Читать книгу Dr. Mollinar und seine Schülerin - Artur Brausewetter - Страница 6
3.
Оглавление„Guten Tag, Mutter!“
„Guten Tag, Fritz!“
Mutter und Sohn pflegten sich nie weitläufiger zu begrüssen. Es schien dies zwischen beiden wie ein schweigendes Abkommen, das jedes überflüssige Wort verpönte.
Auch jetzt wurde Fritz nicht gefragt, wo er gewesen, was er getan und gelassen hatte. Die alte Frau, die im altmodischen Lehnstuhle an ihrem gewohnten Fensterplatz sass, wandte schwerfällig das Haupt und nickte dem Eintretenden zu. Dann vertiefte sie sich aufs neue in die Abendzeitung, die eben angekommen war. Fritz aber trank seinen Kaffee und las dazu in einem Buche, das er sich mitgebracht.
In einer Wandnische, dem alten Lehnstuhle der Matrone am Fenster gegenüber, so dass sie ihr stets vor Augen war, hing eine Photographie im breiten, schwarzen Rahmen; ein frischer Kranz von herbstlich gefärbtem Laub umgab sie. Sie stellte einen Geistlichen im Talare dar, die Bibel in den starken Händen haltend. Auf dem eckigen Gesicht mit den hohen Wangenknochen lag weltentfremdete Aszese; streng richtend fast blickten die klugen Augen unter den buschigen Brauen herab; nur um den Mund, der mit den feingeschnittenen Lippen in dieses grobe Antlitz kaum zu passen schien, stahl sich ein leiser Zug von Schwärmerei, aber auch diese Schwärmerei hatte etwas Herbes, Weltfeindliches.
Das war der Mann, dem Frau Mollinar vierzig Jahre ihres Lebens gedient hatte, nicht wie ihrem Gatten, sondern wie ihrem Herrn, zu dem sie jetzt emporblickte wie zu einem Gotte, der Mann, dem zuliebe sie ihr ganzes Wesen umgebildet hatte, denn aus dem einst lebhaften, weltliebenden Mädchen war die schweigsame und strengdenkende Pfarrfrau geworden, die Mutter, die ihr einziges Kind von früher Jugend an genau nach dem Wesen und den Eigentümlichkeiten ihres Mannes zu bilden suchte, die an diesem Sohne eins immer noch nicht verschmerzt hatte: dass er nicht ein Pastor geworden war wie der selige Vater.
*
Die Dämmerung hatte zugenommen. Die alte Therese, die bereits auf der Landpfarre in Wurow eine lange Reihe von Jahren gedient hatte, brachte die Lampe und einen Brief für die „Frau Pastorin“, wie sie ihre Herrin immer noch nannte.
„Von Gabriele! Endlich einmal. Besinnst du dich noch auf sie?“
„Mutter, welche Frage!“
Kaum war der Name genannt, da stieg vor seinen Augen ein Kinderbild empor aus ferner Jugendzeit: Gabriele Hellwig, die Tochter des Besitzers von Wurow, des Kirchenpatrons seines Vaters, der zugleich sein treuester Freund gewesen.
So war die kleine Waise nach dem frühen Tode der Eltern in das Haus des Pastor Mollinar gekommen und dort jahrlang wie das eigene Kind erzogen. Als Student und später als Kandidat hatte er viel mit ihr gespielt und keinen Menschen so lieb gehabt wie dies Kind.
Lebhaft stand sie jetzt vor ihm, wenn sie die goldenen Locken schüttelte, dass sie um den Hals flogen. Bis aus den Kinderlocken der Zopf des Backfisches wurde, und Gabriele in die nahe Stadt zur Erziehung musste.
Von da ab sah er sie nur noch, wenn sie einmal zusammen in ihren Ferien zu Hause waren. Dann war der Vater gestorben, die Mutter hatte das Pfarrhaus verlassen und war in die Stadt gezogen, von Gabriele hatte er lange nichts gesehen; nur selten einmal hatte die Mutter ihm einen Gruss aus ihrem Briefe bestellt. — Welche Wege mochte sie gegangen sein, welche Bahnen ihre Entwicklung eingeschlagen haben?
Sie versprach so viel in ihrer kindlichen Frische und Ursprünglichkeit.
Er war seitdem nie wieder einem weiblichen Wesen nähergetreten in seinem arbeitsreichen Leben, das dem Berufe gehörte und seiner alten Mutter.
„Fritz!“
„Mutter!“
„Gabriele schreibt mir, dass sie das Gymnasium durchgemacht. Sie will nun hierherkommen, um zu studieren.“
„Was will sie studieren?“
„Sie will Oberlehrerin werden!“
Fritz zuckte die Achseln.
„Sie fragt nach einer passenden Pension.“
„Es gibt deren genug, ich werde es Direktor Wöhrmann sagen.“
„Noch nicht — sie fragt nur vorläufig an. Ich wollte etwas anderes wissen.“
„Was denn?“
„Ob wir sie nicht auffordern müssen, zu uns zu kommen?“
Da verfinsterten sich die Züge des Doktors.
„Mutter — unsere stille, gemütliche Häuslichkeit!“
„Ich frage dich ja nur, mein Sohn. Bestimme du, wie du willst, vergiss nur eins nicht: dass sie das Patenkind unseres seligen Vaters ist.“
„So schreibe ihr, dass sie bei uns wohnen kann,“ sagte der Doktor und beugte sich wieder über sein Buch, während Frau Mollinar einen grossen Strickstrumpf zur Hand nahm. Nichts hörte man in dem weiten Raume, als das gleichmässige Klappern der Nadeln und das Knistern des Papiers, wenn der Doktor eine Seite umschlug.
*
Da trat wiederum Therese in das Zimmer.
„Ein Herr ist draussen für den Herrn Doktor!“
„Bitten Sie ihn in mein Arbeitszimmer!“
Aber schon funkelte es in dem Hintergrunde des erleuchteten Zimmers auf wie das Glitzern eines Leuchtkäfers in der Nacht, und kam näher, lautlos und schnell, auf den erstaunten Doktor zu, der sich jetzt den glänzenden Gegenstand von einem roten Grunde abheben sah, in diesem eine riesengrosse Krawatte erkannte und nun eine kleine Männergestalt erblickte, die sich mit gemessener Grandezza verbeugte.
„Korelli,“ sagte sie, „Korelli, Madame,“ wiederholte sie gegen Frau Mollinar, die erschreckt ihren Strickstrumpf hatte fallen lassen.
„Sie werden von mir gehört haben — Korelli, alte Reiterfamilie, auch Direktor Wöhrmann kannte mich längst, augenblicklich beim Zirkus Brotti-Wellhoff. Herr Direktor Wöhrmann, übrigens ein sehr liebenswürdiger Herr, hat mir erzählt, dass der Herr Doktor so gut sein wollen, meine Tochter zu unterrichten —“
„Ich wollte wenigstens sehen,“ warf der Doktor ein, aber der andere liess ihn nicht zu Worte kommen.
„Da wollte ich mir erlauben, Ihnen meine Tochter vorzustellen,“ schnitt er ihm das Wort ab, machte einige Schritte rückwärts, öffnete die in den Vorraum führende Tür und schnalzte mit den Fingern.
„Elli!“ rief er dabei, als wollte er ein Pferd aus dem Marstalle des Zirkus vorführen.
Eine mächtige Hutfeder wurde in der Tür sichtbar und unter ihr ein feines, etwas bleiches Gesicht, dessen einzelne Züge man in dem Halbdunkel nicht gut unterscheiden konnte, nur ein keckes Stumpfnäschen sah der Doktor und unter kühn geschwungenen Brauen zwei runde braune Augen, durch die ein stilles Feuer glimmte.
„Meine Tochter,“ stellte der Kunstreiter mit einer gezierten Handbewegung vor, „Miss Ellida, genannt die grösste Parforcereiterin des Kontinents — Elli Korz mit ihrem Geburtsnamen — Herr Doktor Mollinar, Madame Mollinar, wenn ich nicht irre.“
Fräulein Elli schien von der abgeschmackten Art ihres Vaters wenig erbaut, das Stumpfnäschen rümpfte sich, um die roten Lippen, die sich mit ihren lebhaften Farben von den sammetweichen Linien ihres Antlitzes kräftig abhoben, zuckte es. Sie schob ihren Vater mit einer nicht zu freundlichen Handbewegung beiseite und trat an den Doktor heran.
„Guten Tag, Herr Mollinar, guten Tag, Madame!“
Sie reichte dem Doktor die Hand, eine feste, muskulöse und doch feingebildete Frauenhand, deren Wärme ihn seltsam berührte; um ihr starkes Gelenk rankte sich in mehreren Windungen ein goldener, ziselierter Reif; er stellte einen geschuppten Schlangenleib dar; zwei grünlichblaue Saphire glühten dem Doktor über die weisse Handfläche entgegen.
Frau Mollinar musste sich mit einer Neigung der roten Hutfeder genügen lassen, die dazu noch sehr gemessen war.
„Wir bitten um Verzeihung, dass wir so spät kommen. Wir werden auch gleich wieder gehen. Papa wollte nur wissen, wann meine Stunden beginnen.“
Es war kein Zirkuswelsch, das aus ihren Worten klang, es war eine gebildete, fast edle Sprache, die frei von jedem Dialekte war, ihr ganzes Auftreten zeigte freies Selbstbewusstsein.
„In dieser Woche bin ich beschäftigt,“ erwiderte der Doktor, „wir können mit dem Beginne der nächsten anfangen.“
„Und wieviel Stunden werde ich wöchentlich haben?“
„Drei werden wohl nötig sein, wir könnten vielleicht —“
Herr Korelli, der lange genug geschwiegen hatte, unterbrach ihn:
„O bitte, das macht ja gar nichts — Sie können sogar vier geben, es kommt uns darauf gar nicht an.“
Herr Mollinar hatte nicht den Humor, den ein anderer vielleicht an seiner Stelle gezeigt hätte.
„Aber mir kommt es darauf an, mein Herr; meine Zeit ist sehr gemessen; ich bitte es mir zu überlassen, wieviel Stunden ich geben kann,“ sagte er streng und hart.
Der Kunstreiter machte ein verblüfftes Gesicht; das stille Feuer aber in Ellidas Augen leuchtete auf.
„Wir wollen gehen, Papa — wann also wünschen Sie mich, Herr Mollinar?“
„Montag, um vier Uhr nachmittags,“ sagte er kurz.
„Ich danke, ich werde kommen.“
Sie reichte dem Doktor dieses Mal nicht die Hand; sie grüsste ihn und seine Mutter nur flüchtig, als sie sich zum Gehen wandte.
Herr Korelli folgte ihr verwundert; er hätte sich gern noch ein wenig ausgesprochen, aber er wagte keinen Widerstand.
In der Tür jedoch drehte er sich noch einmal um.
„Hätte ich’s beinahe vergessen! Herr Doktor, Madame — Sie gestatten. Zwei Plätze in der Loge, jeden Abend gültig; es wird uns stets eine Ehre sein, wenn Sie kommen.“
Dabei griff er in die Brusttasche, nahm aus derselben eine Briefhülle und legte sie auf den Tisch.
Doktor Mollinar trat ihm entgegen.
„Ich danke Ihnen, mein Herr, aber ich kann von diesen Karten keinen Gebrauch machen. Ich besuche keinen Zirkus, und meine Mutter auch nicht.“
„Sie besuchen keinen Zirkus?“
Ein grenzenloses Erstaunen malte sich auf Herrn Korellis Antlitz.
„Niemals, mein Herr!“
„Auch nicht, wenn Miss Ellida reitet?! O, Sie werden schon kommen!“
„Ich bedaure. Ich werde auch dann nicht kommen!“
In diesem Augenblick trat Ellida an den Tisch.
„Wir wollen uns den Herrschaften nicht aufdrängen,“ sagte sie und nahm die Karten vom Tische.
„Servus, meine Herrschaften — Servus!“ rief Herr Korelli.
Dann war das Paar verschwunden. — — —
„Was bedeutet das alles?“ fragte Frau Mollinar erst nach einer ganzen Weile, die sie benutzt hatte, um sich von ihrem Erstaunen zu erholen.
„Dass mir Direktor Wöhrmann heute den Unterricht dieser Kunstreiterin übertragen hat.“
„Und du hast zugesagt?“
„Was wollte ich tun? Der Direktor bestand darauf.“
„Und wo wirst du sie unterrichten?“
„Nun, hier in meinem Zimmer.“
„In unser Haus wird sie kommen — in dein Zimmer?! Die Person?!“
Der Doktor warf durch die dicken Brillengläser einen fragenden Blick auf seine Mutter. Durch ihre Worte klang ein leidenschaftlicher Ton, den er lange nicht von ihr gehört hatte.
„Du kennst sie doch gar nicht, Mutter,“ erwiderte er mit stillem Vorwurf, aber ohne jede Erregung.
„Du hast recht, mein Sohn. Wir sollen uns der Verlorenen am meisten annehmen; sie brauchen es nötiger, als die Gerechten, sagte dein Vater.“
„Zu den Verlorenen wird sie sich nicht gern rechnen lassen.“
„Aber, Fritz — eine Kunstreiterin! Unser Vater suchte sie auch einmal auf, ich weiss es noch genau. Sie hatten im Dorfe ein grosses Gerüst aufgestellt, und am Abend stürzte ein junges Frauenzimmer. Da ging unser Vater gleich hin, obwohl sie ihn nicht riefen und die strengen Leute in der Gemeinde sogar Anstoss daran nahmen.“
Fritz lächelte.
„Nun, Mutter — eine andere Art von Kunstreitern sind diese doch. Wo denkst du hin? Die Mutter soll sogar aus einer vornehmen Familie stammen.“
„Die arme Frau! Aber sage, Fritz, wenn du dieses Mädchen unterrichtest, dann werde ich wohl dabeisitzen müssen.“
„Du — dabeisitzen müssen — weshalb?“
„Schon des Geredes wegen, mein Sohn! Denn reden werden die Leute genug über diese Besuche, verlass dich darauf!“
Der Doktor wurde nachdenklich.
„Du möchtest recht haben. Du könntest dich mit einem Buche oder einer Handarbeit zu uns setzen.“
Damit war das Gespräch beendet. Seit langer Zeit erinnerte sich der Doktor nicht, so ausführlich mit der Mutter über einen Gegenstand verhandelt zu haben. Um so beharrlicher schwiegen beide den Rest des Abends über. Der Doktor las in seinem Buche weiter; ab und zu musste er ganze Abschnitte zum zweiten Male lesen, weil er vergessen hatte, was in ihnen gestanden, und das verdross ihn, denn es war ihm lange nicht vorgekommen.
Frau Mollinar aber sass ihm gegenüber und arbeitete an ihrem Strickstrumpf, und lauter als sonst raschelten heute die Nadeln und klapperten einige Male hart und heftig aneinander, als ob sie ein Zwiegespräch hielten, bei dem die Meinungen scharf zusammenstiessen.