Читать книгу Die Eisrose und eine andere Geschichte - Artur Brausewetter - Страница 6

2.

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Nun kam das Jahr des Konfirmandenunterrichtes. Die Eltern hatten ihren Töchtern unter den drei Predigern der Gemeinde freie Wahl gelassen. Rose war des öfteren allein in die Kirche gegangen, die Predigten des ersten Pfarrers, eines ebenso würdigen wie milden Mannes mit vollem schneeweissem Haar und bartlosem, gütigem Gesicht, hatten auf ihr ernstes Gemüt tiefen Eindruck geübt, und da Paulinens Freundinnen gleichfalls den Konfirmandenunterricht dieses Geistlichen besuchten, war auch diese einverstanden.

So begab sich Frau Zollbrügge eines Tages zu Oberpfarrer Wacht, ihre Töchter ihm zum Unterrichte anzumelden.

„Ich möchte nun einiges über die beiden Kinder aus dem Munde der Mutter hören,“ sagte der alte Herr, nachdem die Formalitäten erledigt waren.

Auf einen Wink der Mutter verliessen Pauline und Rose das Amtszimmer.

„Die ältere ist ein sonniges Normalkind,“ begann Frau Zollbrügge, „ohne hervorstechende Eigenschaften, auch nicht von besonderer geistiger Begabung. Aber sie ist gutmütig, freundlich, zu jedermann, gefügig zu Hause und stets dienstbereit, vor allem ist sie dankbar und bescheiden.“

„Das sind liebenswerte Züge . . . hm . . ., so werde ich meine Freude an ihr haben. Und die Jüngere?“

„Sie hat auch ihre guten Eigenschaften,“ erwiderte Frau Zollbrügge, „sie ist ernst veranlagt und gewissenhaft, sie denkt trotz ihrer Jugend viel nach und ist Pauline an Fähigkeit zweifellos überlegen . . .“

„Aber? . . .“

Ein Schatten, der langsam wuchs, breitete sich über Frau Zollbrügges Antlitz.

„Ich weiss nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll, Herr Oberpfarrer, ich möchte gerade Ihnen ein richtiges, in Licht und Dunkel getreues Bild der Kinder geben . . .“

Und Frau Zollbrügge erzählte genau, fast weitschweifig, den Vorgang aus der Schule, und welch ein schlechtes Zeugnis Rose ihr gebracht; auch von einigen häuslichen Geschehnissen berichtete sie, wie schwer Rose ihre Schuld einsähe, und . . .

„Ich glaube Sie zu verstehen,“ unterbrach der seelenkundige Geistliche, „Ihrer jüngeren Tochter fehlt es bei allen guten Eigenschaften an zweierlei: an der rechten Demut und Dankbarkeit.“ Und als Frau Zollbrügge traurig, aber zustimmend nickte:

„Das freilich sind zwei Tugenden, die für ein junges Mädchen, für eine Christin unentbehrlich sind. Aber seien Sie getrost, gnädige Frau, die Rose hat ein so treues, sinnendes Gesicht, es steht mancherlei darin geschrieben, was mir gefällt; wir haben alle unsere Fehler, ich will mich dieses Kindes mit besonderer Liebe annehmen, ich will an ihrer Seele arbeiten, Gott wird helfen. Der Konfirmandenunterricht hat an manchem jugendlichen Gemüt Wunder gewirkt.“

*

Der alte Pastor machte sein Versprechen wahr. Unter seinen vielen Konfirmanden beschäftigte er sich mit niemand so wie mit Rose Zollbrügge, nicht nur in den Stunden, auch in seinen Gedanken und Gebeten.

Aber je mehr der Unterricht seinem Ende entgegenging, um so deutlicher wurde es ihm, dass er mit all seiner Mühe und Arbeit nichts erreicht hatte. Rose war genau dieselbe geblieben, die sie am Anfang gewesen. Gerade so sinnend und teilnehmend sass sie auf ihrem Platze, mit denselben ernsten Augen folgte sie jedem seiner Worte, sie antwortete nicht viel, doch wenn sie es tat, so war es richtig und wohldurchdacht. Aber das, was er mit allem Eifer erstrebt hatte, ein Sicherschliessen der Persönlichkeit, eine wärmere Hingabe an die Sache, irgendein deutlicheres Zeichen von Wirkungen, die dieser Unterricht übte, alles das blieb aus.

Und nun geschah etwas, das Pfarrer Wacht vollends an seiner Schülerin irre machte.

Es war in einer der letzten Stunden. Mit allem Nachdruck hatte er auf die bevorstehende Einsegnung hingewiesen und hatte den Kindern klar gelegt, wie die Gnade Gottes; die ihnen hier zuteil werden sollte, vor allem ein empfängliches Herz suche, ein Herz, das seine Sünden erkenne und sie mit ganzer Inbrunst bereue. Seiner persönlich eindringenden Art entsprechend, fragte er diese oder jene unter seinen Konfirmandinnen, ob sie im Hinblick auf den grossen Festtag solchen aufrichtigen Schmerz über ihre Sünden empfände.

Zwei seiner besten Schülerinnen, unter ihnen Pauline, hatten eben mit tief zu Boden gesenktem Blick ihr leises „Ja“ geantwortet, da wandte er sich an Rose.

„Und du, meine liebe Tochter,“ sagte er mit milder Freundlichkeit, „fühlst du ebenso wie deine Schwester?“

Eine Sekunde schwieg Rose.

„Nein,“ erwiderte sie dann leise, fast traurig.

„Nein?“ Pfarrer Wacht war erschreckt.

„Du fühlst dich nicht unwert, vor Gottes Antlitz zu treten, deine Sünden beugen dich nicht darnieder?“

„Nein,“ sprach Rose noch einmal.

„Und das sagst du mir kurz vor deiner Einsegnung, in Gegenwart deiner Mitkonfirmandinnen?“

„Ich darf Sie nicht belügen, Herr Pfarrer, ich muss doch wahr sein.“

Es lag etwas Rührendes, Bewegendes in dieser Antwort, aus jeder Silbe hörte man, wie schwer sie dem Kinde wurde.

Pfarrer Wacht aber vernahm von alledem nichts mehr.

„Sowie die Stunde zu Ende ist, kommst du auf mein Zimmer,“ sagte er mit fast befehlendem Tone, wie ihn die Mädchen niemals an ihm gehört hatten, „ich habe mit dir unter vier Augen zu sprechen.“

Noch einmal versuchte es der würdige Geistliche mit seiner Milde, er sprach mit bewegender Güte zu dem jungen Mädchen. „Das verstehe ich alles sehr wohl,“ entgegnete Rose ruhig auf seine Worte, „aber . . .“

„Nun? Rede frei und unumwunden, mein Kind, dazu sind wir ja hier.“

„. . . von dem grossen Schmerz, den Pauline und die anderen über ihre Sünde empfinden, . . . merke ich nichts.“

„Nichts?“

„Ich müsste es erzwingen oder mir einreden, aber unwillkürlich . . . nein.“

Da war es um die Geduld des alten Mannes geschehen, er hielt es jetzt für angebracht, in strengerem Tone mit ihr zu sprechen und ahnte nicht, dass er damit alles verdarb.

„Dass gerade du das sagst, meine Tochter, du, deren offenkundige Fehler nicht deinen Lehrern und Eltern, nein, auch mir das Leben so schwer machen. Aber freilich, hier treten wieder die beiden Grundfehler deines Charakters hervor. Sieh, Rose, du kennst nicht die Demut und die Dankbarkeit, das ist dein Unglück, deshalb kommst du innerlich so wenig vorwärts.“

Das junge Mädchen, das bis dahin den Blick niedergeschlagen hatte, erhob ihn jetzt und sah seinen Pfarrer mit den ernsten, grossen Augen eine Sekunde an. „Demut und Dankbarkeit,“ sagte es dann leise, als spräche es zu sich selber, „kenne ich sehr wohl.“

„Natürlich, du gibst deine Schwächen nicht zu, das wirst du niemals tun, ich habe es längst gemerkt. Rose, wie willst du dich nur einsegnen lassen, wie zum Tisch des Herrn gehen, wenn du nicht ein bussfertiges Herz mitbringst?!“

Ein fast ängstlicher Zug trat jetzt auf das bis dahin so ruhige Antlitz des jungen Mädchens.

„Ja, Herr Pfarrer,“ erwiderte es zaghaft, „das ist es, das habe ich mir selber gesagt, ich glaube, es ist besser, wenn ich mich nicht konfirmieren lasse.“

„Wenn . . . du dich nicht konfirmieren lässt? Das hast du im Ernste erwogen? Diesen Schmerz wolltest du deinen Eltern, wolltest du mir zu allem anderen hinzufügen? Willst du denn alle von dir stossen, die dich lieben?“

Der alte Herr war auf das höchste erregt, sein Antlitz brannte, seine Stimme hatte einen heiseren Ton. Erst langsam zwang er sich zu der gewohnten Ruhe.

„Fehlt es dir am Glauben, mein Kind?“ fragte er fast mitleidig, „bist du innerlich nicht von dem überzeugt, was du bekennen sollst?“

„Das nicht, Herr Pfarrer.“ Rose sprach eingeschüchtert, traurig, ihr Antlitz war noch bleicher als sonst, „aber das Gelübde ist so schwer, das ich am Altar ablegen soll, ich weiss nicht, ob ich es halten werde. Wer überhaupt kann es halten? Und ich wäre unwahr und wortbrüchig für mein ganzes Leben!“

Der Geistliche stutzte, er sah auf die stillen, ernsten Züge seiner Schülerin, und es fiel ihm auf, wie reif und abgeklärt sie in diesem Augenblick aussahen. Er rüstete sich zu einer Entgegnung, da wurde ihm ein wichtiger, amtlicher Besuch gemeldet, und Rose war mit einigen freundlichen, aufmunternden Worten entlassen.

An demselben Nachmittag besuchte Oberpfarrer Wacht Frau Zollbrügge. Sie hatten eine lange, ernste Unterredung miteinander, der Geistliche erzählte alles, was sich in der Konfirmandenstunde ereignet und was er dann später in seiner Amtsstube mit dem jungen Mädchen besprochen hatte. Als er zuletzt gar andeutete, dass Rose gegen ihre Einsegnung Bedenken geäussert, war es um Frau Zollbrügges Beherrschung geschehen.

„Nicht einmal konfirmiert will sie werden?!“ sagte sie laut aufschluchzend. „In der Schule tadelt man ihr Verhalten, zu Hause ist sie unzugänglich für jedermann, und nun dies noch, nun auch dieser Unterricht vergeblich, auf den ich so grosse Stücke gesetzt, mein Gott, wie werde ich in diesem Kinde gestraft!“

Pfarrer Wacht suchte die betrübte Mutter zu trösten, zuletzt rief man Rose ins Zimmer. Beide redeten nun auf sie ein, Frau Zollbrügge heftig, strenge, vorwurfsvoll, der Pfarrer gütig und beschwichtigend.

Rose antwortete sehr wenig, als sie aber die Erregung ihrer Mutter sah, liess sie ihre Bedenken vom Vormittag fallen und meinte, was sie über ihre Einsegnung gesagt, sei nur einer vorübergehenden, verzagten Stimmung entsprungen.

*

Der Konfirmationstag kam heran. Es war ein liebliches Bild, als die grosse Kinderschar, von ihrem würdigen Seelsorger geführt, an den sonnenumfluteten Hochaltar der alten Pfarrkirche schritt, die Mädchen in ihren weissen Kleidern wie eine lichte, langsam sich bewegende Wolke. Die meisten von ihnen waren tief bewegt, Pauline hatte rotgeweinte Augen, bevor die Feier begann. Frau Zollbrügge, die an der Seite ihres Gatten in einem der ersten Chorstühle dicht am Altare sass, blickte voll mütterlicher Rührung auf dieses Töchterlein, das ihr und dem Vater bis zu dieser Stunde nur Freude bereitet hatte. Dann glitt ihr Auge hinter der goldenen Lorgnette furchtsam fast auf ihr anderes Kind.

Roses Züge waren unverändert, vielleicht einen Hauch ernster als sonst. Wie hatte sie sich früher einmal auf diesen Tag gefreut! Und jetzt? Jetzt war ihr, als sässe sie nicht hier, sondern ein anderes, ein fremdes Wesen, ein Schatten höchstens ihres Selbst.

Wie durch einen dichten Schleier sah sie alles: den mit Blumen geschmückten Altar, den alten Pfarrer, der sich von dem blühenden Hintergrunde ein wenig wunderlich abhob, des Vaters gleichgültig freundliches Gesicht, die funkelnde Lorgnettenkette der Mutter und die prüfenden Augen hinter den grossen Gläsern.

Die Orgel, die bis dahin bald leise gespielt wie weiches, flüsterndes Windesrauschen, bald laut wie Sturmesruf oder ein herannahendes Gericht, verstummte, der Pfarrer räusperte sich und begann seine Rede . . . Rose hörte alles wie im Traume. Ab und zu war ihr, als suchte das Auge des Geistlichen, das trotz seines Alters noch klar und frisch war, unter der grossen Schar gerade ihr Antlitz, als erhöhe er dann die heute ein wenig belegte Stimme zu besonderer Kraft, als wollte er noch in zwölfter Stunde sie locken und gewinnen.

Aber sie fühlte zugleich, dass keines seiner Worte irgendeinen Widerhall in ihrer Seele fand, so ernste Mühe sie sich auch gab, aufzupassen und andächtig zu sein.

Nur als er von der grossen, nie ermüdenden Liebe sprach, die da will, dass niemand verloren gehe, sondern alle selig werden, wachte ein Etwas in ihrem Herzen auf wie ein ganz leiser Frühlingstrieb im Winter. Aber es blieb eine dumpfe Ahnung nur, die weder erwärmte noch beglückte.

Nun stand sie mit den anderen auf, um ihr Glaubensbekenntnis herzusagen, um vor ihrem Pfarrer, ihren Eltern und der grossen Gemeinde feierlich zu geloben, dass sie nach diesem Bekenntnis wandeln und leben wollte, treu bis an den Tod. Dann setzte die Orgel wieder ein, jetzt klagend, manchmal wie Aeolsharfenklang. Die Konfirmandinnen traten an den Altar und knieten nieder, und wenn der alte Pfarrer mit dem Segensspruch die Hände auf ihr Haupt legte, dann weinten und zitterten sie. Nur Rose weinte und zitterte nicht. Von der kleinen Orgel aus sang noch eine etwas flackernde, sonst aber wohlgeschulte Sopranstimme ein bewegendes Gebetslied, dann sprach der Pfarrer die Schlussworte, und die Feier war beendet. Die Eltern traten auf ihre eingesegneten Töchter zu und schlossen sie in die Arme. Pauline konnte kaum sprechen, sie stammelte nur der Mutter entgegen, wie schlecht sie bis jetzt gewesen, wie unwürdig sie sich dieser Stunde fühle, wie ganz anders sie von nun an werden würde.

Stumm und tränenlos empfing Rose der Mutter kühlen Kuss, des Vaters konventionellen Händedruck.

Die Eisrose und eine andere Geschichte

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