übrigens mag es sein, was es will, es gehört unter den Begriff Gefühl, dessen unmäßig weite Sphäre daher die heterogensten Dinge begreift, von denen man nimmer einsieht, wie sie zusammenkommen, so lange man nicht erkannt hat, daß sie allein in dieser negativen Rücksicht, nicht abstrakte Begriffe zu sein, übereinstimmen. Denn die verschiedensten, ja feindlichsten Elemente liegen ruhig neben einander in jenem Begriff, z.B. religiöses Gefühl, Gefühl der Wollust, moralisches Gefühl, körperliches Gefühl als Getast, als Schmerz, als Gefühl für Farben, für Töne und deren Harmonien und Disharmonien, Gefühl des Hasses, Abscheues, der Selbstzufriedenheit, der Ehre, der Schande, des Rechts, des Unrechts, Gefühl der Wahrheit, ästhetisches Gefühl, Gefühl von Kraft, Schwäche, Gesundheit, Freundschaft, Liebe u.s.w. u.s.w. Durchaus keine Gemeinschaft ist zwischen ihnen, als die negative, daß sie keine abstrakte VernunftErkenntnis sind; aber dieses wird am auffallendsten, wenn sogar die anschauliche Erkenntnis a priori der räumlichen Verhältnisse, und vollends die des reinen Verstandes unter jenen Begriff gebracht wird, und überhaupt von jeder Erkenntnis, jeder Wahrheit, deren man sich nur erst intuitiv bewußt ist, sie aber noch nicht in abstrakte Begriffe abgesetzt hat, gesagt wird, daß man sie fühle. Hievon will ich, zur Erläuterung, einige Beispiele aus neuem Büchern beibringen, weil sie frappante Belege meiner Erklärung sind. Ich erinnere mich, in der Einleitung einer Verdeutschung des Eukleides gelesen zu haben, man solle die Anfänger in der Geometrie die Figuren erst alle zeichnen lassen, ehe man zum Demonstriren schreite, weil sie alsdann die geometrische Wahrheit schon vorher fühlten, ehe ihnen die Demonstration die vollendete Erkenntnis beibrächte. – Eben so wird in der »Kritik der Sittenlehre« von F. Schleiermacher geredet vom logischen und mathematischen Gefühl (S. 339), auch vom Gefühl der Gleichheit oder Verschiedenheit zweier Formeln (S. 342); ferner in Tennemanns »Geschichte der Philosophie«, Bd. 1, S. 361, heißt es: »Man fühlte, daß die Trugschlüsse nicht richtig waren, konnte aber doch den Fehler nicht entdecken.« – So lange man nun diesen Begriff Gefühl nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet und nicht jenes eine negative Merkmal, welches allein ihm wesentlich ist, erkennt, muß derselbe, wegen der übermäßigen Weite seiner Sphäre und seines bloß negativen, ganz einseitig bestimmten und sehr geringen Gehaltes, beständig Anlaß zu Mißverständnissen und Streitigkeiten geben. Da wir im Deutschen noch das ziemlich gleichbedeutende Wort Empfindung haben, so würde es dienlich sein, dieses für die körperlichen Gefühle, als eine Unterart, in Beschlag zu nehmen. Der Ursprung jenes gegen alle andern disproportionirten Begriffs Gefühl ist aber ohne Zweifel folgender. Alle Begriffe, und nur Begriffe sind es welche Worte bezeichnen, sind nur für die Vernunft da, gehn von ihr aus: man steht mit ihnen also schon auf einem einseitigen Standpunkt. Aber von einem solchen aus erscheint das Nähere deutlich und wird als positiv gesetzt; das Fernere fließt zusammen und wird bald nur noch negativ berücksichtigt; so nennt jede Nation alle Andern Fremde, der Grieche alle Andern Barbaren, der Engländer Alles, was nicht England oder Englisch ist, continent und continental, der Gläubige alle Andern Ketzer, oder Heiden, der Adel alle Andern roturiers, der Student alle Andern Philister u. dgl, m. Die selbe Einseitigkeit, man kann sagen die selbe rohe Unwissenheit aus Stolz, läßt sich, so sonderbar es auch klingt, die Vernunft selbst zu Schulden kommen, indem sie unter den einen Begriff Gefühl jede Modifikation des Bewußtseins befaßt, die nur nicht unmittelbar zu ihrer Vorstellungsweise gehört, d.h. nicht abstrakter Begriff ist. Sie hat dieses bisher, weil ihr eigenes Verfahren ihr nicht durch gründliche Selbstkenntniß deutlich geworden war, büßen müssen durch Mißverständnisse und Verirrungen auf ihrem eigenen Gebiet, da man sogar ein besonderes Gefühlsvermögen aufgestellt hat und nun Theorien desselben konstruirt.
§ 12
Wissen, als dessen kontradiktorisches Gegentheil ich soeben den Begriff Gefühl erörtert habe, ist, wie gesagt, jede abstrakte Erkenntnis, d.h. VernunftErkenntnis. Da nun aber die Vernunft immer nur das anderweitig Empfangene wieder vor die Erkenntnis bringt, so erweitert sie nicht eigentlich unser Erkennen, sondern giebt ihm bloß eine andere Form. Nämlich was intuitiv, was in concreto erkannt wurde, läßt sie abstrakt und allgemein erkennen. Dies ist aber ungleich wichtiger, als es, so ausgedrückt, dem ersten Blicke scheint. Denn alles sichere Aufbewahren, alle Mittheilbarkeit und alle sichere und weitreichende Anwendung der Erkenntnis auf das Praktische hängt davon ab, daß sie ein Wissen, eine abstrakte Erkenntnis geworden sei. Die intuitive Erkenntnis gilt immer nur vom einzelnen Fall, geht nur auf das Nächste, und bleibt bei diesem stehn, weil Sinnlichkeit und Verstand eigentlich nur ein Objekt zur Zeit auffassen können. Jede anhaltende, zusammengesetzte, planmäßige Thätigkeit muß daher von Grundsätzen, also von einem abstrakten Wissen ausgehn und danach geleitet werden. So ist z.B. die Erkenntnis, welche der Verstand vom Verhältniß der Ursache und Wirkung hat, zwar an sich viel vollkommener, tiefer und erschöpfender, als was davon in abstracto sich denken läßt: der Verstand allein erkennt anschaulich unmittelbar und vollkommen die Art des Wirkens eines Hebels, Flaschenzuges, Kammrades, das Ruhen eines Gewölbes in sich selbst u.s.w. Aber wegen der eben berührten Eigenschaft der intuitiven Erkenntnis, nur auf das unmittelbar Gegenwärtige zu gehn, reicht der bloße Verstand nicht hin zur Konstruktion von Maschinen und Gebäuden: vielmehr muß hier die Vernunft eintreten, an die Stelle der Anschauungen abstrakte Begriffe setzen, solche zur Richtschnur des Wirkens nehmen, und waren sie richtig, so wird der Erfolg eintreffen. Eben so erkennen wir in reiner Anschauung vollkommen das Wesen und die Gesetzmäßigkeit einer Parabel, Hyperbel, Spirale; aber um von dieser Erkenntnis sichere Anwendung in der Wirklichkeit zu machen, mußte sie zuvor zum abstrakten Wissen geworden sein, wobei sie freilich die Anschaulichkeit einbüßt, aber dafür die Sicherheit und Bestimmtheit des abstrakten Wissens gewinnt. Also erweitert alle Differentialrechnung eigentlich gar nicht unsere Erkenntnis von den Kurven, enthält nichts mehr, als was schon die bloße reine Anschauung derselben; aber sie ändert die Art der Erkenntnis, verwandelt die intuitive in eine abstrakte, welches für die Anwendung so höchst folgenreich ist. Hier kommt nun aber noch eine Eigenthümlichkeit unsers Erkenntnisvermögens zur Sprache, welche man bisher wohl nicht bemerken konnte, so lange der Unterschied zwischen anschaulicher und abstrakter Erkenntnis nicht vollkommen deutlich gemacht war. Es ist diese, daß die Verhältnisse des Raums nicht unmittelbar und als solche in die abstrakte Erkenntnis übertragen werden können, sondern hiezu allein die zeitlichen Größen, d.h. die Zahlen geeignet sind. Die Zahlen allein können in ihnen genau entsprechenden abstrakten Begriffen ausgedrückt werden, nicht die räumlichen Größen. Der Begriff Tausend ist vom Begriff Zehn genau so verschieden, wie beide zeitliche Größen es in der Anschauung sind: wir denken bei Tausend ein bestimmt vielfaches von Zehn, in welches wir jenes für die Anschauung in der Zeit beliebig auflösen können, d.h. es zählen können. Aber zwischen dem abstrakten Begriff einer Meile und dem eines Fußes, ohne alle anschauliche Vorstellung von beiden und ohne Hülfe der Zahl, ist gar kein genauer und jenen Größen selbst entsprechender Unterschied. In beiden wird überhaupt nur eine räumliche Größe gedacht, und sollen beide hinlänglich unterschieden werden, so muß durchaus entweder die räumliche Anschauung zu Hülfe genommen, also schon das Gebiet der abstrakten Erkenntnis verlassen werden, oder man muß den Unterschied in Zahlen denken. Will man also von den räumlichen Verhältnissen abstrakte Erkenntnis haben, so müssen sie erst in zeitliche Verhältnisse, d.h. in Zahlen, übertragen werden: deswegen ist nur die Arithmetik, nicht die Geometrie, allgemeine Größenlehre, und die Geometrie muß in Arithmetik übersetzt werden, wenn sie Mittheilbarkeit, genaue Bestimmtheit und Anwendbarkeit auf das Praktische haben soll. Zwar läßt sich ein räumliches Verhältniß als solches auch in abstracto denken, z.B. »der Sinus wächst nach Maaßgabe des Winkels«; aber wenn die Größe dieses Verhältnisses angegeben werden soll, bedarf es der Zahl. Diese Nothwendigkeit, daß der Raum, mit seinen drei Dimensionen, in die Zeit, welche nur eine Dimension hat, übersetzt werden muß, wenn man eine abstrakte Erkenntnis (d.h. ein Wissen, kein bloßes Anschauen) seiner Verhältnisse haben will, diese Nothwendigkeit ist es, welche die Mathematik so schwierig macht. Dies wird sehr deutlich, wenn wir die Anschauung der Kurven vergleichen mit der analytischen Berechnung derselben, oder auch nur die Tafeln der Logarithmen der trigonometrischen Funktionen mit der Anschauung der wechselnden Verhältnisse der Theile des Dreiecks, welche durch jene ausgedrückt werden: was hier die Anschauung in einem Blick, vollkommen und mit äußerster Genauigkeit auffaßt, nämlich wie der Kosinus abnimmt, indem der Sinus wächst, wie der Kosinus des einen Winkels der Sinus des andern ist, das umgekehrte Verhältniß der Ab- und Zunahme beider Winkel u.s.w., welches Ungeheuern Gewebes von Zahlen, welcher mühsäligen Rechnung bedurfte es nicht, um dieses in abstracto auszudrücken: wie muß nicht, kann man sagen, die Zeit mit ihrer einen Dimension sich quälen, um die drei Dimensionen des Raumes wiederzugeben! Aber dies war nothwendig, wenn wir, zum Behuf der Anwendung, die Verhältnisse des Raumes in abstrakte Begriffe niedergelegt besitzen wollten: unmittelbar konnten jene nicht in diese eingehn, sondern nur durch Vermittelung der rein zeitlichen Größe, der Zahl, als welche allein der abstrakten Erkenntnis sich unmittelbar anfügt. Noch ist bemerkenswerth, daß, wie der Raum sich so sehr für die Anschauung eignet und, mittelst seiner drei Dimensionen, selbst komplicirte Verhältnisse leichtübersehn läßt, dagegen der abstrakten Erkenntnis sich entzieht; umgekehrt die Zeit zwar leicht in die abstrakten Begriffe eingeht, dagegen aber der Anschauung sehr wenig giebt: unsere Anschauung der Zahlen in ihrem eigenthümlichen Element, der bloßen Zeit, ohne Hinzuziehung des Raumes, geht kaum bis Zehn; darüber hinaus haben wir nur noch abstrakte Begriffe, nicht mehr anschauliche Erkenntnis der Zahlen: hingegen verbinden wir mit jedem Zahlwort und allen algebraischen Zeichen genau bestimmte abstrakte Begriffe.
Nebenbei ist hier zu bemerken, daß manche Geister nur im anschaulich Erkannten völlige Befriedigung finden. Grund und Folge des Seins im Raum anschaulich dargelegt, ist es, was sie suchen: ein Eukleidischer Beweis, oder eine arithmetische Auflösung räumlicher Probleme, spricht sie nicht an. Andere Geister hingegen verlangen die zur Anwendung und Mittheilung allein brauchbaren abstrakten Begriffe: sie haben Geduld und Gedächtniß für abstrakte Sätze, Formeln, Beweisführungen in langen Schlußketten, und Rechnungen, deren Zeichen die komplicirtesten Abstraktionen vertreten. Diese suchen Bestimmtheit: jene Anschaulichkeit. Der Unterschied ist charakteristisch.
Das Wissen, die abstrakte Erkenntnis, hat ihren größten Werth in der Mittheilbarkeit und in der Möglichkeit, fixirt aufbehalten zu werden: erst hiedurch wird sie für das Praktische so unschätzbar wichtig. Einer kann vom kausalen Zusammenhange der Veränderungen und Bewegungen natürlicher Körper eine unmittelbare, anschauliche Erkenntnis im bloßen Verstande haben und in derselben völlige Befriedigung finden; aber zur Mittheilung wird sie erst geschickt, nachdem er sie in Begriffen fixirt hat. Selbst für das Praktische ist eine Erkenntnis der ersten Art hinreichend, sobald er auch die Ausführung ganz allein übernimmt, und zwar in einer, während noch die anschauliche Erkenntnis lebendig ist, ausführbaren Handlung; nicht aber, wenn er fremder Hülfe, oder auch nur eines zu verschiedenen Zeiten eintretenden eigenen Handelns und daher eines überlegten Planes bedarf. So kann z.B. ein geübter Billiardspieler eine vollständige Kenntniß der Gesetze des Stoßes elastischer Körper auf einander haben, bloß im Verstande, bloß für die unmittelbare Anschauung, und er reicht damit vollkommen aus: hingegen hat nur der wissenschaftliche Mechaniker ein eigentliches Wissen jener Gesetze, d.h. eine Erkenntnis in abstracto davon. Selbst zur Konstruktion von Maschinen reicht jene bloß intuitive VerstandesErkenntnis hin, wenn der Erfinder der Maschine sie auch allein ausführt, wie man oft an talentvollen Handwerkern ohne alle Wissenschaft sieht: hingegen sobald mehrere Menschen und eine zusammengesetzte, zu verschiedenen Zeitpunkten eintretende Thätigkeit derselben zur Ausführung einer mechanischen Operation, einer Maschine, eines Baues nöthig sind, muß der, welcher sie leitet, den Plan in abstracto entworfen haben, und nur durch Beihülfe der Vernunft ist eine solche zusammenwirkende Thätigkeit möglich. Merkwürdig ist es aber, daß bei jener ersten Art von Thätigkeit, wo Einer allein, in einer ununterbrochenen Handlung etwas ausführen soll, das Wissen, die Anwendung der Vernunft, die Reflexion ihm sogar oft hinderlich sein kann, z.B. eben beim Billiardspielen, beim Fechten, beim Stimmen eines Instruments, beim Singen: hier muß die anschauliche Erkenntnis die Thätigkeit unmittelbar leiten: das Durchgehn durch die Reflexion macht sie unsicher, indem es die Aufmerksamkeit theilt und den Menschen verwirrt. Darum führen Wilde und rohe Menschen, die sehr wenig zu denken gewohnt sind, manche Leibesübungen, den Kampf mit Thieren, das Treffen mit dem Pfeil u. dgl. mit einer Sicherheit und Geschwindigkeit aus, die der reflektirende Europäer nie erreicht, eben weil seine Ueberlegung ihn schwanken und zaudern macht: denn er sucht z.B. die rechte Stelle, oder den rechten Zeitpunkt, aus dem gleichen Abstand von beiden falschen Extremen zu finden: der Naturmensch trifft sie unmittelbar, ohne auf die Abwege zu reflektiren. Eben so hilft es mir nicht, wenn ich den Winkel, in welchem ich das Rasiermesser anzusetzen habe, nach Graden und Minuten in abstracto anzugeben weiß, wenn ich ihn nicht intuitiv kenne, d.h. im Griff habe. Auf gleiche Weise störend ist ferner die Anwendung der Vernunft bei dem Verständniß der Physiognomie: auch dieses muß unmittelbar durch den Verstand geschehn: der Ausdruck, die Bedeutung der Züge läßt sich nur fühlen, sagt man, d.h. eben geht nicht in die abstrakten Begriffe ein. Jeder Mensch hat seine unmittelbare intuitive Physiognomik und Pathognomik: doch erkennt Einer deutlicher, als der Andere, jene signatura rerum. Aber eine Physiognomik in abstracto zum Lehren und Lernen ist nicht zu Stande zu bringen; weil die Nuancen hier so fein sind, daß der Begriff nicht zu ihnen herab kann; daher das abstrakte Wissen sich zu ihnen verhält, wie ein musivisches Bild zu einem van der Werft oder Denner: wie, so fein auch die Musaik ist, die Gränzen der Steine doch stets bleiben und daher kein stetiger Uebergang einer Tinte in die andere möglich ist; so sind auch die Begriffe, mit ihrer Starrheit und scharfen Begränzung; so fein man sie auch durch nähere Bestimmung spalten möchte, stets unfähig, die feinen Modifikationen des Anschaulichen zu erreichen, auf welche es, bei der hier zum Beispiel genommenen Physiognomik, gerade ankommt20.
Diese nämliche Beschaffenheit der Begriffe, welche sie den Steinen des Musivbildes ähnlich macht, und vermöge welcher die Anschauung stets ihre Asymptote bleibt, ist auch der Grund, weshalb in der Kunst nichts Gutes durch sie geleistet wird. Will der Sänger, oder Virtuose, seinen Vortrag durch Reflexion leiten, so bleibt er todt. Das Selbe gilt vom Komponisten, vom Maler, ja vom Dichter: immer bleibt für die Kunst der Begriff unfruchtbar: bloß das Technische in ihr mag er leiten: sein Gebiet ist die Wissenschaft. Wir werden im dritten Buch näher untersuchen, weshalb alle ächte Kunst aus der anschaulichen Erkenntnis hervorgeht, nie aus dem Begriff. – Sogar auch in Hinsicht auf das Betragen, auf die persönliche Annehmlichkeit im Umgange, taugt der Begriff nur negativ, um die groben Ausbrüche des Egoismus und der Bestialität zurückzuhalten, wie denn die Höflichkeit sein löbliches Werk ist; aber das Anziehende, Gratiose, Einnehmende des Betragens, das Liebevolle und Freundliche, darf nicht aus dem Begriff hervorgegangen sein: sonst
»fühlt man Absicht und man ist verstimmt.«
Alle Verstellung ist Werk der Reflexion; aber auf die Dauer und unausgesetzt ist sie nicht haltbar: nemo potest personam diu ferre fictam, sagt Seneka, im Buche de clementia: auch wird sie dann meistens erkannt und verfehlt ihre Wirkung. Im hohen Lebensdrange, wo es schneller Entschlüsse, kecken Handelns, raschen und festen Eingreifens bedarf, ist zwar Vernunft nöthig, kann aber, wenn sie die Oberhand gewinnt und das intuitive, unmittelbare, rein verständige Ausfinden und zugleich Ergreifen des Rechten verwirrend hindert und Unentschlossenheit herbeiführt, leicht Alles verderben.
Endlich geht auch Tugend und Heiligkeit nicht aus Reflexion hervor, sondern aus der Innern Tiefe des Willens und deren Verhältniß zum Erkennen. Diese Erörterung gehört an eine ganz andere Stelle dieser Schrift: nur so viel mag ich hier bemerken, daß die auf das Ethische sich beziehenden Dogmen in der Vernunft ganzer Nationen die selben sein können, aber das Handeln in jedem Individuo ein anderes, und so auch umgekehrt: das Handeln geschieht, wie man spricht, nach Gefühlen: d.h. eben nur nicht nach Begriffen, nämlich dem ethischen Gehalte nach. Die Dogmen beschäftigen die müßige Vernunft: das Handeln geht zuletzt unabhängig von ihnen seinen Gang, meistens nicht nach abstrakten, sondern nach unausgesprochenen Maximen, deren Ausdruck eben der ganze Mensch selbst ist. Daher, wie verschieden auch die religiösen Dogmen der Völker sind, so ist doch bei allen die gute That von unaussprechlicher Zufriedenheit, die böse von unendlichem Grausen begleitet: erstere erschüttert kein Spott: von letzterem befreit keine Absolution des Beichtvaters. Jedoch soll hiedurch nicht geleugnet werden, daß bei der Durchführung eines tugendhaften Wandels Anwendung der Vernunft nöthig sei: nur ist sie nicht die Quelle desselben; sondern ihre Funktion ist eine untergeordnete, nämlich die Bewahrung gefaßter Entschlüsse, das Vorhalten der Maximen, zum Widerstand gegen die Schwäche des Augenblicks und zur Konsequenz des Handelns. Das Selbe leistet sie am Ende auch in der Kunst, wo sie doch eben so in der Hauptsache nichts vermag, aber die Ausführung unterstützt, eben weil der Genius nicht in jeder Stunde zu Gebote steht, das Werk aber doch in allen Theilen vollendet und zu einem Ganzen gerundet sein soll21.
§ 13
Alle diese Betrachtungen sowohl des Nutzens, als des Nachtheils der Anwendung der Vernunft, sollen dienen deutlich zu machen, daß, obwohl das abstrakte Wissen der Reflex der anschaulichen Vorstellung und auf diese gegründet ist, es ihr doch keineswegs so kongruirt, daß es überall die Stelle derselben vertreten könnte: vielmehr entspricht es ihr nie ganz genau; daher wie wir gesehn haben, zwar viele der menschlichen Verrichtungen nur durch Hülfe der Vernunft und des überlegten Verfahrens, jedoch einige besser ohne deren Anwendung zu Stande kommen. – Eben jene Inkongruenz der anschaulichen und der abstrakten Erkenntnis, vermöge welcher diese sich jener immer nur so annähert, wie die Musivarbeit der Malerei, ist nun auch der Grund eines sehr merkwürdigen Phänomens, welches, eben wie die Vernunft, der menschlichen Natur ausschließlich eigen ist, dessen bisher immer von Neuem versuchte Erklärungen aber alle ungenügend sind: ich meine das Lachen. Wir können, dieses seines Ursprunges wegen, uns einer Erörterung desselben an dieser Stelle nicht entziehn, obwohl sie unsern Gang von Neuem aufhält. Das Lachen entsteht jedesmal aus nichts Anderm, als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen einem Begriff und den realen Objekten, die durch ihn, in irgend einer Beziehung, gedacht worden waren, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser Inkongruenz. Sie tritt oft dadurch hervor, daß zwei oder mehrere reale Objekte durch einen Begriff gedacht und seine Identität auf sie übertragen wird; darauf aber eine gänzliche Verschiedenheit derselben im Uebrigen es auffallend macht, daß der Begriff nur in einer einseitigen Rücksicht auf sie paßte. Eben so oft jedoch ist es ein einziges reales Objekt, dessen Inkongruenz zu dem Begriff, dem es einerseits mit Recht subsumirt worden, plötzlich fühlbar wird. Je richtiger nun einerseits die Subsumtion solcher Wirklichkeiten unter den Begriff ist, und je größer und greller andererseits ihre Unangemessenheit zu ihm, desto stärker ist die aus diesem Gegensatz entspringende Wirkung des Lächerlichen. Jedes Lachen also entsteht auf Anlaß einer paradoxen und daher unerwarteten Subsumtion; gleichviel ob diese durch Worte, oder Thaten sich ausspricht. Dies ist in der Kürze die richtige Erklärung des Lächerlichen.
Ich werde mich hier nicht damit aufhalten, Anekdoten als Beispiele desselben zu erzählen, um daran meine Erklärung zu erläutern: denn diese ist so einfach und faßlich, daß sie dessen nicht bedarf, und zum Beleg derselben ist jedes Lächerliche, dessen sich der Leser erinnert, auf gleiche Weise tauglich. Wohl aber erhält unsere Erklärung Bestätigung und Erläuterung zugleich durch die Entfaltung zweier Arten des Lächerlichen, in welche es zerfällt, und die eben aus jener Erklärung hervorgehn. Entweder nämlich sind in der Erkenntnis zwei oder mehrere sehr verschiedene reale Objekte, anschauliche Vorstellungen, vorhergegangen, und man hat sie willkürlich durch die Einheit eines beide fassenden Begriffes Identificirt; diese Art des Lächerlichen heißt Witz. Oder aber umgekehrt, der Begriff ist in der Erkenntnis zuerst da, und man geht nun von ihm zur Realität und zum Wirken auf dieselbe, zum Handeln über: Objekte, die übrigens grundverschieden, aber alle in jenem Begriffe gedacht sind, werden nun auf gleiche Weise angesehn und behandelt, bis ihre übrige große Verschiedenheit zur Ueberraschung und zum Erstaunen des Handelnden hervortritt: diese Art des Lächerlichen heißt Narrheit. Demnach ist jedes Lächerliche entweder ein witziger Einfall, oder eine närrische Handlung, je nachdem von der Diskrepanz der Objekte auf die Identität des Begriffs, oder aber umgekehrt gegangen wurde: ersteres immer willkürlich, letzteres immer unwillkürlich und von außen aufgedrungen. Diesen Ausgangspunkt nun aber scheinbar umzukehren und Witz als Narrheit zu maskiren, ist die Kunst des Hofnarren und des Hanswurst: ein solcher, der Diversität der Objekte sich wohl bewußt, vereinigt dieselben, mit heimlichem Witz, unter einem Begriff, von welchem sodann ausgehend er von der nachher gefundenen Diversität der Objekte diejenige Ueberraschung erhält, welche er selbst sich vorbereitet hatte. – Es ergiebt sich aus dieser kurzen, aber hinreichenden Theorie des Lächerlichen, daß, letztem Fall der Lustigmacher bei Seite gesetzt, der Witz sich immer in Worten zeigen muß, die Narrheit aber meistens in Handlungen, wiewohl auch in Worten, wenn sie nämlich nur ihr Vorhaben ausspricht, statt es wirklich zu vollführen, oder auch sich in bloßen Urtheilen und Meinungen äußert.
Zur Narrheit gehört auch die Pedanterei. Sie entsteht daraus, daß man wenig Zutrauen zu seinem eigenen Verstande hat und daher ihm es nicht überlassen mag, im einzelnen Fall unmittelbar das Rechte zu erkennen, demnach ihn ganz und gar unter die Vormundschaft der Vernunft stellt und sich dieser überall bedienen, d.h. immer von allgemeinen Begriffen, Regeln, Maximen ausgehn und sich genau an sie halten will, im Leben, in der Kunst, ja im ethischen Wohlverhalten. Daher das der Pedanterei eigene Kleben an der Form, an der Manier, am Ausdruck und Wort, welche bei ihr an die Stelle des Wesens der Sache treten. Da zeigt sich denn bald die Inkongruenz des Begriffs zur Realität, zeigt sich, wie jener nie auf das Einzelne herabgeht und wie seine Allgemeinheit und starre Bestimmtheit nie genau zu den feinen Nuancen und mannigfaltigen Modifikationen der Wirklichkeit passen kann. Der Pedant kommt daher mit seinen allgemeinen Maximen im Leben fast immer zu kurz, zeigt sich unklug, abgeschmackt, unbrauchbar: in der Kunst, für die der Begriff unfruchtbar ist, producirt er leblose, steife, manierirte Aftergeburten. Sogar in ethischer Hinsicht kann der Vorsatz, recht oder edel zu handeln, nicht überall nach abstrakten Maximen ausgeführt werden; weil in vielen Fällen die unendlich fein nüancirte Beschaffenheit der Umstände eine unmittelbar aus dem Charakter hervorgegangene Wahl des Rechten nöthig macht, indem die Anwendung bloß abstrakter Maximen theils, weil sie nur halb passen, falsche Resultate giebt, theils nicht durchzuführen ist, indem sie dem individuellen Charakter des Handelnden fremd sind und dieser sich nie ganz verleugnen läßt: daher dann Inkonsequenzen folgen. Wir können Kanten, sofern er zur Bedingung des moralischen Werths einer Handlung macht, daß sie aus rein vernünftigen abstrakten Maximen, ohne alle Neigung oder momentane Aufwallung geschehe, vom Vorwurf der Veranlassung moralischer Pedanterei nicht ganz frei sprechen; welcher Vorwurf auch der Sinn des Schillerschen Epigramms, »Gewissensskrupel« überschrieben, ist. – Wenn, besonders in politischen Angelegenheiten, geredet wird von Doktrinairs, Theoretikern, Gelehrten u.s.w.; so sind Pedanten gemeint, d.h. Leute, welche die Dinge wohl in abstracto, aber nicht in concreto kennen. Die Abstraktion besteht im Wegdenken der näheren Bestimmungen: gerade auf diese aber kommt im Praktischen sehr viel an.
Noch ist, zur Vervollständigung der Theorie, eine Afterart des Witzes zu erwähnen, das Wortspiel, calembourg, pun, zu welchem auch die Zweideutigkeit, l'équivoque, deren Hauptgebrauch der obscöne (die Zote) ist, gezogen werden kann. Wie der Witz zwei sehr verschiedene reale Objekte unter einen Begriff zwingt, so bringt das Wortspiel zwei verschiedene Begriffe, durch Benutzung des Zufalls, unter ein Wort: der selbe Kontrast entsteht wieder, aber viel matter und oberflächlicher, weil er nicht aus dem Wesen der Dinge, sondern aus dem Zufall der Namengebung entsprungen ist. Beim Witz ist die Identität im Begriff, die Verschiedenheit in der Wirklichkeit; beim Wortspiel aber ist die Verschiedenheit in den Begriffen und die Identität in der Wirklichkeit, als zu welcher der Wortlaut gehört. Es wäre nur ein etwas zu gesuchtes Gleichniß, wenn man sagte, das Wortspiel verhalte sich zum Witz, wie die Hyperbel des obern umgekehrten Kegels zu der des untern. Der Mißverstand des Worts aber, oder das quid pro quo, ist der unwillkürliche Calembourg, und verhält sich zu diesem gerade so wie die Narrheit zum Witz; daher auch muß oft der Harthörige, so gut wie der Narr, Stoff zum Lachen geben, und schlechte Komödienschreiber brauchen jenen statt diesen, um Lachen zu erregen.
Ich habe das Lachen hier bloß von der psychischen Seite betrachtet: hinsichtlich der physischen verweise ich auf das in Parerga, Bd. 2, Kap. 6, § 96, S. 134 (erste Aufl.), darüber Beigebrachte.22
§ 14
Von allen diesen mannigfaltigen Betrachtungen, durch welche hoffentlich der Unterschied und das Verhältniß zwischen der Erkenntnisweise der Vernunft, dem Wissen, dem Begriff einerseits, und der unmittelbaren Erkenntnis in der reinsinnlichen, mathematischen Anschauung und der Auffassung durch den Verstand andererseits, zu völliger Deutlichkeit gebracht ist, ferner auch von den episodischen Erörterungen über Gefühl und Lachen, auf welche wir durch die Betrachtung jenes merkwürdigen Verhältnisses unserer Erkenntnisweisen fast unumgänglich geleitet wurden, – kehre ich nunmehr zurück zur fernern Erörterung der Wissenschaft, als des, neben Sprache und besonnenem Handeln, dritten Vorzugs, den die Vernunft dem Menschen giebt. Die allgemeine Betrachtung der Wissenschaft, die uns hier obliegt, wird theils ihre Form, theils die Begründung ihrer Urtheile, endlich auch ihren Gehalt betreffen.
Wir haben gesehn, daß, die Grundlage der reinen Logik ausgenommen, alles Wissen überhaupt seinen Ursprung nicht in der Vernunft selbst hat; sondern, anderweitig als anschauliche Erkenntnis gewonnen, in ihr niedergelegt ist, indem es dadurch in eine ganz andere Erkenntnisweise, die abstrakte, übergieng. Alles Wissen, d.h. zum Bewußtsein in abstracto erhobene Erkenntnis, verhält sich zur eigentlichen Wissenschaft, wie ein Bruchstück zum Ganzen. Jeder Mensch hat durch Erfahrung, durch Betrachtung des sich darbietenden Einzelnen, ein Wissen um mancherlei Dinge erlangt; aber nur wer sich die Aufgabe macht, über irgend eine Art von Gegenständen vollständige Erkenntnis in abstracto zu erlangen, strebt nach Wissenschaft. Durch den Begriff allein kann er jene Art aussondern; daher steht an der Spitze jeder Wissenschaft ein Begriff, durch welchen der Theil aus dem Ganzen aller Dinge gedacht wird, von welchem sie eine vollständige Erkenntnis in abstracto verspricht: z.B. der Begriff der räumlichen Verhältnisse, oder des Wirkens unorganischer Körper auf einander, oder der Beschaffenheit der Pflanzen, der Thiere, oder der successiven Veränderungen der Oberfläche des Erdballs, oder der Veränderungen des Menschengeschlechts im Ganzen, oder des Baues einer Sprache u.s.w. Wollte die Wissenschaft die Kenntniß von ihrem Gegenstande dadurch erlangen, daß sie alle durch den Begriff gedachten Dinge einzeln erforschte, bis sie so allmälig das Ganze erkannt hätte; so würde theils kein menschliches Gedächtniß zureichen, theils keine Gewißheit der Vollständigkeit zu erlangen sein. Daher benutzt sie jene oben erörterte Eigenthümlichkeit der Begriffssphären, einander einzuschließen, und geht hauptsächlich auf die weiteren Sphären, welche innerhalb des Begriffs ihres Gegenstandes überhaupt liegen: indem sie deren Verhältnisse zu einander bestimmt hat, ist eben damit auch alles in ihnen Gedachte im Allgemeinen mit bestimmt und kann nun, mittelst Aussonderung immer engerer Begriffssphären, genauer und genauer bestimmt werden. Hiedurch wird es möglich, daß eine Wissenschaft ihren Gegenstand ganz umfasse. Dieser Weg, den sie zur Erkenntnis geht, nämlich vom Allgemeinen zum Besonderen, unterscheidet sie vom gemeinen Wissen: daher ist die systematische Form ein wesentliches und charakteristisches Merkmal der Wissenschaft. Die Verbindung der allgemeinsten Begriffssphären jeder Wissenschaft, d.h. die Kenntniß ihrer obersten Sätze, ist unumgängliche Bedingung ihrer Erlernung: wie weit man von diesen auf die mehr besonderen Sätze gehn will, ist beliebig und vermehrt nicht die Gründlichkeit, sondern den Umfang der Gelehrsamkeit. – Die Zahl der oberen Sätze, welchen die übrigen alle untergeordnet sind, ist in den verschiedenen Wissenschaften sehr verschieden, so daß in einigen mehr Subordination, in andern mehr Koordination ist; in welcher Hinsicht jene mehr die Urtheilskraft, diese das Gedächtniß in Anspruch nehmen. Es war schon den Scholastikern bekannt23, daß, weil der Schluß zwei Prämissen erfordert, keine Wissenschaft von einem einzigen nicht weiter abzuleitenden Obersatz ausgehn kann; sondern deren mehrere, wenigstens zwei, haben muß. Die eigentlich klassificirenden Wissenschaften: Zoologie, Botanik, auch Physik und Chemie, sofern diese letzteren auf wenige Grundkräfte alles unorganische Wirken zurückführen, haben die meiste Subordination; hingegen hat Geschichte eigentlich gar keine, da das Allgemeine in ihr bloß in der Uebersicht der Hauptperioden besteht, aus denen aber die besonderen Begebenheiten sich nicht ableiten lassen und ihnen nur der Zeit nach subordinirt, dem Begriff nach koordinirt sind: daher Geschichte, genau genommen, zwar ein Wissen, aber keine Wissenschaft ist. In der Mathematik sind zwar, nach der Eukleidischen Behandlung, die Axiome die allein indemonstrabeln Obersätze und ihnen alle Demonstrationen stufenweise streng subordinirt: jedoch ist diese Behandlung ihr nicht wesentlich, und in der That hebt jeder Lehrsatz doch wieder eine neue räumliche Konstruktion an, die an sich von den vorherigen unabhängig ist und eigentlich auch völlig unabhängig von ihnen erkannt werden kann, aus sich selbst, in der reinen Anschauung des Raumes, in welcher auch die verwickelteste Konstruktion eigentlich so unmittelbar evident ist, wie das Axiom: doch davon ausführlich weiter unten. Inzwischen bleibt immer jeder mathematische Satz doch eine allgemeine Wahrheit, welche für unzählige einzelneFälle gilt, auch ist ein stufenweiser Gang von den einfachen Sätzen zu den komplicirten, welche auf jene zurückzuführen sind, ihr wesentlich: also ist Mathematik in jeder Hinsicht Wissenschaft. – Die Vollkommenheit einer Wissenschaft als solcher, d.h. der Form nach, besteht darin, daß so viel wie möglich Subordination und wenig Koordination der Sätze sei. Das allgemein wissenschaftliche Talent ist demnach die Fähigkeit, die Begriffssphären nach ihren verschiedenen Bestimmungen zu subordiniren, damit, wie Plato wiederholentlich anempfiehlt, nicht bloß ein Allgemeines und unmittelbar unter diesem eine unübersehbare Mannigfaltigkeit neben einander gestellt die Wissenschaft ausmache; sondern vom Allgemeinsten zum Besonderen die Kenntniß allmälig herabschreite, durch Mittelbegriffe und nach immer näheren Bestimmungen gemachte Eintheilungen. Nach Kants Ausdrücken heißt dies, dem Gesetz der Homogeneität und dem der Specifikation gleichmäßig Genüge leisten. Eben daraus aber, daß dieses die eigentliche wissenschaftliche Vollkommenheit ausmacht, ergiebt sich, daß der Zweck der Wissenschaft nicht größere Gewißheit ist: denn diese kann auch die abgerissenste einzelne Erkenntnis eben so sehr haben; sondern Erleichterung des Wissens, durch die Form desselben, und dadurch gegebene Möglichkeit der Vollständigkeit des Wissens. Es ist deshalb eine zwar gangbare, aber verkehrte Meinung, daß Wissenschaftlichkeit der Erkenntnis in der größern Gewißheit bestehe, und eben so falsch ist die hieraus hervorgegangene Behauptung, daß nur Mathematik und Logik Wissenschaften im eigentlichen Sinne wären; weil nur in ihnen, wegen ihrer gänzlichen Apriorität, unumstößliche Gewißheit der Erkenntnis ist. Dieser letztere Vorzug selbst ist ihnen nicht abzustreiten: nur giebt er ihnen keinen besonderen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, als welche nicht in der Sicherheit, sondern in der durch das stufenweise Herabsteigen vom Allgemeinen zum Besonderen begründeten systematischen Form der Erkenntnis liegt. – Dieser den Wissenschaften eigenthümliche Weg der Erkenntnis, vom Allgemeinen zum Besonderen, bringt es mit sich, daß in ihnen Vieles durch Ableitung aus vorhergegangenen Sätzen, also durch Beweise, begründet wird, und dies hat den alten Irrthum veranlaßt, daß nur das Bewiesene vollkommen wahr sei und jede Wahrheit eines Beweises bedürfe; da vielmehr im Gegentheil jeder Beweis einer unbewiesenen Wahrheit bedarf, die zuletztihn, oder auch wieder seine Beweise, stützt: daher eine unmittelbar begründete Wahrheit der durch einen Beweis begründeten so vorzuziehn ist, wie Wasser aus der Quelle dem aus dem Aquädukt, Anschauung, theils reine a priori, wie sie die Mathematik, theils empirische a posteriori, wie sie alle andern Wissenschaften begründet, ist die Quelle aller Wahrheit und die Grundlage aller Wissenschaft. (Auszunehmen ist allein die auf nichtanschauliche, aber doch unmittelbare Kenntniß der Vernunft von ihren eigenen Gesetzen gegründete Logik.) Nicht die bewiesenen Urtheile, noch ihre Beweise; sondern jene aus der Anschauung unmittelbar geschöpften und auf sie, statt alles Beweises, gegründeten Urtheile sind in der Wissenschaft das, was die Sonne im Weltgebäude: denn von ihnen geht alles Licht aus, von welchem erleuchtet die andern wieder leuchten. Unmittelbar aus der Anschauung die Wahrheit solcher ersten Urtheile zu begründen, solche Grundvesten der Wissenschaft aus der unübersehbaren Menge realer Dinge herauszuheben; das ist das Werk der Urtheilskraft, welche in dem Vermögen, das anschaulich Erkannte richtig und genau ins abstrakte Bewußtsein zu übertragen, besteht, und demnach die Vermittlerin zwischen Verstand und Vernunft ist. Nur ausgezeichnete und das gewöhnliche Maaß überschreitende Stärke derselben in einem Individuo kann die Wissenschaften wirklich weiter bringen; aber Sätze aus Sätzen zu folgern, zu beweisen, zu schließen, vermag Jeder, der nur gesunde Vernunft hat. Hingegen das anschaulich Erkannte in angemessene Begriffe für die Reflexion absetzen und fixiren, so daß einerseits das Gemeinsame vieler realen Objekte durch einen Begriff, andererseits ihr Verschiedenes durch eben so viele Begriffe gedacht wird, und also das Verschiedene, trotz einer theilweisen Uebereinstimmung, doch als verschieden, dann aber wieder das Identische, trotz einer theilweisen Verschiedenheit, doch als identisch erkannt und gedacht wird, Alles gemäß dem Zweck und der Rücksicht, die jedesmal obwalten: dies Alles thut die Urtheilskraft. Mangel derselben ist Einfalt. Der Einfältige verkennt bald die theilweise oder relative Verschiedenheit des in einer Rücksicht Identischen, bald die Identität des relativ oder theilweise Verschiedenen. Uebrigens kann auch auf diese Erklärung der Urtheilskraft Kants Eintheilung derselben in reflektirende und subsumirende angewandt werden, je nachdem sie nämlich von den anschaulichen Objekten zum Begriff, oder von diesem zu jenen übergeht, in beiden Fällen immer vermittelnd zwischen der anschaulichen Erkenntnis des Verstandes und der reflektiven der Vernunft. – Es kann keine Wahrheit geben, die unbedingt allein durch Schlüsse herauszubringen wäre; sondern die Nothwendigkeit, sie bloß durch Schlüsse zu begründen, ist immer nur relativ. Ja subjektiv. Da alle Beweise Schlüsse sind, so ist für eine neue Wahrheit nicht zuerst ein Beweis, sondern unmittelbare Evidenz zu suchen, und nur so lange es an dieser gebricht, der Beweis einstweilen aufzustellen. Durch und durch beweisbar kann keine Wissenschaft sein; so wenig als ein Gebäude in der Luft stehn kann: alle ihre Beweise müssen auf ein Anschauliches und daher nicht mehr Beweisbares zurückführen. Denn die ganze Welt der Reflexion ruht und wurzelt auf der anschaulichen Welt. Alle letzte, d.h. ursprüngliche Evidenz ist eine anschauliche: dies verräth schon das Wort. Demnach ist sie entweder eine empirische, oder aber auf die Anschauung a priori der Bedingungen möglicher Erfahrung gegründet: in beiden Fällen liefert sie daher nur immanente, nicht transcendente Erkenntnis. Jeder Begriff hat seinen Werth und sein Dasein allein in der, wenn auch sehr vermittelten Beziehung auf eine anschauliche Vorstellung: was von den Begriffen gilt, gilt auch von den aus ihnen zusammengesetzten Urtheilen, und von den ganzen Wissenschaften. Daher muß es irgendwie möglich sein. Jede Wahrheit, die durch Schlüsse gefunden und durch Beweise mitgetheilt wird, auch ohne Beweise und Schlüsse unmittelbar zu erkennen. Am schwersten ist dies gewiß bei manchen komplicirten mathematischen Sätzen, zu denen wir allein an Schlußketten gelangen, z.B. die Berechnung der Sehnen und Tangenten zu allen Bögen, mittelst Schlüssen aus dem Pythagorischen Lehrsatze: allein auch eine solche Wahrheit kann nicht wesentlich und allein auf abstrakten Sätzen beruhen, und auch die ihr zum Grunde liegenden räumlichen Verhältnisse müssen für die reine Anschauung a priori so hervorgehoben werden können, daß ihre abstrakte Aussage unmittelbar begründet wird. Vom Beweisen in der Mathematik wird aber sogleich ausführlich die Rede sein.
Wohl wird oft in hohem Tone geredet von Wissenschaften, welche durchweg auf richtigen Schlüssen aus sichern Prämissen beruhen und deshalb unumstößlich wahr seien. Allein durch rein logische Schlußketten wird man, seien die Prämissen auch noch so wahr, nie mehr erhalten, als eine Verdeutlichung und Ausführung Dessen, was schon in den Prämissen fertig liegt: man wird also nur explicite darlegen was daselbst implicite verstanden war. Mit jenen angerühmten Wissenschaften meint man jedoch besonders die mathematischen, namentlich die Astronomie. Die Sicherheit dieser letzteren stammt aber daher, daß ihr die a priori gegebene, also unfehlbare, Anschauung des Raumes zum Grunde liegt, alle räumlichen Verhältnisse aber eines aus dem andern, mit einer Nothwendigkeit (Seinsgrund), welche Gewißheit a priori liefert, folgen und sich daher mit Sicherheit aus einander ableiten lassen. Zu diesen mathematischen Bestimmungen kommt hier nur noch eine einzige Naturkraft, die Schwere, welche genau im Verhältniß der Massen und des Quadrats der Entfernung wirkt, und endlich das a priori gesicherte, weil aus dem der Kausalität folgende, Gesetz der Trägheit, nebst dem empirischen Datum der ein für alle Mal jeder dieser Massen aufgedrückten Bewegung. Dies ist das ganze Material der Astronomie, welches, sowohl durch seine Einfachheit, als seine Sicherheit, zu festen und, vermöge der Größe und Wichtigkeit der Gegenstände, sehr interessanten Resultaten führt. Z.B. kenne ich die Masse eines Planeten und die Entfernung seines Trabanten von ihm, so kann ich auf die Umlaufszeit dieses mit Sicherheit schließen, nach dem zweiten Keplerschen Gesetz: der Grund dieses Gesetzes ist aber, daß, bei dieser Entfernung, nur diese Velocität den Trabanten zugleich an den Planeten fesselt und ihn vom Hineinfallen in denselben abhält. – Also nur auf solcher geometrischen Grundlage, d.h. mittelst einer Anschauung a priori, und noch dazu unter Anwendung eines Naturgesetzes, da läßt sich mit Schlüssen weit gelangen; weil sie hier gleichsam bloß Brücken von einer anschaulichen Auffassung zur andern sind; nicht aber eben so mit bloßen und reinen Schlüssen, auf dem ausschließlich logischen Wege. – Der Ursprung der ersten astronomischen Grundwahrheiten aber ist eigentlich Induktion, d.h. Zusammenfassung des in vielen Anschauungen Gegebenen in ein richtiges unmittelbar begründetes Urtheil: aus diesem werden nachher Hypothesen gebildet, deren Bestätigung durch die Erfahrung, als der Vollständigkeit sich nähernde Induktion, den Beweis für jenes erste Urtheil giebt. Z.B. die scheinbare Bewegung der Planeten ist empirisch erkannt: nach vielen falschen Hypothesen über den räumlichen Zusammenhang dieser Bewegung (Planetenbahn), ward endlich die richtige gefunden, sodann die Gesetze, welche sie befolgt (die Keplerischen), zuletzt auch die Ursache derselben (allgemeine Gravitation), und sämmtlichen Hypothesen gab die empirisch erkannte Uebereinstimmung aller vorkommenden Fälle mit ihnen und mit den Folgerungen aus ihnen, also Induktion, vollkommene Gewißheit. Die Auffindung der Hypothese war Sache der Urtheilskraft, welche die gegebene Thatsache richtig auffaßte und demgemäß ausdrückte; Induktion aber, d.h. vielfache Anschauung, bestätigte ihre Wahrheit. Aber sogar auch unmittelbar, durch eine einzige empirische Anschauung, könnte diese begründet werden, sobald wir die Welträume frei durchlaufen könnten und teleskopische Augen hätten. Folglich sind Schlüsse auch hier nicht die wesentliche und einzige Quelle der Erkenntnis, sondern immer wirklich nur ein Nothbehelf.
Endlich wollen wir, um ein drittes heterogenes Beispiel aufzustellen, noch bemerken, daß auch die sogenannten metaphysischen Wahrheiten, d.h. solche, wie sie Kant in den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft aufstellt, nicht den Beweisen ihre Evidenz verdanken. Das a priori Gewisse erkennen wir unmittelbar: es ist, als die Form aller Erkenntnis, uns mit der größten Nothwendigkeit bewußt. Z.B. daß die Materie beharrt, d.h. weder entstehn, noch vergehn kann, wissen wir unmittelbar als negative Wahrheit: denn unsere reine Anschauung von Raum und Zeit giebt die Möglichkeit der Bewegung; der Verstand giebt, im Gesetz der Kausalität, die Möglichkeit der Aenderung der Form und Qualität; aber zu einem Entstehn oder Verschwinden von Materie gebricht es uns an Formen der Vorstellbarkeit. Daher ist jene Wahrheit zu allen Zeiten, überall und Jedem evident gewesen, noch jemals im Ernst bezweifelt worden; was nicht sein könnte, wenn ihr Erkenntnisgrund kein anderer wäre, als ein so schwieriger auf Nadelspitzen einherschreitender Kantischer Beweis. Ja überdies habe ich (wie im Anhange ausgeführt) Kants Beweis falsch befunden und oben gezeigt, daß nicht aus dem Antheil, den die Zeit, sondern aus dem, welchen der Raum an der Möglichkeit der Erfahrung hat, das Beharren der Materie abzuleiten ist. Die eigentliche Begründung aller in diesem Sinn metaphysisch genannter Wahrheiten, d.h. abstrakter Ausdrücke der nothwendigen und allgemeinen Formen des Erkennens, kann nicht wieder in abstrakten Sätzen liegen; sondern nur im unmittelbaren, sich durch apodiktische und keine Widerlegung besorgende Aussagen a priori kund gebenden Bewußtsein der Formen des Vorstellens. Will man dennoch einen Beweis derselben geben, so kann dieser nur darin bestehn, daß man nachweist, in irgend einer nicht bezweifelten Wahrheit sei die zu beweisende schon als Theil, oder als Voraussetzung enthalten: so habe ich z. B, gezeigt, daß alle empirische Anschauung schon die Anwendung des Gesetzes der Kausalität enthält, dessen Erkenntnis daher Bedingung aller Erfahrung ist und darum nicht erst durch diese gegeben und bedingt sein kann, wie Hume behauptete. – Beweise sind überhaupt weniger für die, welche lernen, als für die, welche disputiren wollen. Diese leugnen hartnäckig die unmittelbar begründete Einsicht: nur die Wahrheit kann nach allen Seiten konsequent sein; man muß daher jenen zeigen, daß sie unter einer Gestalt und mittelbar zugeben, was sie unter einer andern Gestalt und unmittelbar leugnen, also den logisch nothwendigen Zusammenhang zwischen dem Geleugneten und dem Zugestandenen.
Außerdem bringt aber auch die wissenschaftliche Form, nämlich Unterordnung alles Besonderen unter ein Allgemeines und so immerfort aufwärts, es mit sich, daß die Wahrheit vieler Sätze nur logisch begründet wird, nämlich durch die Abhängigkeit von andern Sätzen, also durch Schlüsse, die zugleich als Beweise auftreten. Man soll aber nie vergessen, daß diese ganze Form nur ein Erleichterungsmittel der Erkenntnis ist, nicht aber ein Mittel zu größerer Gewißheit. Es ist leichter, die Beschaffenheit des Thieres aus der Species, zu der es gehört, und so aufwärts aus dem genus, der Familie, der Ordnung, der Klasse zu erkennen, als das jedesmal gegebene Thier für sich zu untersuchen; aber die Wahrheit aller durch Schlüsse abgeleiteter Sätze ist immer nur bedingt und zuletzt abhängig von irgend einer, die nicht auf Schlüssen, sondern auf Anschauung beruht. Läge diese letztere uns immer so nahe, wie die Ableitung durch einen Schluß, so wäre sie durchaus vorzuziehn. Denn alle Ableitung aus Begriffen ist, wegen des oben gezeigten mannigfaltigen Ineinandergreifens der Sphären und der oft schwankenden Bestimmung ihres Inhalts, vielen Täuschungen ausgesetzt; wovon so viele Beweise falscher Lehren und Sophismen jeder Art Beispiele sind. – Schlüsse sind zwar der Form nach völlig gewiß: allein sie sind sehr unsicher durch ihre Materie, die Begriffe; weil theils die Sphären dieser oft nicht scharf genug bestimmt sind, theils sich so mannigfaltig durchschneiden, daß eine Sphäre theilweise in vielen andern enthalten ist, und man also willkürlich aus ihr in die eine oder die andere von diesen übergehn kann und von da wieder weiter, wie bereits dargestellt. Oder mit andern Worten: der terminus minor und auch der medius können immer verschiedenen Begriffen untergeordnet werden, aus denen man beliebig den terminus major und den medius wählt, wonach dann der Schluß verschieden ausfällt. – Ueberall folglich ist unmittelbare Evidenz der bewiesenen Wahrheit weit vorzuziehn, und diese nur da anzunehmen, wo jene zu weit herzuholen wäre, nicht aber, wo sie eben so nahe oder gar näher liegt, als diese. Daher sahen wir oben, daß in der That bei der Logik, wo die unmittelbare Erkenntnis uns in jedem einzelnen Fall näher liegt, als die abgeleitete wissenschaftliche, wir unser Denken immer nur nach der unmittelbaren Erkenntnis der Denkgesetze leiten und die Logik unbenutzt lassen24.
§ 15
Wenn wir nun mit unserer Ueberzeugung, daß die Anschauung die erste Quelle aller Evidenz, und die unmittelbare oder vermittelte Beziehung auf sie allein absolute Wahrheit ist, daß ferner der nächste Weg zu dieser stets der sicherste ist, da jede Vermittelung durch Begriffe vielen Täuschungen aussetzt; – wenn wir, sage ich, mit dieser Ueberzeugung uns zur Mathematik wenden, wie sie vom Eukleides als Wissenschaft aufgestellt und bis auf den heutigen Tag im Ganzen geblieben ist; so können wir nicht umhin, den Weg, den sie geht, seltsam, ja verkehrt zu finden. Wir verlangen die Zurückführung jeder logischen Begründung auf eine anschauliche; sie hingegen ist mit großer Mühe bestrebt, die ihr eigenthümliche, überall nahe, anschauliche Evidenz muthwillig zu verwerfen, um ihr eine logische zu substituiren. Wir müssen finden, daß dies ist, wie wenn Jemand sich die Beine abschnitte, um mit Krücken zu gehn, oder wie wenn der Prinz, im »Triumph der Empfindsamkeit«, aus der wirklichen schönen Natur flieht, um sich an einer Theaterdekoration, die sie nachahmt, zu erfreuen. – Ich muß hier an dasjenige erinnern, was ich im sechsten Kapitel der Abhandlung über den Satz vom Grunde gesagt habe, und setze es als dem Leser in frischem Andenken und ganz gegenwärtig voraus; so daß ich hier meine Bemerkungen daran knüpfe, ohne von Neuem den Unterschied auseinanderzusetzen zwischen dem bloßen Erkenntnisgrund einer mathematischen Wahrheit, der logisch gegeben werden kann, und dem Grunde des Seins, welcher der unmittelbare, allein anschaulich zu erkennende Zusammenhang der Theile des Raumes und der Zeit ist, die Einsicht in welchen allein wahre Befriedigung und gründliche Kenntniß gewährt, während der bloße Erkenntnisgrund stets auf der Oberfläche bleibt, und zwar ein Wissen, daß es so ist, aber keines, warum es so ist, geben kann. Eukleides gieng diesen letztern Weg, zum offenbaren Nachtheil der Wissenschaft. Denn z.B. gleich Anfangs, wo er ein für alle Mal zeigen sollte, wie im Dreieck Winkel und Seiten sich gegenseitig bestimmen und Grund und Folge von einander sind, gemäß der Form, die der Satz vom Grund im bloßen Raume hat, und die dort, wie überall, die Nothwendigkeit giebt, daß Eines so ist, wie es ist; weil ein von ihm ganz verschiedenes Anderes so ist, wie es ist; statt so in das Wesen des Dreiecks eine gründliche Einsicht zu geben, stellt er einige abgerissene, beliebig gewählte Sätze über das Dreieck auf und giebt einen logischen Erkenntnisgrund derselben, durch einen mühsäligen, logisch, gemäß dem Satz des Widerspruchs geführten Beweis. Statt einer erschöpfenden Erkenntnis dieser räumlichen Verhältnisse, erhält man daher nur einige beliebig mitgetheilte Resultate aus ihnen, und ist in dem Fall, wie Jemand, dem die verschiedenen Wirkungen einer künstlichen Maschine gezeigt, ihr innerer Zusammenhang und Getriebe aber vorenthalten würde. Daß, was Eukleides demonstrirt, alles so sei, muß man, durch den Satz vom Widerspruch gezwungen, zugeben: warum es aber so ist, erfährt man nicht. Man hat daher fast die unbehagliche Empfindung, wie nach einem Taschenspielerstreich, und in der That sind einem solchen die meisten Eukleidischen Beweise auffallend ähnlich. Fast immer kommt die Wahrheit durch die Hinterthür herein, indem sie sich per accidens aus irgend einem Nebenumstand ergiebt. Oft schließt ein apagogischer Beweis alle Thüren, eine nach der andern zu, und läßt nur die eine offen, in die man nun bloß deswegen hinein muß. Oft werden, wie im Pythagorischen Lehrsatze, Linien gezogen, ohne daß man weiß warum: hinterher zeigt sich, daß es Schlingen waren, die sich unerwartet zuziehn und den Assensus des Lernenden gefangen nehmen, der nun verwundert zugeben muß, was ihm seinem innern Zusammenhang nach völlig unbegreiflich bleibt, so sehr, daß er den ganzen Eukleides durchstudiren kann, ohne eigentliche Einsicht in die Gesetze der räumlichen Verhältnisse zu gewinnen, sondern statt ihrer nur einige Resultate aus ihnen auswendig lernt. Diese eigentliche empirische und unwissenschaftliche Erkenntnis gleicht der des Arztes, welcher Krankheit und Mittel dagegen, aber nicht den Zusammenhang Beider kennt. Dieses alles aber ist die Folge, wenn man die einer Erkenntnisart eigenthümliche Weise der Begründung und Evidenz grillenhaft abweist, und statt ihrer eine ihrem Wesen fremde gewaltsam einführt. Indessen verdient übrigens die Art, wie vom Eukleides dieses durchgesetzt ist, alle Bewunderung, die ihm so viele Jahrhunderte hindurch geworden und so weit gegangen ist, daß man seine Behandlungsart der Mathematik für das Muster aller wissenschaftlichen Darstellung erklärte, nach der man sogar alle andern Wissenschaften zu modeln sich bemühte, später jedoch hievon zurückkam, ohne sehr zu wissen warum. In unsern Augen kann jene Methode des Eukleides in der Mathematik dennoch nur als eine sehr glänzende Verkehrtheit erscheinen. Nun läßt sich aber wohl immer von jeder großen, absichtlich und methodisch betriebenen, dazu vom allgemeinen Beifall begleiteten Verirrung, sie möge das Leben oder die Wissenschaft betreffen, der Grund nachweisen in der zu ihrer Zeit herrschenden Philosophie. – Die Eleaten zuerst hatten den Unterschied, ja öfteren Widerstreit entdeckt zwischen dem Angeschauten, phainomenon, und dem Gedachten, nooumenon25, und hatten ihn zu ihren Philosophemen, auch zu Sophismen, mannigfaltig benutzt. Ihnen folgten später Megariker, Dialektiker, Sophisten, Neu-Akademiker und Skeptiker; diese machten aufmerksam auf den Schein, d.i. auf die Täuschung der Sinne, oder vielmehr des ihre Data zur Anschauung umwandelnden Verstandes, welche uns oft Dinge sehn läßt, denen die Vernunftmit Sicherheit die Realität abspricht, z.B. den gebrochenen Stab im Wasser u. dgl. Man erkannte, daß der sinnlichen Anschauung nicht unbedingt zu trauen sei, und schloß voreilig, daß allein das vernünftige logische Denken Wahrheit begründe; obgleich Plato (im Parmenides), die Megariker, Pyrrhon und die Neu-Akademiker durch Beispiele (in der Art, wie später Sextus Empirikus) zeigten, wie auch andererseits Schlüsse und Begriffe irre führten, ja Paralogismen und Sophismen hervorbrächten, die viel leichter entstehn und viel schwerer zu lösen sind, als der Schein in der sinnlichen Anschauung. Inzwischen behielt jener also im Gegensatz des Empirismus entstandene Rationalismus die Oberhand, und Ihm gemäß bearbeitete Eukleides die Mathematik, also auf die anschauliche Evidenz (phainomenon) bloß die Axiome nachgedrungen stützend, alles Uebrige aber auf Schlüsse (nooumenon). Seine Methode blieb herrschend alle Jahrhunderte hindurch, und mußte es bleiben, so lange nicht die reine Anschauung a priori von der empirischen unterschieden wurde. Zwar scheint schon des Eukleides Kommentator Proklos jenen Unterschied völlig erkannt zu haben, wie die Stelle jenes Kommentators zeigt, welche Kepler in seinem Buch de harmonia mundi lateinisch übersetzt hat: allein Proklos legte nicht genug Gewicht auf die Sache, stellte sie zu isolirt auf, blieb unbeachtet und drang nicht durch. Erst zwei tausend Jahre später daher, wird die Lehre Kants, welche so große Veränderungen in allem Wissen, Denken und Treiben der Europäischen Völker hervorzubringen bestimmt ist, auch in der Mathematik eine solche veranlassen. Denn erst nachdem wir von diesem großen Geiste gelernt haben, daß die Anschauungen des Raumes und der Zeit von der empirischen gänzlich verschieden, von allem Eindruck auf die Sinne gänzlich unabhängig, diesen bedingend, nicht durch ihn bedingt, d.h. a priori sind, und daher dem Sinnentruge gar nicht offen stehn, erst jetzt können wir einsehn, daß des Eukleides logische Behandlungsart der Mathematik eine unnütze Vorsicht, eine Krücke für gesunde Beine ist, daß sie einem Wanderer gleicht, der Nachts einen hellen festen Weg für ein Wasser haltend, sich hütet ihn zu betreten, und stets daneben auf holprigtem Boden geht, zufrieden von Strecke zu Strecke an das vermeinte Wasser zu stoßen. Erst jetzt können wir mit Sicherheit behaupten, daß, was bei der Anschauung einer Figur sich uns als nothwendig ankündigt, nicht aus der auf dem Papier vielleicht sehr mangelhaft gezeichneten Figur kommt, auch nicht aus dem abstrakten Begriff, den wir dabei denken, sondern unmittelbar aus der uns a priori bewußten Form aller Erkenntnis: diese ist überall der Satz vom Grunde: hier ist sie, als Form der Anschauung, d.i. Raum, Satz vom Grunde des Seins: dessen Evidenz und Gültigkeit aber ist eben so groß und unmittelbar, wie die vom Satze des Erkenntnisgrundes, d.i. die logische Gewißheit. Wir brauchen und dürfen also nicht, um bloß der letztern zu trauen, das eigenthümliche Gebiet der Mathematik verlassen, um sie auf einem ihr ganz fremden, dem der Begriffe, zu beglaubigen. Halten wir uns auf jenem der Mathematik eigenthümlichen Boden, so erlangen wir den großen Vortheil, daß in ihr nunmehr das Wissen, daß etwas so sei. Eines ist mit dem, warum es so sei; statt daß die Eukleidische Methode beide gänzlich trennt und bloß das erstere, nicht das letztere erkennen läßt. Aristoteles aber sagt ganz vortrefflich, in den Analyt. post. I, 27: »Akribestera d epistêmê epistêmês kai protera, hête tou hoti kai tou dioti hê autê, alla mê chôris tou hoti, tês tou dioti.« (Subtilior autem et praestantior ea est scientia, quâ quod aliquid sit, et cur sit una simulque intelligimus, non separatim quod, et cur sit.) Sind wir doch in der Physik nur dann befriedigt, wann die Erkenntnis, daß etwas so sei, vereint ist mit der, warum es so ist: daß das Quecksilber in der Torricellianischen Röhre 28 Zoll hoch steht, ist ein schlechtes Wissen, wenn nicht auch hinzukommt, daß es so vom Gegengewicht der Luft gehalten wird. Aber in der Mathematik soll uns die qualitas occulta des Cirkels, daß die Abschnitte jeder zwei in ihm sich schneidender Sehnen stets gleiche Rektangel bilden, genügen? Daß es so sei, beweist freilich Eukleides im 35sten Satze des dritten Buches: das Warum steht noch dahin. Eben so lehrt der Pythagorische Lehrsatz uns eine qualitas occulta des rechtwinklichten Dreiecks kennen: des Eukleides stelzbeiniger, ja hinterlistiger Beweis verläßt uns beim Warum, und beistehende, schon bekannte, einfache Figur giebt auf einen Blick weit mehr, als jener Beweis, Einsicht in die Sache und innere feste Ueberzeugung von jener Nothwendigkeit und von der Abhängigkeit jener Eigenschaft vom rechten Winkel:
Auch bei ungleichen Katheten muß es sich zu einer solchen anschaulichen Ueberzeugung bringen lassen, wie überhaupt bei jeder möglichen geometrischen Wahrheit, schon deshalb, weil ihre Auffindung allemal von einer solchen angeschauten Nothwendigkeit ausgieng und der Beweis erst hinterher hinzu ersonnen ward: man bedarf also nur einer Analyse des Gedankenganges bei der ersten Auffindung einer geometrischen Wahrheit, um ihre Nothwendigkeit anschaulich zu erkennen. Es ist überhaupt die analytische Methode, welche ich für den Vortrag der Mathematik wünsche, statt der synthetischen, welche Eukleides gebraucht hat. Allerdings aber wird dies, bei komplicirten mathematischen Wahrheiten, sehr große, jedoch nicht unüberwindliche Schwierigkeiten haben. Schon fängt man in Deutschland hin und wieder an, den Vortrag der Mathematik zu andern und mehr diesen analytischen Weg zu gehn. Am entschiedensten hat dies Herr Kosack, Lehrer der Mathematik und Physik am Gymnasio zu Nordhausen, gethan, indem er dem Programm zur Schulprüfung am 6. April 1852 einen ausführlichen Versuch, die Geometrie nach meinen Grundsätzen zu behandeln, beigegeben hat.
Um die Methode der Mathematik zu verbessern, wird vorzüglich erfordert, daß man das Vorurtheil aufgebe, die bewiesene Wahrheit habe irgend einen Vorzug vor der anschaulich erkannten, oder die logische, auf dem Satz vom Widerspruch beruhende, vor der metaphysischen, welche unmittelbar evident ist und zu der auch die reine Anschauung des Raumes gehört.
Das Gewisseste und überall Unerklärbare ist der Inhalt des Satzes vom Grunde. Denn dieser, in seinen verschiedenen Gestalten, bezeichnet die allgemeine Form aller unserer Vorstellungen und Erkenntnisse. Alle Erklärung ist Zurückführung auf ihn. Nachweisung im einzelnen Fall des durch ihn überhaupt ausgedrückten Zusammenhangs der Vorstellungen. Er ist sonach das Princip aller Erklärung und daher nicht selbst einer Erklärung fähig, noch ihrer bedürftig, da jede ihn schon voraussetzt und nur durch ihn Bedeutung erhält. Nun hat aber keine seiner Gestalten einen Vorzug vor der andern: er ist gleich gewiß und unbeweisbar als Satz vom Grunde des Seins, oder des Werdens, oder des Handelns, oder des Erkennens. Das Verhältniß des Grundes zur Folge ist, in der einen wie in der andern seiner Gestalten, ein nothwendiges, ja es ist überhaupt der Ursprung, wie die alleinige Bedeutung, des Begriffs der Nothwendigkeit. Es giebt keine andere Nothwendigkeit, als die der Folge, wenn der Grund gegeben ist, und es giebt keinen Grund, der nicht Nothwendigkeit der Folge herbeiführte. So sicher also aus dem in den Prämissen gegebenen Erkenntnisgrunde die im Schlußsatze ausgesprochene Folge fließt, so sicher bedingt der Seinsgrund im Raum seine Folge im Raum: habe ich das Verhältniß dieser Beiden anschaulich erkannt, so ist diese Gewißheit eben so groß, wie irgend eine logische. Ausdruck eines solchen Verhältnisses ist aber jeder geometrische Lehrsatz, eben so gut, wie eines der zwölf Axiome: er ist eine metaphysische Wahrheit und als solche eben so unmittelbar gewiß, wie der Satz vom Widerspruche selbst, der eine metalogische Wahrheit und die allgemeine Grundlage aller logischen Beweisführung ist. Wer die anschaulich dargelegte Nothwendigkeit der in irgend einem Lehrsatze ausgesprochenen räumlichen Verhältnisse leugnet, kann mit gleichem Recht die Axiome leugnen, und mit gleichem Recht die Folge des Schlusses aus den Prämissen, ja den Satz vom Widerspruch selbst: denn alles Dieses sind gleich unbeweisbare, unmittelbar evidente und a priori erkennbare Verhältnisse. Wenn man daher die anschaulich erkennbare Nothwendigkeit räumlicher Verhältnisse erst durch eine logische Beweisführung aus dem Satze vom Widerspruch ableiten will; so ist es nicht anders, als wenn dem unmittelbaren Herrn eines Landes ein anderer dasselbe erst zu Lehn ertheilen wollte. Dies aber ist es, was Eukleides gethan hat. Bloß seine Axiome läßt er nothgedrungen auf unmittelbarer Evidenz beruhen: alle folgenden geometrischen Wahrheiten werden logisch bewiesen, nämlich, unter Voraussetzung jener Axiome, aus der Uebereinstimmung mit den im Lehrsatz gemachten Annahmen, oder mit einem frühern Lehrsatz, oder auch aus dem Widerspruch des Gegentheils des Lehrsatzes mit den Annahmen, den Axiomen, den früheren Lehrsätzen, oder gar sich selbst. Aber die Axiome selbst haben nicht mehr unmittelbare Evidenz, als jeder andere geometrische Lehrsatz, sondern nur mehr Einfachheit durch geringeren Gehalt.
Wenn man einen Delinquenten vernimmt, so nimmt man seine Aussagen zu Protokoll, um aus ihrer Uebereinstimmung ihre Wahrheit zu beurtheilen. Dies ist aber ein bloßer Nothbehelf, bei dem man es nicht bewenden läßt, wenn man unmittelbar die Wahrheit jeder seiner Aussagen für sich erforschen kann; zumal da er von Anfang an konsequent lügen konnte. Jene erste Methode ist es jedoch, nach der Eukleides den Raum erforschte. Zwar gieng er dabei von der richtigen Voraussetzung aus, daß die Natur überall, also auch in ihrer Grundform, dem Raum, konsequent sein muß und daher, weil die Theile des Raumes im Verhältniß von Grund und Folge zu einander stehn, keine einzige räumliche Bestimmung anders sein kann, als sie ist, ohne mit allen andern im Widerspruch zu stehn. Aber dies ist ein sehr beschwerlicher und unbefriedigender Umweg, der die mittelbare Erkenntnis der eben so gewissen unmittelbaren vorzieht, der ferner die Erkenntnis, daß etwas ist, von der, warum es ist, zum großen Nachtheil der Wissenschaft trennt, und endlich dem Lehrling die Einsicht in die Gesetze des Raumes gänzlich vorenthält, ja, ihn entwöhnt vom eigentlichen Erforschen des Grundes und des Innern Zusammenhanges der Dinge, ihn statt dessen anleitend, sich an einem historischen Wissen, daß es so sei, genügen zu lassen. Die dieser Methode so unablässig nachgerühmte Uebung des Scharfsinns besteht aber bloß darin, daß sich der Schüler im Schließen, d.h. im Anwenden des Satzes vorn Widerspruch, übt, besonders aber sein Gedächtniß anstrengt, um alle jene Data, deren Uebereinstimmung zu vergleichen ist, zu behalten.
Es ist übrigens bemerkenswerth, daß diese Beweismethode bloß auf die Geometrie angewandt worden und nicht auf die Arithmetik: vielmehr läßt man in dieser die Wahrheit wirklich allein durch Anschauung einleuchten, welche hier im bloßen Zählen besteht. Da die Anschauung der Zahlen in der Zeit allein ist und daher durch kein sinnliches Schema, wie die geometrische Figur, repräsentirt werden kann; so fiel hier der Verdacht weg, daß die Anschauung nur empirisch und daher dem Schein unterworfen wäre, welcher Verdacht allein die logische Beweisart hat in die Geometrie bringen können. Zählen ist, weil die Zeit nur eine Dimension hat, die einzige arithmetische Operation, auf die alle andern zurückzuführen sind: und dies Zählen ist doch nichts Anderes, als Anschauung a priori, auf welche sich zu berufen man hier keinen Anstand nimmt, und durch welche allein das Uebrige, jede Rechnung, jede Gleichung, zuletzt bewährt wird. Man beweist z.B. nicht, daß (7+9)·8-2 / 3 = 42; sondern man beruft sich auf die reine Anschauung in der Zeit, das Zählen, macht also jeden einzelnen Satz zum Axiom. Statt der Beweise, welche die Geometrie füllen, ist daher der ganze Inhalt der Arithmetik und Algebra eine bloße Methode zum Abkürzen des Zählens. Unsere unmittelbare Anschauung der Zahlen in der Zeit reicht zwar, wie oben erwähnt, nicht weiter, als etwan bis Zehn: darüber hinaus muß schon ein abstrakter Begriff der Zahl, durch ein Wort fixirt, die Stelle der Anschauung vertreten, welche daher nicht mehr wirklich vollzogen, sondern nur ganz bestimmt bezeichnet wird. Jedoch ist selbst so, durch das wichtige Hülfsmittel der Zahlenordnung, welche größere Zahlen immer durch die selben kleinen repräsentiren läßt, eine anschauliche Evidenz jeder Rechnung möglich gemacht, sogar da, wo man die Abstraktion so sehr zu Hülfe nimmt, daß nicht nur die Zahlen, sondern unbestimmte Größen und ganze Operationen nur in abstracto gedacht und in dieser Hinsicht bezeichnet werden, wie √(r-b), so daß man sie nicht mehr vollzieht, sondern nur andeutet.
Mit dem selben Recht und der selben Sicherheit, wie in der Arithmetik, könnte man auch in der Geometrie die Wahrheit allein durch reine Anschauung a priori begründet sein lassen. In der That ist es auch immer diese, gemäß dem Satz vom Grunde des Seins anschaulich erkannte Nothwendigkeit, welche der Geometrie ihre große Evidenz ertheilt und auf der im Bewußtsein eines Jeden die Gewißheit ihrer Sätze beruht: keineswegs ist es der auf Stelzen einherschreitende logische Beweis, welcher, der Sache immer fremd, meistens bald vergessen wird, ohne Nachtheil der Ueberzeugung, und ganz wegfallen könnte, ohne daß die Evidenz der Geometrie dadurch vermindert würde, da sie ganz unabhängig von ihm ist und er immer nur Das beweist, wovon man schon vorher, durch eine andere Erkenntnisart, völlige Ueberzeugung hat: insofern gleicht er einem feigen Soldaten,der dem von andern erschlagenen Feinde noch eine Wunde versetzt, und sich dann rühmt, ihn erledigt zu haben26.
Diesem allen zufolge wird es hoffentlich keinem Zweifel weiter unterliegen, daß die Evidenz der Mathematik, welche zum Musterbild und Symbol aller Evidenz geworden ist, ihrem Wesen nach nicht auf Beweisen, sondern auf unmittelbarer Anschauung beruht, welche also hier, wie überall, der letzte Grund und die Quelle aller Wahrheit ist. Jedoch hat die Anschauung, welche der Mathematik zum Grunde liegt, einen großen Vorzug vor jeder andern, also vor der empirischen. Nämlich, da sie a priori ist, mithin unabhängig von der Erfahrung, die immer nur theilweise und successiv gegeben wird; liegt ihr Alles gleich nahe, und man kann beliebig vom Grunde, oder von der Folge ausgehn. Dies nun giebt ihr eine völlige Untrüglichkeit dadurch, daß in ihr die Folge aus dem Grunde erkannt wird, welche Erkenntnis allein Nothwendigkeit hat: z.B. die Gleichheit der Seiten wird erkannt als begründet durch die Gleichheit der Winkel; da hingegen alle empirische Anschauung und der größte Theil aller Erfahrung nur umgekehrt von der Folge zum Grunde geht, welche Erkenntnisart nicht unfehlbar ist, da Nothwendigkeit allein der Folge zukommt, sofern der Grund gegeben ist, nicht aber der Erkenntnis des Grundes aus der Folge, da die selbe Folge aus verschiedenen Gründen entspringen kann. Diese letztere Art der Erkenntnis ist immer nur Induktion: d.h. aus vielen Folgen, die auf einen Grund deuten, wird der Grund als gewiß angenommen; da die Fälle aber nie vollständig beisammen sein können, so ist die Wahrheit hier auch nie unbedingt gewiß. Diese Art von Wahrheit allein aber hat alle Erkenntnis durch sinnliche Anschauung und die allermeiste Erfahrung. Die Affektion eines Sinnes veranlaßt einen Verstandesschluß von der Wirkung auf die Ursache; weil aber vom Begründeten auf den Grund der Schluß nie sicher ist, so ist der falsche Schein, als Sinnentrug, möglich und oft wirklich, wie oben ausgeführt. Erst wenn mehrere oder alle fünf Sinne Affektionen erhalten, welche auf die selbe Ursache deuten, ist die Möglichkeit des Scheines äußerst klein geworden, dennoch aber vorhanden: denn in gewissen Fällen, z.B. durch falsche Münze, täuscht man die gesammte Sinnlichkeit. Im selben Fall ist alle empirische Erkenntnis, folglich die ganze Naturwissenschaft, ihren reinen (nach Kant metaphysischen) Theil bei Seite gesetzt. Auch hier werden aus den Wirkungen die Ursachen erkannt: daher beruht alle Naturlehre auf Hypothesen, die oft falsch sind und dann allmälig richtigeren Platz machen. Bloß bei den absichtlich angestellten Experimenten geht die Erkenntnis von der Ursache auf die Wirkung, also den sichern Weg; aber sie selbst werden erst in Folge von Hypothesen unternommen. Deshalb konnte kein Zweig der Naturwissenschaft, z.B. Physik, oder Astronomie, oder Physiologie, mit einem Male gefunden werden, wie Mathematik oder Logik es konnten; sondern es bedurfte und bedarf der gesammelten und verglichenen Erfahrungen vieler Jahrhunderte. Erst vielfache empirische Bestätigung bringt die Induktion, auf der die Hypothese beruht, der Vollständigkeit so nahe, daß sie für die Praxis die Stelle der Gewißheit einnimmt und der Hypothese ihr Ursprung so wenig nachtheilig erachtet wird, wie der Anwendung der Geometrie die Inkommensurabilität gerader und krummer Linien, oder der Arithmetik die nicht zu erlangende vollkommene Richtigkeit des Logarithmus: denn wie man die Quadratur des Cirkels und den Logarithmus durch unendliche Brüche der Richtigkeit unendlich nahe bringt, so wird auch durch vielfache Erfahrung die Induktion, d.h. die Erkenntnis des Grundes aus den Folgen, der mathematischen Evidenz, d.h. der Erkenntnis der Folge aus dem Grunde, zwar nicht unendlich, aber doch so nahe gebracht, daß die Möglichkeit der Täuschung gering genug wird, um vernachlässigt werden zu können. Vorhanden aber ist sie doch: z.B. ein Induktionsschluß ist auch der, von unzähligen Fällen auf alle, d.h. eigentlich auf den unbekannten Grund, von welchem alle abhängen. Welcher Schluß dieser Art scheint nun sicherer, als der, daß alle Menschen das Herz auf der linken Seite haben? Dennoch giebt es, als höchst seltene, völlig vereinzelte Ausnahmen, Menschen, denen das Herz auf der rechten Seite sitzt. – Sinnliche Anschauung und Erfahrungswissenschaft haben also die selbe Art der Evidenz. Der Vorzug, den Mathematik, reine Naturwissenschaft und Logik als Erkenntnisse a priori vor ihnen haben, beruht bloß darauf, daß das Formelle der Erkenntnisse, auf welches alle Apriorität sich gründet, ganz und zugleich gegeben ist und daher hier immer vom Grunde auf die Folge gegangen werden kann, dort aber meistens nur von der Folge auf den Grund. An sich ist übrigens das Gesetz der Kausalität, oder der Satz vom Grunde des Werdens, welcher die empirische Erkenntnis leitet, eben so sicher, wie jene andern Gestaltungen des Satzes vom Grunde, denen obige Wissenschaften a priori folgen. – Logische Beweise aus Begriffen, oder Schlüsse, haben eben so wohl, wie die Erkenntnis der Anschauung a priori, den Vorzug, vom Grund auf die Folge zu gehn, wodurch sie an sich, d.h. ihrer Form nach, unfehlbar sind. Dies hat viel beigetragen, die Beweise überhaupt in so großes Ansehn zu bringen. Allein diese Unfehlbarkeit derselben ist eine relative: sie subsumiren bloß unter die oberen Sätze der Wissenschaft: diese aber sind es, welche den ganzen Fonds von Wahrheit der Wissenschaft enthalten, und sie dürfen nicht wieder bloß bewiesen sein, sondern müssen sich auf Anschauung gründen, welche in jenen genannten wenigen Wissenschaften a priori eine reine, sonst aber immer empirisch und nur durch Induktion zum Allgemeinen erhoben ist. Wenn also auch bei Erfahrungswissenschaften das Einzelne aus dem Allgemeinen bewiesen wird, so hat doch wieder das Allgemeine seine Wahrheit nur vom Einzelnen erhalten, ist nur ein Speicher gesammelter Vorräthe, kein selbsterzeugender Boden.
Soviel von der Begründung der Wahrheit. – Ueber den Ursprung und die Möglichkeit des Irrthums sind seit Plato's bildlichen Auflösungen darüber, vom Taubenschlage, wo man die unrechte Taube greift u.s.w. (Theaetet., S. 167 u. ff.), viele Erklärungen versucht worden. Kants vage, unbestimmte Erklärung vom Ursprung des Irrthums, mittelst des Bildes der Diagonalbewegung, findet man in der Kritik der reinen Vernunft, S. 294 der ersten u. S. 350 der fünften Ausgabe. – Da die Wahrheit die Beziehung eines Urtheils auf seinen Erkenntnisgrund ist, so ist es allerdings ein Problem, wie der Urtheilende einen solchen Grund zu haben wirklich glauben kann und doch keinen hat, d.h. wie der Irrthum, der Trug der Vernunft, möglich ist. Ich finde diese Möglichkeit ganz analog der des Scheines, oder Truges des Verstandes, die oben erklärt worden. Meine Meinung nämlich ist (und das giebt dieser Erklärung gerade hier ihre Stelle), daß jeder Irrthum ein Schluß von der Folge auf den Grund ist, welcher zwar gilt, wo man weiß, daß die Folge Jenen und durchaus keinen andern Grund haben kann; außerdem aber nicht. Der Irrende setzt entweder der Folge einen Grund, den sie gar nicht haben kann; worin er dann wirklichen Mangel an Verstand, d.h. an der Fähigkeit unmittelbarer Erkenntnis der Verbindung zwischen Ursache und Wirkung, zeigt: oder aber, was häufiger der Fall ist, er bestimmt der Folge einen zwar möglichen Grund, setzt jedoch zum Obersatz seines Schlusses von der Folge auf den Grund noch hinzu, daß die besagte Folge allemal nur aus dem von ihm angegebenen Grunde entstehe, wozu ihn nur eine vollständige Induktion berechtigen könnte, die er aber voraussetzt, ohne sie gemacht zu haben: jenes allemal ist also ein zu weiter Begriff, statt dessen nur stehn dürfte bisweilen, oder meistens; wodurch der Schlußsatz problematisch ausfiele und als solcher nicht irrig wäre. Daß der Irrende aber auf die angegebene Weise verfährt, ist entweder Uebereilung, oder zu beschränkte Kenntniß von der Möglichkeit, weshalb er die Nothwendigkeit der zu machenden Induktion nicht weiß. Der Irrthum ist also dem Schein ganz analog. Beide sind Schlüsse von der Folge auf den Grund: der Schein stets nach dem Gesetze der Kausalität und vom bloßen Verstande, also unmittelbar in der Anschauung selbst, vollzogen; der Irrthum, nach allen Formen des Satzes vom Grunde, von der Vernunft, also im eigentlichen Denken, vollzogen, am häufigsten jedoch ebenfalls nach dem Gesetze der Kausalität, wie folgende drei Beispiele belegen, die man als Typen oder Repräsentanten dreier Arten von Irrthümern ansehn mag. 1) Der Sinnenschein (Trug des Verstandes) veranlaßt Irrthum (Trug der Vernunft), z.B. wenn man eine Malerei für ein Haut-Relief ansieht und wirklich dafür hält; es geschieht durch einen Schluß aus folgendem Obersatz: »Wenn Dunkelgrau stellenweise durch alle Nuancen in Weiß übergeht; so ist allemal die Ursache das Licht, welches Erhabenheiten und Vertiefungen ungleich trifft: ergo –.« 2) »Wenn Geld in meiner Kasse fehlt; so ist die Ursache allemal, daß mein Bedienter einen Nachschlüssel hat: ergo-.« 3) »Wenn das durch das Prisma gebrochene, d.i. herauf oder herab gerückte Sonnenbild, statt vorher rund und weiß, jetzt länglich und gefärbt erscheint; so ist die Ursache ein Mal und allemal, daß im Licht verschiedengefärbte und zugleich verschieden-brechbare homogene Lichtstrahlen gesteckt haben, die, durch ihre verschiedene Brechbarkeit auseinandergerückt, jetzt ein längliches und zugleich verschiedenfarbiges Bild zeigen: ergo – bibamus!« – Auf einen solchen Schluß aus einem, oft nur fälschlich generalisirten, hypothetischen, aus der Annahme eines Grundes zur Folge entsprungenen Obersatz muß jeder Irrthum zurückzuführen sein; nur nicht etwan Rechnungsfehler, welche eben nicht eigentlich Irrthümer sind, sondern bloße Fehler: die Operation, welche die Begriffe der Zahlenangaben, ist nicht in der reinen Anschauung, dem Zählen, vollzogen worden; sondern eine andere statt ihrer.
Was den Inhalt der Wissenschaften überhaupt betrifft, so ist dieser eigentlich immer das Verhältniß der Erscheinungen der Welt zu einander, gemäß dem Satz vom Grunde und am Leitfaden des durch ihn allein geltenden und bedeutenden Warum. Die Nachweisung jenes Verhältnisses heißt Erklärung. Diese kann also nie weiter gehn, als daß sie zwei Vorstellungen zu einander in dem Verhältnisse der in der Klasse, zu der sie gehören, herrschenden Gestaltung des Satzes vom Grunde zeigt. Ist sie dahin gelangt, so kann gar nicht weiter Warum gefragt werden: denn das nachgewiesene Verhältniß ist dasjenige, welches schlechterdings nicht anders vorgestellt werden kann, d.h. es ist die Form aller Erkenntnis. Daher fragt man nicht warum 2+2=4 ist; oder warum Gleichheit der Winkel im Dreieck, Gleichheit der Seiten bestimmt; oder warum auf irgend eine gegebene Ursache ihre Wirkung folgt; oder warum aus der Wahrheit der Prämissen, die der Konklusion einleuchtet. Jede Erklärung, die auf ein solches Verhältniß, davon weiter kein Warum gefordert werden kann, zurückführt, bleibt bei einer angenommenen qualitas occulta stehn: dieser Art ist aber auch jede ursprüngliche Naturkraft. Bei einer solchen muß jede naturwissenschaftliche Erklärung zuletzt stehn bleiben, also bei einem völlig Dunkelen: sie muß daher das innere Wesen eines Steines eben so unerklärt lassen, wie das eines Menschen; kann so wenig von der Schwere, Kohäsion, chemischen Eigenschaften u.s.w., die Jener äußert, als vom Erkennen und Handeln Dieses Rechenschaft geben. So z.B. ist die Schwere eine qualitas occulta: denn sie läßt sich wegdenken, geht also nicht aus der Form des Erkennens als ein Nothwendiges hervor: dies hingegen ist der Fall mit dem Gesetze der Trägheit, als welches aus dem der Kausalität folgt; daher eine Zurückführung auf dasselbe eine vollkommen genügende Erklärung ist. Zwei Dinge nämlich sind schlechthin unerklärlich, d.h. nicht auf das Verhältniß, welches der Satz vom Grunde ausspricht, zurückzuführen: erstlich, der Satz vom Grunde selbst, in allen seinen vier Gestalten, weil er das Princip aller Erklärung ist, dasjenige, in Beziehung worauf sie allein Bedeutung hat; und zweitens. Das, was nicht von ihm erreicht wird, woraus aber eben das Ursprüngliche in allen Erscheinungen hervorgeht: es ist das Ding an sich, dessen Erkenntnis gar nicht die dem Satz vom Grunde unterworfene ist. Dieses Letztere muß hier nun ganz unverstanden stehn bleiben, da es erst durch das folgende Buch, in welchem wir auch diese Betrachtung der möglichen Leistungen der Wissenschaften wieder aufnehmen werden, verständlich werden kann. Aber da, wo die Naturwissenschaft, ja jede Wissenschaft, die Dinge stehn läßt, indem nicht nur ihre Erklärung derselben, sondern sogar das Princip dieser Erklärung, der Satz vom Grund, nicht über diesen Punkt hinausführt; da nimmt eigentlich die Philosophie die Dinge wieder auf und betrachtet sie nach ihrer, von jener ganz verschiedenen Weise. – In der Abhandlung über den Satz vom Grunde, § 51, habe ich gezeigt, wie, in den verschiedenen Wissenschaften, die eine oder die andere Gestaltung jenes Satzes Hauptleitfaden ist: in der That möchte hienach sich vielleicht die treffendeste Eintheilung der Wissenschaften machen lassen. Jede nach jenem Leitfaden gegebene Erklärung ist aber, wie gesagt, immer nur relativ: sie erklärt die Dinge in Beziehung auf einander, läßt aber immer Etwas unerklärt, welches sie eben schon voraussetzt: Dieses ist z.B. in der Mathematik Raum und Zeit; in der Mechanik, Physik und Chemie die Materie, die Qualitäten, die ursprünglichen Kräfte, die Naturgesetze; in der Botanik und Zoologie die Verschiedenheit der Species und das Leben selbst; in der Geschichte das Menschengeschlecht, mit allen seinen Eigenthümlichkeiten des Denkens und Wollens; – in allen der Satz vom Grund in seiner jedesmal anzuwendenden Gestaltung, – Die Philosophie hat das Eigene, daß sie gar nichts als bekannt voraussetzt, sondern Alles ihr in gleichem Maaße fremd und ein Problem ist, nicht nur die Verhältnisse der Erscheinungen, sondern auch diese selbst, ja der Satz vom Grunde selbst, auf welchen Alles zurückzuführen die andern Wissenschaften zufrieden sind, durch welche Zurückführung bei ihr aber nichts gewonnen wäre, da ein Glied der Reihe ihr so fremd ist, wie das andere, ferner auch jene Art des Zusammenhangs selbst ihr eben so gut ein Problem ist, als das durch ihn Verknüpfte, und dieses wieder nach aufgezeigter Verknüpfung, so gut als vor derselben. Denn, wie gesagt, eben Jenes, was die Wissenschaften voraussetzen und ihren Erklärungen zum Grunde legen und zur Gränze setzen, ist gerade das eigentliche Problem der Philosophie, die folglich insofern da anfängt, wo die Wissenschaften aufhören. Beweise können nicht ihr Fundament sein: denn diese leiten aus bekannten Sätzen unbekannte ab; aber ihr ist Alles gleich unbekannt und fremd. Es kann keinen Satz geben, in Folge dessen allererst die Welt mit allen ihren Erscheinungen dawäre: daher läßt sich nicht eine Philosophie, wie Spinoza wollte, ex firmis principiis demonstrirend ableiten. Auch ist die Philosophie das allgemeinste Wissen, dessen Hauptsätze also nicht Folgerungen aus einem andern, noch allgemeineren, sein können. Der Satz vom Widerspruch setzt bloß die Uebereinstimmung der Begriffe fest; giebt aber nicht selbst Begriffe. Der Satz vom Grund erklärt Verbindungen der Erscheinungen, nicht diese selbst: daher kann Philosophie nicht darauf ausgehn, eine causa efficiens oder eine causa finalis der ganzen Welt zu suchen. Die gegenwärtige wenigstens sucht keineswegs, woher oder wozu die Welt dasei; sondern bloß, was die Welt ist. Das Warum aber ist hier dem Was untergeordnet: denn es gehört schon zur Welt, da es allein durch die Form ihrer Erscheinung, den Satz vom Grund, entsteht und nur insofern Bedeutung und Gültigkeit hat. Zwar könnte man sagen, daß was die Welt sei, ein Jeder ohne weitere Hülfe erkenne; da er das Subjekt des Erkennens, dessen Vorstellung sie ist, selbst ist: auch wäre dies insoweit wahr. Allein jene Erkenntnis ist eine anschauliche, ist in concreto: dieselbe in abstracto wiederzugeben, das successive, wandelbare Anschauen und überhaupt alles Das, was der weite Begriff Gefühl umfaßt und bloß negativ, als nicht abstraktes, deutliches Wissen bezeichnet, eben zu einem solchen, zu einem bleibenden Wissen zu erheben, ist die Aufgabe der Philosophie. Sie muß demnach eine Aussage in abstracto vom Wesen der gesammten Welt sein, vom Ganzen wie von allen Theilen. Um aber dennoch nicht in eine endlose Menge von einzelnen Urtheilen sich zu verlieren, muß sie sich der Abstraktion bedienen und alles Einzelne im Allgemeinen denken, seine Verschiedenheiten aber auch wieder im Allgemeinen: daher wird sie theils trennen, theils vereinigen, um alles Mannigfaltige der Welt überhaupt, seinem Wesen nach, in wenige abstrakte Begriffe zusammengefaßt, dem Wissen zu überliefern. Durch jene Begriffe, in welchen sie das Wesen der Welt fixirt, muß jedoch, wie das Allgemeine, auch das ganz Einzelne erkannt werden, die Erkenntnis Beider also auf das Genaueste verbunden sein: daher die Fähigkeit zur Philosophie eben darin besteht, worein Plato sie setzte, im Erkennen des Einen im Vielen und des Vielen im Einen. Die Philosophie wird demnach eine Summe sehr allgemeiner Urtheile sein, deren Erkenntnisgrund unmittelbar die Welt selbst in ihrer Gesammtheit ist, ohne irgend etwas auszuschließen: also Alles, was im menschlichen Bewußtsein sich vorfindet: sie wird sein eine vollständige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstrakten Begriffen, welche allein möglich ist durch Vereinigung des wesentlich Identischen in einen Begriff und Aussonderung des Verschiedenen zu einem andern. Diese Aufgabe setzte schon Bako von Verulam der Philosophie, indem er sagte: ea demum vera est philosophia, quae mundi ipsius voces fidelissime reddit, ed veluti dictante mundo conscripta est, et nihil aliud est, quam ejusdem simulacrum et reflectio, neque addit quidquam de proprio, sed tantum iterat et resonat. (de augm. scient., L. 2, c. 13). Wir nehmen jedoch dieses in einem ausgedehnteren Sinn, als Bako damals denken konnte.
Die Uebereinstimmung, welche alle Seiten und Theile der Welt, eben weil sie zu einem Ganzen gehören, mit einander haben, muß auch in jenem abstrakten Abbilde der Welt sich wiederfinden. Demnach könnte in jener Summe von Urtheilen das eine aus dem andern gewissermaaßen abgeleitet werden und zwar immer wechselseitig. Doch müssen sie hiezu für's Erste dasein und also zuvor, als unmittelbar durch die Erkenntnis der Welt in concreto begründet, aufgestellt werden, um so mehr, als alle unmittelbare Begründung sicherer ist, als die mittelbare: ihre Harmonie zu einander, vermöge welcher sie sogar zur Einheit eines Gedankens zusammenfließen, und welche entspringt aus der Harmonie und Einheit der anschaulichen Welt selbst, die ihr gemeinsamer Erkenntnisgrund ist, wird daher nicht als das Erste zu ihrer Begründung gebraucht werden; sondern nur noch als Bekräftigung ihrer Wahrheit hinzukommen. – Diese Aufgabe selbst kann erst durch ihre Auflösung vollkommen deutlich werden27.
§ 16
Nach dieser ganzen Betrachtung der Vernunft, als einer dem Menschen allein eigenen, besonderen Erkenntniskraft, und der durch sie herbeigeführten, der menschlichen Natur eigenthümlichen Leistungen und Phänomene, bliebe mir jetzt noch übrig von der Vernunft zu reden, sofern sie die Handlungen der Menschen leitet, also in dieser Rücksicht praktisch genannt werden kann. Allein das hier zu Erwähnende hat größtentheils seine Stelle an einem andern Orte gefunden, nämlich im Anhang zu dieser Schrift, wo das Dasein der von Kant so genannten praktischen Vernunft zu bestreiten war, welche er (freilich sehr bequem) als unmittelbare Quelle aller Tugend und als den Sitz eines absoluten (d.h. vom Himmel gefallenen) Soll darstellt. Die ausführliche und gründliche Widerlegung dieses Kantischen Princips der Moral habe ich später geliefert, in den »Grundproblemen der Ethik«. – Ich habe deshalb hier nur noch Weniges über den wirklichen Einfluß der Vernunft, im wahren Sinne dieses Worts, auf das Handeln zu sagen. Schon am Eingang unserer Betrachtung der Vernunft haben wir im Allgemeinen bemerkt, wie sehr das Thun und der Wandel des Menschen von dem des Thieres sich unterscheidet, und daß dieser Unterschied doch allein als Folge der Anwesenheit abstrakter Begriffe im Bewußtsein anzusehn ist. Der Einfluß dieser auf unser ganzes Dasein ist so durchgreifend und bedeutend, daß er uns zu den Thieren gewissermaaßen in das Verhältniß setzt, welches die sehenden Thiere zu den augenlosen (gewisse Larven, Würmer und Zoophyten) haben: letztere erkennen durch das Getast allein das ihnen im Raum unmittelbar Gegenwärtige, sie Berührende; die Sehenden dagegen einen weiten Kreis von Nahem und Fernem. Eben so nun beschränkt die Abwesenheit der Vernunft die Thiere auf die ihnen in der Zeit unmittelbar gegenwärtigen anschaulichen Vorstellungen, d.i. realen Objekte: wir hingegen, vermöge der Erkenntnis in abstracto, umfassen, neben der engen wirklichen Gegenwart, noch die ganze Vergangenheit und Zukunft, nebst dem weiten Reiche der Möglichkeit: wir übersehn das Leben frei nach allen Seiten, weit hinaus über die Gegenwart und Wirklichkeit. Was also im Raum und für die sinnliche Erkenntnis das Auge ist, das ist gewissermaaßen in der Zeit und für die innere Erkenntnis die Vernunft. Wie aber die Sichtbarkeit der Gegenstände ihren Werth und Bedeutung doch nur dadurch hat, daß sie die Fühlbarkeit derselben verkündigt, so liegt der ganze Werth der abstrakten Erkenntnis immer in ihrer Beziehung auf die anschauliche. Daher auch legt der natürliche Mensch immer viel mehr Werth auf das unmittelbar und anschaulich Erkannte, als auf die abstrakten Begriffe, das bloß Gedachte: er zieht die empirische Erkenntnis der logischen vor. Umgekehrt aber sind diejenigen gesinnt, welche mehr in Worten, als Thaten leben, mehr in Papier und Bücher, als in die wirkliche Welt gesehn haben, und die in ihrer größten Ausartung zu Pedanten und Buchstabenmenschen werden. Daraus allein ist es begreiflich, wie Leibnitz nebst Wolf und allen ihren Nachfolgern, so weit sich verirren konnten, nach dem Vorgange des Duns Skotus, die anschauliche Erkenntnis für eine nur verworrene abstrakte zu erklären! Zur Ehre Spinoza's muß ich erwähnen, daß sein richtigerer Sinn umgekehrt alle Gemeinbegriffe für entstanden aus der Verwirrung des anschaulich Erkannten erklärt hat. (Eth. II, prop. 40, Schol. 1.) – Aus jener verkehrten Gesinnung ist es auch entsprungen, daß man in der Mathematik die ihr eigenthümliche Evidenz verwarf, um allein die logische gelten zu lassen; daß man überhaupt jede nicht abstrakte Erkenntnis unter dem weiten Namen Gefühl begriff und gering schätzte; daß endlich die Kantische Ethik den reinen, unmittelbar bei Erkenntnis der Umstände ansprechenden und zum Rechtthun und Wohlthun leitenden guten Willen als bloßes Gefühl und Aufwallung für werth- und verdienstlos erklärte, und nur dem aus abstrakten Maximen hervorgegangenen Handeln moralischen Werth zuerkennen wollte.
Die allseitige Uebersicht des Lebens im Ganzen, welche der Mensch durch die Vernunft vor dem Thiere voraus hat, ist auch zu vergleichen mit einem geometrischen, farblosen, abstrakten, verkleinerten Grundriß seines Lebensweges. Er verhält sich damit zum Thiere, wie der Schiffer, welcher mittelst Seekarte, Kompaß und Quadrant seine Fahrt und jedesmalige Stelle auf dem Meer genau weiß, zum unkundigen Schiffsvolk, das nur die Wellen und den Himmel sieht. Daher ist es betrachtungswerth, ja wunderbar, wie der Mensch, neben seinem Leben in concreto, immer noch ein zweites in abstracto führt. Im ersten ist er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluß der Gegenwart Preis gegeben, muß streben, leiden, sterben, wie das Thier. Sein Leben in abstracto aber, wie es vor seinem vernünftigen Besinnen steht, ist die stille Abspiegelung des ersten und der Welt worin er lebt, ist jener eben erwähnte verkleinerte Grundriß. Hier im Gebiet der ruhigen Ueberlegung erscheint ihm kalt, farblos und für den Augenblick fremd, was ihn dort ganz besitzt und heftig bewegt: hier ist er bloßer Zuschauer und Beobachter. In diesem Zurückziehn in die Reflexion gleicht er einem Schauspieler, der seine Scene gespielt hat und bis er wieder auftreten muß, unter den Zuschauern seinen Platz nimmt, von wo aus er was immer auch vorgehn möge, und wäre es die Vorbereitung zu seinem Tode (im Stück), gelassen ansieht, darauf aber wieder hingeht und thut und leidet wie er muß. Aus diesem doppelten Leben geht jene von der thierischen Gedankenlosigkeit sich so sehr unterscheidende menschliche Gelassenheit hervor, mit welcher Einer, nach vorhergegangener Ueberlegung, gefaßtem Entschluß oder erkannter Nothwendigkeit, das für ihn Wichtigste, oft Schrecklichste kaltblütig über sich ergehn läßt, oder vollzieht: Selbstmord, Hinrichtung, Zweikampf, lebensgefährliche Wagstücke jeder Art und überhaupt Dinge, gegen welche seine ganze thierische Natur sich empört. Da sieht man dann, in welchem Maaße die Vernunft der thierischen Natur Herr wird, und ruft dem Starken zu: sidêreion ny toi êtor! (ferreum certe tibi cor!) Il. 24, 521. Hier, kann man wirklich sagen, äußert sich die Vernunft praktisch: also überall, wo das Thun von der Vernunft geleitet wird, wo die Motive abstrakte Begriffe sind, wo nicht anschauliche, einzelne Vorstellungen, noch der Eindruck des Augenblicks, welcher das Thier leitet, das Bestimmende ist, da zeigt sich praktische Vernunft. Daß aber dieses gänzlich verschieden und unabhängig ist vom ethischen Werthe des Handelns, daß vernünftig Handeln und tugendhaft Handeln zwei ganz verschiedene Dinge sind, daß Vernunft sich eben so wohl mit großer Bosheit, als mit großer Güte im Verein findet und der einen wie der andern durch ihren Beitritt erst große Wirksamkeit verleiht, daß sie zur methodischen, konsequenten Ausführung des edeln, wie des schlechten Vorsatzes, der klugen, wie der unverständigen Maxime, gleich bereit und dienstbar ist, welches eben ihre weibliche, empfangende und aufbewahrende, nicht selbst erzeugende Natur so mit sich bringt, – dieses Alles habe ich im Anhange ausführlich auseinandergesetzt, und durch Beispiele erläutert. Das dort Gesagte stände hier an seinem eigentlichen Platz, hat indessen, wegen der Polemik gegen Kants vorgebliche praktische Vernunft, dorthin verlegt werden müssen; wohin ich deshalb von hier wieder verweise.
Die vollkommenste Entwickelung der praktischen Vernunft, im wahren und ächten Sinne des Worts, der höchste Gipfel, zu dem der Mensch durch den bloßen Gebrauch seiner Vernunft gelangen kann, und auf welchem sein Unterschied vom Thiere sich am deutlichsten zeigt, ist als Ideal dargestellt im Stoischen Weisen. Denn die Stoische Ethik ist ursprünglich und wesentlich gar nicht Tugendlehre, sondern bloß Anweisung zum vernünftigen Leben, dessen Ziel und Zweck Glück durch Geistesruhe ist. Der tugendhafte Wandel findet sich dabei gleichsam nur per accidens, als Mittel, nicht als Zweck ein. Daher ist die Stoische Ethik, ihrem ganzen Wesen und Gesichtspunkt nach, grundverschieden von den unmittelbar auf Tugend dringenden ethischen Systemen, als da sind die Lehren der Veden, des Plato, des Christenthums und Kants. Der Zweck der Stoischen Ethik ist Glück: telos to eudaimonein (virtutes omnes finem habere beatitudinem) heißt es in der Darstellung der Stoa bei Stobäos. (Ecl., L. II, c. 7, p. 114, und ebenfalls p. 138.) Jedoch weist die Stoische Ethik nach, daß das Glück im innern Frieden und in der Ruhe des Geistes (aparaxia) allein sicher zu finden sei, und diese wieder allein durch Tugend zu erreichen: eben dieses nur bedeutet der Ausdruck, daß Tugend höchstes Gut sei. Wenn nun aber freilich allmälig der Zweck über das Mittel vergessen und die Tugend auf eine Weise empfohlen wird, die ein ganz anderes Interesse, als das des eigenen Glückes verräth, indem es diesem zu deutlich widerspricht; so ist dies eine von den Inkonsequenzen, durch welche in jedem System die unmittelbar erkannte, oder wie man sagt gefühlte Wahrheit auf den rechten Weg zurückleitet, den Schlüssen Gewalt anthuend; wie man dies z.B. deutlich sieht in der Ethik des Spinoza, welche aus dem egoistischen suum utile quaerere, durch handgreifliche Sophismen, reine Tugendlehre ableitet. Nach Dem, wie ich den Geist der Stoischen Ethik aufgefaßt habe, liegt ihr Ursprung in dem Gedanken, ob das große Vorrecht des Menschen, die Vernunft, welche ihm mittelbar, durch planmäßiges Handeln und was aus diesem hervorgeht, so sehr das Leben und dessen Lasten erleichtert, nicht auch fähig wäre, unmittelbar, d.h. durch bloße Erkenntnis, ihn den Leiden und Quaalen aller Art, welche sein Leben füllen, auf ein Mal zu entziehn, entweder ganz, oder doch beinahe ganz. Man hielt es dem Vorzug der Vernunft nicht angemessen, daß das mit ihr begabte Wesen, welches durch dieselbe eine Unendlichkeit von Dingen und Zuständen umfaßt und übersieht, dennoch durch die Gegenwart und durch die Vorfälle, welche die wenigen Jahre eines so kurzen, flüchtigen, Ungewissen Lebens enthalten können, so heftigen Schmerzen, so großer Angst und Leiden, die aus dem ungestümen Drang des Begehrens und Fliehens hervorgehn, Preis gegeben sein sollte, und meinte, die gehörige Anwendung der Vernunft müßte den Menschen darüber hinwegheben, ihn unverwundbar machen können. Daher sagte Antisthenes: Dei ktasthai noun, ê brochon (aut mentem parandam, aut laqueum. Plut. de stoic. repugn., c. 14), d.h. das Leben ist so voller Plagen und Hudeleien, daß man entweder, mittelst berichtigter Gedanken, sich darüber hinaussetzen, oder es verlassen muß. Man sah ein, daß die Entbehrung, das Leiden, nicht unmittelbar und nothwendig hervorgieng aus dem Nichthaben; sondern erst aus dem Haben-wollen und doch nicht haben; daß also dieses Haben-wollen die nothwendige Bedingung ist, unter der allein das Nicht-haben zur Entbehrung wird, und den Schmerz erzeugt. Ou penia lypên ergazetai, alla epithymia (non paupertas dolorem efficit, sed cupiditas), Epict., fragm. 25. Man erkannte zudem aus Erfahrung, daß bloß die Hoffnung, der Anspruch es ist, der den Wunsch gebiert und nährt; daher uns weder die vielen, Allen gemeinsamen und unvermeidlichen Uebel, noch die unerreichbaren Güter beunruhigen und plagen; sondern allein das unbedeutende Mehr und Weniger des dem Menschen Ausweichbaren und Erreichbaren; ja, daß nicht nur das absolut, sondern auch schon das relativ Unerreichbare, oder Unvermeidliche, uns ganz ruhig läßt; daher die Uebel, welche unserer Individualität ein Mal beigegeben sind, oder die Güter, welche ihr nothwendig versagt bleiben müssen, mit Gleichgültigkeit betrachtet werden, und daß, dieser menschlichen Eigenthümlichkeit zufolge, jeder Wunsch bald erstirbt, und also keinen Schmerz mehr erzeugen kann, wenn nur keine Hoffnung ihm Nahrung giebt. Aus diesem allen ergab sich, daß alles Glück nur auf dem Verhältniß beruht zwischen unsern Ansprüchen und dem, was wir erhalten: wie groß oder klein die beiden Großen dieses Verhältnisses sind, ist einerlei, und das Verhältniß kann sowohl durch Verkleinerung der ersten Größe, als durch Vergrößerung der zweiten hergestellt werden: und eben so, daß alles Leiden eigentlich hervorgeht aus dem Mißverhältniß dessen, was wir fordern und erwarten, mit dem, was uns wird, welches Mißverhältniß aber offenbar nur in der Erkenntnis liegt28 und durch bessere Einsicht völlig gehoben werden könnte. Daher sagte Chrysippos: dei zên kat' empeirian tôn physei symbainontôn (Stob. Ed., L. 11, c. 7, p. 134), d.h. man soll leben mit gehöriger Kenntniß des Hergangs der Dinge in der Welt. Denn so oft ein Mensch irgendwie aus der Fassung kommt, durch ein Unglück zu Boden geschlagen wird, oder sich erzürnt, oder verzagt; so zeigt er eben dadurch, daß er die Dinge anders findet, als er sie erwartete, folglich daß er im Irrthum befangen war, die Welt und das Leben nicht kannte, nicht wußte, wie durch Zufall die leblose Natur, durch entgegengesetzte Zwecke, auch durch Bosheit, die belebte den Willen des Einzelnen bei jedem Schritte durchkreuzt: er hat also entweder seine Vernunft nicht gebraucht, um zu einem allgemeinen Wissen dieser Beschaffenheit des Lebens zu kommen, oder auch es fehlt ihm an Urtheilskraft, wenn, was er im Allgemeinen weiß, er doch im Einzelnen nicht wiedererkennt und deshalb davon überrascht und aus der Fassung gebracht wird29. So auch ist jede lebhafte Freude ein Irrthum, ein Wahn, weil kein erreichter Wunsch dauernd befriedigen kann, auch weil jeder Besitz und jedes Glück nur vom Zufall auf unbestimmte Zeit geliehn ist, und daher in der nächsten Stunde wieder zurückgefordert werden kann. Jeder Schmerz aber beruht auf dem Verschwinden eines solchen Wahns: Beide also entstehn aus fehlerhafter Erkenntnis: dem Weisen bleibt daher Jubel wie Schmerz immer fern, und keine Begebenheit stört seine ataraxia.
Diesem Geist und Zweck der Stoa gemäß, fängt Epiktet damit an und kommt beständig darauf zurück, als auf den Kern seiner Weisheit, daß man wohl bedenken und unterscheiden solle, was von uns abhängt und was nicht, daher auf Letzteres durchaus nicht Rechnung machen; wodurch man zuverlässig frei bleiben wird von allem Schmerz, Leiden und Angst. Was nun aber von uns abhängt, ist allein der Wille: und hier geschieht nun ein allmäliger Uebergang zur Tugendlehre, indem bemerkt wird, daß, wie die von uns nicht abhängige Außenwelt Glück und Unglück bestimmt, so aus dem Willen innere Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit uns selbst hervorgehe. Nachher aber ward gefragt, ob man den beiden ersteren oder den beiden letzteren die Namen bonum et malum beilegen solle? Das war eigentlich willkürlich und beliebig und that nichts zur Sache. Aber dennoch stritten hierüber unaufhörlich die Stoiker mit Peripatetikern und Epikuräern, unterhielten sich mit der unstatthaften Vergleichung zweier völlig inkommensurabeler Größen und den daraus hervorgehenden, entgegengesetzten, paradoxen Aussprüchen, die sie einander zuwarfen. Eine interessante Zusammenstellung dieser, von der stoischen Seite aus, liefern uns die Paradoxa des Cicero.
Zenon, der Stifter, scheint ursprünglich einen etwas andern Gang genommen zu haben. Der Ausgangspunkt war bei ihm dieser: daß man zur Erlangung des höchsten Gutes, d.h. der Glücksäligkeit durch Geistesruhe, übereinstimmend mit sich selbst leben solle.(homologoumenôs zên; touto d' esti kath hena logon kai symphônon zên. – Consonanter vivere: hoc est secundum unam rationem et concordem sibi vivere. Stob. Ecl. eth., L. II, c. 7, p. 132. Imgleichen: Aretên diathesin einai psyxês symphônon heautê peri holon ton bion. Virtutem esse animi affectionem secum per totam vitam consentientem, ibid., p. 104.) Nun war aber dieses allein dadurch möglich, daß man durchaus vernünftig, nach Begriffen, nicht nach wechselnden Eindrücken und Launen sich bestimmte; da aber nur die Maxime unsers Handelns, nicht der Erfolg, noch die äußern Umstände, in unserer Gewalt sind: so mußte man, um immer konsequent bleiben zu können, allein jene, nicht diese sich zum Zwecke machen; wodurch wieder die Tugendlehre eingeleitet wird.
Aber schon den unmittelbaren Nachfolgern des Zenon schien sein Moralprincip – übereinstimmend zu leben – zu formal und inhaltsleer. Sie gaben ihm daher materialen Gehalt, durch den Zusatz: »übereinstimmend mit der Natur zu leben« (homologoumenos tê physei zên); welches, wie Stobäos a.a.O. berichtet, zuerst vom Kleanthes hinzugesetzt wurde und die Sache sehr ins Weite schob, durch die große Sphäre des Begriffs und die Unbestimmtheit des Ausdrucks. Denn Kleanthes meinte die gesammte allgemeine Natur, Chrysippos aber die menschliche Natur insbesondere (Diog. Laert., 7, 89). Das dieser letzteren allein Angemessene sollte nachher die Tugend sein, wie den thierischen Naturen Befriedigung thierischer Triebe, wodurch wieder gewaltsam zur Tugendlehre eingelenkt, und, es mochte biegen oder brechen, die Ethik durch die Physik begründet werden sollte. Denn die Stoiker giengen überall auf Einheit des Princips: wie denn auch Gott und die Welt bei ihnen durchaus nicht zweierlei war.
Die Stoische Ethik, im Ganzen genommen, ist in der That ein sehr schätzbarer und achtungswerther Versuch, das große Vorrecht des Menschen, die Vernunft, zu einem wichtigen und heilbringenden Zweck, zu benutzen, nämlich um ihn über die Leiden und Schmerzen, welchen jedes Leben anheimgefallen ist, hinauszuheben, durch eine Anweisung
»Qua ratione queas traducere leniter aevum:
Ne te semper inops agitet vexetque cupido,
Ne pavor et rerum mediocriter utilium spes.«
und ihn eben dadurch im höchsten Grade der Würde theilhaft zu machen, welche ihm, als vernünftigem Wesen, im Gegensatz des Thieres zusteht, und von der in diesem Sinn allerdings die Rede sein kann, nicht in einem andern. – Diese meine Ansicht der Stoischen Ethik brachte es mit sich, daß sie hier bei Darstellung dessen, was die Vernunft ist und zu leisten vermag, erwähnt werden mußte. So sehr aber auch jener Zweck, durch Anwendung der Vernunft und durch eine bloß vernünftige Ethik in gewissem Grade erreichbar ist, wie denn auch die Erfahrung zeigt, daß jene rein vernünftigen Charaktere, die man gemeinhin praktische Philosophen nennt – und mit Recht, weil, wie der eigentliche, d.i. der theoretische Philosoph das Leben in den Begriff überträgt, sie den Begriff ins Leben übertragen, – wohl die glücklichsten sind; so fehlt dennoch sehr viel, daß etwas Vollkommenes in dieser Art zu Stande kommen und wirklich die richtig gebrauchte Vernunft uns aller Last und allen Leiden des Lebens entziehn und zur Glücksäligkeit führen könnte. Es liegt vielmehr ein vollkommener Widerspruch darin, leben zu wollen ohne zu leiden, welchen daher auch das oft gebrauchte Wort »säliges Leben« in sich trägt: dieses wird demjenigen gewiß einleuchtend sein, der meine folgende Darstellung bis ans Ende gefaßt haben wird. Dieser Widerspruch offenbart sich auch schon in jener Ethik der reinen Vernunft selbst, dadurch, daß der Stoiker genöthigt ist, seiner Anweisung zum glücksäligen Leben (denn das bleibt seine Ethik immer) eine Empfehlung des Selbstmordes einzuflechten (wie sich unter dem prächtigen Schmuck und Geräth orientalischer Despoten auch ein kostbares Fläschchen mit Gift findet), für den Fall nämlich, wo die Leiden des Körpers, die sich durch keine Sätze und Schlüsse wegphilosophiren lassen, überwiegend und unheilbar sind, sein alleiniger Zweck, Glücksäligkeit, also doch vereitelt ist, und nichts bleibt, um dem Leiden zu entgehn, als der Tod, der aber dann gleichgültig, wie Jede andere Arzenei, zu nehmen ist. Hier wird ein starker Gegensatz offenbar, zwischen der Stoischen Ethik und allen jenen oben erwähnten, welche Tugend an sich und unmittelbar, auch mit den schwersten Leiden, zum Zweck machen und nicht wollen, daß man, um dem Leiden zu entfliehn, das Leben endige; obgleich keine von ihnen allen den wahren Grund zur Verwerfung des Selbstmordes auszusprechen wußte, sondern sie mühsam allerhand Scheingründe zusammensuchen: im vierten Buch wird jener Grund im Zusammenhang unserer Betrachtung sich ergeben. Aber obiger Gegensatz offenbart und bestätigt eben den wesentlichen, im Grundprincip liegenden Unterschied zwischen der Stoa, die eigentlich doch nur ein besonderer Eudämonismus ist, und jenen erwähnten Lehren, obgleich Beide oft in den Resultaten zusammentreffen und scheinbare Verwandtschaft haben. Der oben erwähnte innere Widerspruch aber, mit welchem die Stoische Ethik, selbst in ihrem Grundgedanken, behaftet ist, zeigt sich ferner auch darin, daß ihr Ideal, der Stoische Weise, in ihrer Darstellung selbst, nie Leben oder innere poetische Wahrheit gewinnen konnte, sondern ein hölzerner, steifer Gliedermann bleibt, mit dem man nichts anfangen kann, der selbst nicht weiß wohin mit seiner Weisheit, dessen vollkommene Ruhe, Zufriedenheit, Glücksäligkeit dem Wesen der Menschheit geradezu widerspricht und uns zu keiner anschaulichen Vorstellung davon kommen läßt. Wie ganz anders erscheinen, neben ihn gestellt, die Weltüberwinder und freiwilligen Büßer, welche die Indische Weisheit uns aufstellt und wirklich hervorgebracht hat, oder gar der Heiland des Christenthums, jene vortreffliche Gestalt, voll tiefen Lebens, von größter poetischer Wahrheit und höchster Bedeutsamkeit, die jedoch, bei vollkommener Tugend, Heiligkeit und Erhabenheit, im Zustande des höchsten Leidens vor uns steht30.