Читать книгу Der Staatsanwalt - Artur Brausewetter - Страница 6

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Unter ihnen, so dass sie genau sehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden, bewegte sich eine Gestalt, so mager, dass sie sich wie ein Schattenriss vom weissen Sande abhob; der kränkliche Körper auf Beinen ruhend, die selbst für dies geringe Gewicht zu schwach gebaut schienen, der Hals auffallend lang und dürr, fast hinanreichend bis an die wenig ausgebildeten Ohren, die weit abstanden und leicht verkrüppelt schienen.

War es eines Kindes Gestalt?

Dazu war sie in den einzelnen Formen zu entwickelt, besonders in dem Ausdrucke des eckigen Kopfes. Eines Erwachsenen? Dazu wollte ihr Gebaren nicht passen, gerade jetzt nicht, wo sie sich damit begnügte, kleine Hölzer ins Wasser zu werfen, und der ganze schwächliche Leib schwankte und zappelte und zitterte vor Freude, sowie eines derselben, von den Wogen zurückgeworfen, dem Strande wieder näherkam.

Mit einem Male wandte sie schwerfällig das Antlitz, ein Antlitz mit schüchternen, blöden Zügen, in deren Faltenschrift eine ganze Geschichte von Krankheit und Leid zu lesen stand.

Und dennoch — aus diesem Antlitz, so hässlich es war, sprach eine so rührende Hilflosigkeit, aus den grauen traurigen Augen eine so bewegende Treuherzigkeit, dass diese Erscheinung, weit enfernt, abzuschrecken, das ganze Herz voller Teilnahme und Mitleid gewann.

Und solch ein Herz voller Teilnahme und Mitleid lag in den Augen einer weiblichen Gestalt, die, lässig in den Sand gelegt, keinen Blick von ihr verwandte.

Der schlanke Körper, dessen reife Formen in der liegenden Stellung scharf zum Ausdruck kamen, umhüllt von einem etwas fadenscheinigen, aber sauberen schwarzen Kleide, die bläulich schimmernden Haare glatt auf dem Kopfe gescheitelt. Das Gesicht blass, die Züge nicht regelmässig gebildet, aber fein geschnitten und belebt von dem Ausdruck einer Reinheit, der unwiderstehlich anzog.

Sie hatte sich erhoben und war an den Knaben herangetreten. Sie schien ihm zuzureden, mit ihr nach Hause zu gehen. Aber er musste noch keine Lust dazu verspüren, er nahm ihre weiche, volle Hand zwischen seine dürren Finger, er bat sie so inständig, sein treuherziges Auge schaute so flehend zu ihr empor, sie konnte nicht widerstehen, sie lächelte und gab nach. Sie suchte einige abgeglättete Steine vom Strande auf und warf sie mit geübtem Kunstgriff auf das Wasser, dass sie einige Male über die stille Fläche dahintanzten. Der Kleine zappelte und jauchzte vor Vergnügen. Auch sie lachte. Ein Wohllaut lag in diesem Lachen, das in seltsamem Gegensatz zu dem meckernden, stossenden Lachen des Knaben stand.

Eine frische Brise zog über das Wasser, die Abendkühle machte sich bemerkbar. Sie griff nach dem kleinen Mantel, der am Strande lag, und zog ihn mit ängstlicher Behutsamkeit über die schmalen Schultern.

„So, mein Kleinerchen, damit wir uns nicht erkälten. Und nun nach Hause zur Mama!“

„Will nicht zu Mama, will nicht — will bei dir bleiben — nur bei dir!“ stiess der Knabe hart hervor.

Sie hatte es leicht, ihn zu beruhigen. Mit sanfter Bewegung löste sie seinen Arm von ihrem Leibe und nahm ihn bei der Hand. Dann wandte sie sich zum Gehen.

In diesem Augenblicke begegnete ihr Blick Bolkows Auge, der immer noch mit Gerda in stummer Beobachtung an das Geländer gelehnt stand.

Sie schien zu empfinden, dass sie längere Zeit diesen forschenden Blicken ausgesetzt gewesen; eine leise Röte flammte über das blasse Antlitz, dann ging sie, so schnell wie es ihr Begleiter und der dicke Sand erlaubten, der Promenade zu, ohne einmal den Blick zu wenden.

Auch über Bolkows Züge war eine Bewegung geglitten, so merkbar, dass sie Gerda nicht entging.

„Kennen Sie das Mädchen?“ fragte sie.

„Nein, ich kenne sie persönlich nicht, aber es ist heute das drittemal, dass ich sie sehe. Das erstemal sah ich sie vor einigen Jahren auf einer Reise in Capri. Sie war genau gekleidet wie heute und hatte den Knaben an der Hand wie eben jetzt. Ihr Bild blieb mir unvergesslich; es liegt etwas Eigentümliches in diesem Gesicht, finden Sie nicht auch? Dann sah ich sie wieder gerade an dem Tage, als ich in Berlin einzog. Sie war die erste bekannte Gestalt, die ich dort sah, und wieder war sie gekleidet wie eben und begegnete mir in genau demselben Aufzuge. Und heute — eben bin ich hier angekommen, treffe ich sie ebenso wieder. Es ist das so seltsam, weil —“

„Weil? Sie wollten noch etwas sagen.“

„Weil jedesmal, wenn ich sie sah, etwas — doch nein, ich kann Ihnen das nicht sagen, es ist eine Grille. Kommen Sie, wir müssen weitergehen.“

Aber sie fragte aufs neue.

„Weil ich jedesmal, wenn ich sie sah, fest überzeugt war, dass diese Person in meinem Leben noch einmal eine Rolle spielen würde,“ sagte er endlich.

„Ah — Sie sind abergläubisch! Sehen Sie, das hätte ich von Ihnen nicht gedacht,“ lachte sie jetzt in ungebundener Fröhlichkeit.

Aber er blieb ernst.

„Es ist es fast jeder in seiner Art, — und diese Begegnungen waren zu seltsam.“ — —

„Haben Sie ihn gesehen, mein gnädigstes Fräulein?“ Der Amtsrichter war noch atemlos. „Das war er, der junge Freiherr von Türck!“

„Und das junge Mädchen, das ihn begleitete?“

„Das ist seine Wärterin, oder wie Sie sie nennen wollen — die geheimnisvolle Persönlichkeit, von der ich den Damen vorhin erzählte, und dort, sehen Sie — nein, da auf der Promenade die etwas auffallend gekleidete Dame, die sich von dem schwarzen Husaren an ihrer Seite den Hof machen lässt, — das ist die junge Witwe, die nächstens wieder heiraten wird.“

„Die Mutter von dem Jungen?“

„Ganz richtig, seine Stiefmutter! Passen Sie nur auf — da! Jetzt kommt die Wärterin mit dem Jungen vorbei, der will ihr die Hand geben — aber sehen Sie nur, wie schnell sie sich wegwendet, als kennte sie ihn nicht. Und den Wink, den die Wärterin dabei bekommt! Sie will ihn eben verleugnen, er ist ihr peinlich, besonders jetzt!“

„Der arme Junge!“

Ein tiefes Mitleid zitterte durch Gerdas Stimme.

Bolkow sprach kein Wort. Sein graues Auge, dem man auf den ersten Blick die scharfe Beobachtungsgabe ansah, folgte unverwandt der Erscheinung der Wärterin und ihres Begleiters, bis beide ihm hinter dem Vorbau des Kurhauses entschwanden.

Sie waren langsamen Schrittes, den schönen Abend voll geniessend, der Pension Falke zugeschritten. Frau Niebert, der Abneigung ihres Gatten eingedenk, sah einen schon öfter schüchtern angestellten Versuch, ihre Tochter von dem Staatsanwalt zu trennen, endlich von Erfolg gekrönt und nahm diesen für sich in Beschlag, fand ihn aber schweigsam und verschlossen.

Als sich die Herren vor dem Eingange der Pension von den Damen verabschiedet hatten, blickte Bolkow unwillkürlich an dem stattlichen Hause empor, und siehe, an die Brüstung eines offenstehenden Fensters des ersten Stockes gelehnt stand die wunderbare Frauengestalt, die er eben am Strande gesehen. Und neben ihr, kränker und elender erscheinend als vorhin im rosigen Hauche der Abendröte, kauerte auf einem Stuhle die armselige Gestalt des Kleinen, mit der dürren Hand die ihre streichelnd, den hilfesuchenden Blick zärtlich auf ihre Augen gerichtet.

Diese Augen aber irrten über die Bäume des gegenüberliegenden Parkes hinweg zum fernen Horizont, wo eben aus wallendem Wolkenschleier der Mond hervortrat und über den dunklen Meeresspiegel eine goldene Brücke baute, die planlos nun über die schweigende Tiefe dahinflimmerte.

Der Staatsanwalt

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