Читать книгу Villa im Tiergarten - Artur Hermann Landsberger - Страница 6

Drittes kapitel

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Am Abend dieses Tages glich meine Wohnung einem Zirkus unter Wasser, und ich, der beneidete Inhaber der vielumstrittenen Tiergartenvilla, hätte mit jeder trockenen Dreizimmerwohnung in einem Gartenhaus getauscht.

Ich rechnete damit, daß meine Freunde ein Einsehen und Verständnis für meine verzweifelte Lage haben würden.

„Drei von euch müssen hinaus,“ sagte ich, „und wenn ich einen Wunsch äußern darf, so wäre mir am liebsten, wenn Etville bleibt. Er ist der ruhigste und hat am wenigsten Anhang.“ Aber Rolf und Töns dachten gar nicht daran. Rolf meinte:

„Ich ärgere mich den ganzen Tag über so viel in meinem Beruf, daß ich diese Erholung des Abends geradezu nötig habe.“

„Erholung nennst du das?“ fragte ich empört.

„Gewiß! Ich habe mich den ganzen Winter über in keinem Theater und auf keiner Gesellschaft auch nur annähernd so gut unterhalten wie in den vierundzwanzig Stunden unter deinem Dach.“ Und Etville erklärte strahlend:

„Ich bin so gespannt, wie sich das hier weiter entwickelt, daß ich entschlossen bin, meine Reise nach Amerika aufzugeben. Nur, um hier nichts zu versäumen.“

Meine letzte Hoffnung war Timm. Ich trat an ihn heran und sagte:

„Aber du, Karl Theodor, du fühlst mit mir!“

„So sehr,“ erwiderte der, „daß es unfreundschaftlich von mir wäre, wenn ich dich in dieser Lage verlassen würde.“

Mithin blieb nichts anderes übrig, als die Versuche, Ordnung in dies Chaos zu bringen, fortzusetzen. Daß dazu nur eine Frau imstande war, stand für mich fest. Daß diese Frau unter den Unzähligen war, die sich anboten, war durchaus nicht sicher. Denn wie viele gab es denn, die all die Eigenschaften in sich vereinten, die dieser Posten erforderte? War aber wirklich eine darunter, so mußte man mit hellseherischer Kraft begabt sein, um sie aus diesen Bergen von Briefen herauszufinden.

Wir saßen ratlos vor einer unlösbaren Aufgabe. Die erste Hilfe leistete uns gesunder Fraueninstinkt. Frida erlaubte sich den Vorschlag, zunächst einmal alle die auszuscheiden, die an den Antritt die Bedingung knüpften, daß bei gegenseitigem Sichverstehen spätere Ehe nicht ausgeschlossen sei. Damit wanderte bereits mehr als ein Drittel in den Papierkorb. Auf Töns Rat hin schieden sodann alle die aus, die sich selbstgefällig anpriesen oder deren Bewerbungen nach schlechten Parfümen rochen. Damit war das zweite Drittel erledigt. — Ich führte den Gedankengang von Töns weiter und suchte aus dem Drittel, das übrigblieb, diejenigen heraus, die in irgendeiner Form Bedenken äußerten, ob sie dieser ungewöhnlichen Aufgabe auch wirklich gewachsen wären. Denn, sagte ich mir, wer ohne jede Hemmung nach diesem Posten, der auf alle Fälle ein Experiment blieb, greift, war ohne Verantwortungsgefühl oder litt an Größenwahn.

Diese von uns gestellten Forderungen erfüllten im Ganzen nur sechs Bewerberinnen, von denen wir uns schließlich für die folgende entschieden: Auf einem weißen, starken Kartenbrief mit Wappen stand in Schriftzügen, die Energie verrieten:

„Falls Ihr guter Wille so groß ist wie meine Entschlossenheit, habe ich den Mut, Posten zu übernehmen. Früher Tod der Eltern stellte mich unter jüngeren Geschwistern in unserem Majorat vor ähnlich schwierige Aufgabe, die ich einigermaßen zufriedenstellend gelöst zu haben glaube. Meine Jugend und mein Aeußeres sind nicht überwältigend.

Baronin Inge von Linggen,

zur Zeit Schloß Berg am Anger, Steiermark.“

Diese Bewerbung, die durchaus nicht ungeteilten Beifall fand, war zugleich eine der kürzesten.

„Das wird eine nette Vogelscheuche sein!“ meinte Timm.

„Macht nichts! — für das Auge ist gesorgt,“ erwiderte Töns und sah dabei Frida an.

Ueber ihr vermutliches Alter entspann sich ein Streit. Am höchsten schätzte Rolf, der meinte, sie werde so um die Fünfzig herum sein, während Burg, in dem ich so eine Art Betriebsrat sah und dem ich daher den Brief zeigte — denn die Besetzung dieses Postens betraf die Dienerschaft mehr als uns — mit erstaunlicher Bestimmtheit erklärte:

„Höchstens achtundzwanzig.“

„Das ist zu jung!“ meinte Frida. „Wir müssen doch Respekt haben.“

Rolf schlug vor, telegraphisch ein Bild zu fordern, das die meisten eingelegt hatten, und nach dem Alter zu fragen.

„Dann lehnt sie ab,“ sagte ich und setzte durch, daß wir ihr telegraphierten:

„Erwarten Sie so bald als möglich.“

Wir hatten in diesem Augenblick wohl alle das Gefühl, daß Frau von Linggen als Persönlichkeit wichtiger war als jeder einzelne von uns. Denn mit diesen sechs Worten begaben wir uns, zum mindesten innerhalb unserer vier Wände, des Rechts, zu tun und zu lassen, was wir wollten. Jeder von uns hatte eingesehen, daß das Spiel des Lebens ohne die Hand eines Regisseurs in diesem Hause unmöglich war. Diese Erkenntnis und das vielleicht überhebliche Gefühl, dank Instinkt und Intelligenz von Tausenden die Vollkommenste gewählt zu haben, sicherte Frau von Linggen von vornherein ein Prestige, ohne das ihr Posten aussichtslos gewesen wäre. Und als nach Verlauf von zwei weiteren unruhigen Tagen und Nächten Burg mir eines Vormittags weit förmlicher als sonst meldete:

„Baronin von Linggen wünschen Herrn Doktor zu sprechen,“ da sah ich ihn nur an und las aus dem Ausdruck seines Gesichts und seiner Haltung, daß sie die Richtige war.

In einem langen Sealskinmantel, ebensolcher Mütze, elegantem Schleier, schwarzen Schweden, Lackschuhen und hohen Gamaschen trat eine schlanke Dame mit schmalem, blassem Gesicht, großen braunen Augen und dunkelblondem Haar ins Zimmer.

Ich hatte mir gedacht, wie schwer ihr wohl ums Herz sein würde, wenn sie zum ersten Male die Schwelle dieses Junggesellenheims betrat. Ich sah sofort, ich hatte mich geirrt. Sicher, als wenn sie seit Jahren hier ein- und ausginge, trat sie ein. — Mein zweiter Gedanke war: Sie ist reichlich hübsch und elegant. — Und als wir uns gegenüberstanden und ich ihr die Hand reichte, dachte ich: Sie weiß, was sie will.

Ich machte ein paar Redensarten, daß ich mich freue und hoffe und so weiter — und sah an dem Ausdruck ihres Gesichtes, daß sie, was ich sagte, nicht gerade besonders originell und klug fand.

Etville, der hinzukam, stutzte, als er sie sah, war aber im selben Augenblick auch schon Herr der Situation und sagte:

„Gnädigste sind hier in eine nette Räuberbande geraten.“

Sie erwiderte lächelnd:

„Ich fürchte mich nicht.“

Ich forderte sie auf, sich zu setzen und begann, ihr die Situation so schonend wie möglich zu schildern. Sie hörte gespannt zu. Als ich auf die Schwierigkeiten hinwies, die in der so verschiedenen Lebensführung der einzelnen Bewohner lag, meinte sie:

„Das ist Sache der Regie!“

Sonderbar! dachte ich. Ob sie wie ich das Leben als ein nicht eben kurzweiliges Theater faßt? — Als ich die Existenz von Po Gri, Häslein, Lola und die Möglichkeit, daß sie in die Erscheinung traten, streifte, verzog sie keine Miene. Ich suchte sie durch etwas weiteres Ausspinnen zu bewegen, Stellung zu nehmen, und sagte:

„Sie werden verstehen, Baronin, wie peinlich es mir ist, von diesen Dingen zu reden — aber sie müssen nun einmal besprochen werden.“

„Ich bin anderer Meinung,“ erwiderte sie. „Wenn man derartige Dinge taktvoll behandelt, braucht man kein Wort über sie zu verlieren. Läßt man es aber an dem nötigen Takt fehlen, so sind sie indiskutabel. Also schweigen wir.“

„Sehr richtig!“ stimmte Etville zu. „Mir ist ein Hochstapler mit guten Manieren lieber als ein Prolet mit Bomben-Charakter. Takt ist alles!“

„Wenigstens bei ungewöhnlichen Verhältnissen wie hier,“ erwiderte die Baronin. „Und darum ...“ Sie hielt inne und sah Etville und mich prüfend an.

„... möchten Sie wissen, ob wir Takt haben.“

„Ja!“ sagte sie glatt heraus. „An diese Bedingung möchte ich meinen Eintritt knüpfen.“

Etville, der in Gedanken schon Besitz von ihr ergriffen hatte, erschrak.

„Und in welcher Zeit“, fragte ich, „können Sie das feststellen? Dazu gehören vermutlich doch Wochen.“

„Augenblicklich,“ erwiderte sie. „Darf ich Sie bitten, mich den anderen Herren vorzustellen?“

Ich läutete. Wie stets, kam niemand.

„Viel Eindruck scheint es nicht zu machen,“ meinte Frau Inge.

„Was erwarten Sie, Baronin!“ erwiderte ich. „Beim erstenmal? — Das werden auch Sie nicht hineinbekommen —“ — Ich drückte ein zweites, ein drittes Mal auf den Knopf — und als ich eben, mehr aus Gene vor Frau Inge, die den Kopf senkte und zu lächeln schien, als aus Ueberzeugung, empört tat und hinausgehen wollte — da öffneten sich zu meinem Erstaunen alle vier Türen zugleich, und Burg, Fräulein Fleck, Nitter und Frida erschienen und fragten:

„Hat’s hier geklingelt?“

„Ja!“ erwiderte ich ... „Und zwar dreimal.“

„Ich dachte ...“ sagte jeder, und auf die Frage, was sie dachten, stellte sich heraus, daß sich wie üblich einer auf den anderen verlassen hatte.

„Sagen Sie den Herren, Frau Baronin von Linggen sei da! Sie möchten nach vorn kommen.“

Als erster erschien, eben dem Bad entstiegen, in langem, seidenem Schlafrock, Rolf. Er hatte die Klinke der Tür noch in der Hand, streifte Frau Inge nur mit einem Blick, fuhr ruckartig zurück, sagte:

„Verzeihung.“

und verschwand wieder.

„Gut!“ sagte Frau Inge, und ich erwiderte:

„Das fand ich auch.“

In der mittleren Tür, zu der wir mit dem Rücken saßen, erschien Töns und schob Frida, die sich eine Haushälterin ganz anders vorgestellt hatte und nun mit weitaufgerissenen Augen dastand und sie anstarrte, zur Seite, trat näher, lächelte verbindlich, sagte:

„Ah! die Baronin!“

beugte den Kopf und küßte ihr die Hand.

Ich stellte vor und fügte hinzu:

„Mit ihm werden Sie am wenigsten Mühe haben.“

„Ich hoffe, im Gegenteil, Baronin, Ihnen Mühen abnehmen zu können,“ erwiderte Töns und setzte sich mit einer kurzen Verbeugung zu Inge. Im selben Augenblick erschien Rolf, der sich mit Hilfe des Dieners schnell angezogen hatte.

„Ich hatte ja keine Ahnung ...“, sagte er und begrüßte sie in der gleichen Form wie Töns.

„Wovon hatten Sie keine Ahnung?“ fragte Frau Inge, obschon sie wie wir wußte, was gemeint war. Denn wenn er sich auch von Frau Inge ein anderes Bild als Frida gemacht hatte — so hatte er sie sich bestimmt nicht vorgestellt. Und daß ihn der Takt davon abhielt, ihr in dem kostbaren Seidenmantel gegenüberzutreten, dessen Zweck es grade war, auf Frauen zu wirken, zeigte deutlich seine Einstellung.

Rolfs nicht einfache Antwort auf Frau Inges Frage lautete:

„Daß Sie es sind.“

Sie lächelte und meinte:

„Das besagt nicht viel.“

Schließlich erschien auch Karl Theodor Timm. Er trug ein blauseidenes Hausjackett und die Scherbe im Auge.

„Schau an!“ sagte er, noch ehe ich ihn vorstellen konnte. „Sie also sind von Linggen?“ — Er besah sie etwa, wie man ein neues Stück Möbel betrachtet, von dem man weiß, daß man es täglich ein paarmal zu Gesicht bekommen wird.

Jetzt erst nannte ich seinen Namen.

„Ich weiß,“ sagte sie. „So ein Gesicht vergißt man nicht — zumal, wenn man ihm im Ausland begegnet. — War es nicht in Buenos Aires? — Oder ...? Halt! es kann auch zwei Jahre später in Yokohama gewesen sein.“

„Schon möglich!“ erwiderte Timm. „Was hatten Sie denn in Yokohama zu suchen?“

„Ich begleitete meinen Vater in einer diplomatischen Mission. Leider war ich noch ein halbes Kind und habe daher nicht viel davon gehabt.“

„Und nach Yokohama ausgerechnet zu uns?“ fragte Timm grinsend.

„Dazwischen liegt mancherlei,“ erwiderte Inge.

„Und nicht viel Angenehmes,“ ergänzte ich, in der Hoffnung, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. Aber Timm war wißbegierig:

„Immerhin von Yokohama bis zu uns ist ein weiter Weg.“

„Den ich Ihnen später vielleicht einmal erzählen werde,“ entgegnete Frau Inge. „Im Augenblick aber nicht.“

Ich erklärte, daß dazu auch keinerlei Veranlassung vorläge und daß für uns viel wichtiger wäre zu erfahren, ob sie nach nunmehriger Inaugenscheinnahme der fünf Junggesellen bereit sei, den ihr angetragenen Posten zu übernehmen.

Inge antwortete zunächst ausweichend:

„In einem Punkte will ich die Wißbegier Meister Timms befriedigen. Was allein im Leben für mich noch Reiz hat“, — wir horchten auf, Etville ganz besonders — „ist der Versuch oder der Sport — oder wie sonst Sie es nennen wollen — ungewöhnliche Situationen zu schaffen und ihrer Herr zu werden.“

„Dann sind Sie am richtigen Platz,“ sagte Rolf — weniger aus Ueberzeugung als aus dem Wunsch heraus, Frau Inge zu halten.

„Das Inserat hatte jedenfalls diese Wirkung. Nachdem ich nun das Vergnügen habe, Sie zu kennen“ — sie zögerte und fuhr dann fort und fragte: — „Darf ich offen sein?“

„Bitte!“ sagten wir.

„Nun, ein wenig an Reiz hat es für mich verloren.“

Wir machten alle fünf die denkbar dümmsten Gesichter, Karl Theodor Timm fiel sogar die Scherbe aus dem Auge. Nur Töns lachte laut und meinte:

„Sie haben uns aber schnell erkannt.“

„Das ist es!“ gab sie zu. „Viel zu schnell! Und das macht die Erfüllung meiner Erwartungen nicht grade wahrscheinlich.“

„So uninteressant sind wir Ihnen?“ fragte Timm.

„Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen,“ wich sie aus, „daß einer von Ihnen mich vor eine Situation stellt, die mir Kopfzerbrechen macht. — Wirklich nicht, Herr Timm! Selbst wenn Sie mich eines Tages bitten sollten, Ihnen bei der Zelebration der schwarzen Messe zu assistieren.“

Karl Theodor lächelte verächtlich und sagte:

„Ueber derart harmlose Vergnügungen bin ich längst hinaus.“

„Und doch bezweifle ich, daß Sie imstande sind, das einzige, wovor ich mich im Leben fürchte — und was ich oft schon glotzend wie ein Reptil heranschleichen sehe, von mir zu bannen: die Langeweile. Sobald die den Rachen aufreißt, um mich zu verschlingen, rette ich mich in ein besseres Jenseits.“

„Sie suchen also Sensationen?“ fragte Rolf.

Frau Inge sagte:

„Ja und nein! Es läßt sich schwer sagen! Denn es gibt kein Programm. Es sei denn, daß ich die Dummheit um jeden Preis fliehe, selbst da, wo sie mit Bergen Goldes und dem Paradies auf Erden lockt.“

„So dumm sind wir nicht, daß Sie vor uns zu fliehen brauchen,“ beteuerte ich.

„Jedenfalls möchte ich nicht, daß Sie mich falsch verstehen. Ein Gedicht wie ‚Weich küßt die Zweige der weiße Mond‘ oder ‚Ueber allen Gipfeln ist Ruh‘ bewegt mich viel stärker als Dantes ‚Hölle‘ oder Grünewalds ‚Kreuzabnahme‘.“

„Dann haben Sie keine Chancen, Timm!“ sagte Rolf, und der blonde Arier Karl Theodor fuhr sich mit der Hand durch das seidenweiche Haar, verzog den Mund und sagte:

„Nebbich!“

Ich fühlte, daß diese Zwiesprache Frau Inge in ihrer Absicht, zu bleiben, nicht grade bestärkte.

In diesem Augenblick erschien Burg und gab Etville durch ein kaum merkbares Zeichen zu erkennen, daß er ihn zu sprechen wünsche.

Etville wollte aufstehen, aber ich hielt ihn zurück und sagte:

„Warum? Es ist doch besser, daß die Baronin gleich die Gewohnheiten des Tags kennenlernt.“ —

„Auto oder Nachtlokal?“ fragte Töns.

Burg verzog keine Miene.

„Sag ihm doch, er soll reden!“ bat ich Etville. — Der wandte sich an Burg und sagte:

„Also!“

„Dreihundertachtundsechzigtausend Mark,“ las Burg von einem Zettel.

„Sie hatten schon teurere Nächte!“ sagte Timm und hätte noch mehr gesagt, wenn ihn nicht ein vernichtender Blick Burgs verblüfft hätte.

„Es handelt sich um Wäsche für Bister,“ fuhr Burg fort, ohne Timm eines Blickes zu würdigen, und während Etville den Scheck ausschrieb, sagte er: „Es tut mir leid, aber die Rechnung war quittiert.“ — Und dabei ließ er den Zettel, dem jeder von uns schon rein äußerlich das Nachtlokal ansah, in seiner Rocktasche verschwinden.

„Darf ich wissen, wer Sie sind?“ fragte Frau Inge.

Burg wartete einen Augenblick ab, ob Etville antworten würde, und da der schwieg, so sagte er:

„Ich bin der persönliche Diener des Baron Etville.“

Ich merkte, daß Burgs Takt manchen Fehler von uns ausglich, und schöpfte wieder Hoffnung, daß sie bleiben würde. Und in der Tat sagte sie, während sich Burg diskret zurückzog:

„Ja, meine Herren, Sie kennen mich nun, und ich kenne Sie. Falls Sie also glauben, daß ich hier am Platze bin ...“

„Sie wollen also?“ riefen wir gleichzeitig; nur Karl Theodor grinste und schwieg.

„Nun, Herr Timm?“ fragte Frau Inge, und er erwiderte:

„Ich bin mit allem einverstanden.“

„Sie bleiben!“ riefen wir und sprangen auf. Und einer nach dem andern drückte ihr die lange, schmale Hand, von der sie die schwarzen Schweden gezogen hatte. Auf dem dritten Finger trug sie einen in Platin gefaßten Smaragd von vollendeter Reinheit.

Während ich Champagner kommen ließ, lud Etville sie für den Abend in die Oper, Rolf in die Skala ein, während Töns erklärte:

„Die dummen Theater! Kommen Sie lieber mit mir was zu Pelzer.“

Frau Inge lachte und lehnte alles ab.

„Das ist ja ein Tempo, meine Herren! — Ich bleibe heute und morgen bei meiner Tante ...“

„Was für einer Tante?“ fragte Timm.

„Sie kennen sie vielleicht. Sie schreibt auch, Gräfin Benz.“

„Timm schreibt nicht,“ berichtigte Töns. „Karl Theodor dichtet.“

„Ich glaube doch, ich bin dem Posten nicht gewachsen,“ erwiderte Frau Inge.

„Was haben Sie nun mit uns vor?“ fragte Timm freundlich. „Zu was wollen Sie uns bekehren?“

„Zu Menschen!“ erwiderte Frau Inge.

„Gott! wie langweilig!“ rief Timm, und ich fragte:

„Für was halten Sie uns denn jetzt?“

„Für nichts dergleichen. Sie sind einfach Objekte derjenigen gesellschaftlichen Sphäre, in der Sie leben, wirken oder in irgendeiner Form eine Rolle spielen wollen. — Sehen Sie, Herr Timm, und das finde ich langweilig.“

„Und wenn diese Sphäre die Welt ist?“ fragte der.

„Dann müßten Sie ein Genie, also ein Goethe oder Napoleon sein.“

„Stimmt!“ sagte ich. „Für uns gewöhnliche Sterbliche ist Größe schon, jede Pose abzulegen und natürlich empfindende und natürlich sich gebende Menschen zu sein.“

„Die wir ausnahmslos nicht sind,“ beteuerte Töns, und ich sagte:

„Also wäre es eine Aufgabe!“

„Ein Versuch,“ verbesserte Frau Inge, und Töns fügte hinzu:

„Am untauglichen Objekt.“

„Nicht bei allen,“ meinte Frau Inge und sah uns der Reihe nach an, ohne daß wir errieten, wen sie meinte.

„Darf ich bitten, mit mir zu beginnen,“ sagte ich. — Die gleiche Forderung stellten die andern, und Frau Inge erwiderte:

„Das geschieht mit allen gleichzeitig, ohne daß Sie es merken —“

Timm fragte:

„Gedenken Sie uns als Hotel oder als Familie zu behandeln?“

„Ich sagte doch schon: ‚als Menschen‘,“ erwiderte sie, woraufhin er meinte:

„Na, das kann ja nett werden!“

In diesem Augenblick erschien wieder Burg; wenn möglich noch genierter als das erstemal. Diesmal fragte Frau Inge:

„Nun, was gibt’s?“

„Ich hätte gern einen der Herren ...“

„Das war einmal!“ erklärte Frau Inge. „Von heute ab wenden Sie sich mit allem, was dies Haus angeht, zuerst an mich.“

„Mit allem?“ fragte Burg und schien entsetzt, um so mehr als Frau Inge wiederholte:

„Ausnahmslos mit allem.“

„Ja ... aber ...“, warf ich ein — „es gibt doch Dinge ...“

„Und was für Dinge!“ versicherte Töns. „Ganz unmöglich!“

„Nein, meine Herren!“ erwiderte Frau Inge. „Es gibt nichts, was nicht durch taktvolle Behandlung einer Frau möglich wäre.“

„Na, Baronin, da werden Sie hier bald umlernen,“ erklärte Timm.

„Also!“ wandte sie sich energisch an Burg. „Was gibt’s?“

„Eine junge Dame ...“

„... wünscht wen zu sprechen?“ fragte Frau Inge, da Burg vor Scheu nicht weitersprach.

„Mich wahrscheinlich,“ sagte Etville.

„Es kann auch für mich sein,“ meinte ich kleinlaut. Rolf sah nach der Uhr und rief:

„Teufel ja! das ist am Ende schon Häslein.“

„Halb zwölf,“ sagte Timm, der über meine Schulter Rolfs Uhr sah, „Daisy wollte doch erst um eins kommen.“

Burg war empört, während man Frau Inge nicht ansah, wie sie es aufnahm. Um es festzustellen, sagte ich:

„Wir werden dann doch wohl gezwungen sein, Ihnen unsere Damen vorzustellen.“

„O nein!“ widersprach Frau Inge. „Ich wünsche nicht, die Zusammenhänge kennenzulernen,“ — und zu Burg gewandt, fuhr sie fort: „Ist es eine Dame?“

„Dem Namen und dem Aeußern nach schon,“ erwiderte er.

Frau Inge stand auf. — Im selben Augenblick erhoben sich Etville, Rolf, Töns und ich.

„Ist hier nebenan ein Zimmer, in dem man empfangen kann?“ fragte sie. Und da Burg bejahte, fuhr sie fort: „Führen Sie die Dame hinein!“

Sie stellte noch ein paar Fragen, die sich auf die Wohnung bezogen, und stellte fest, daß wir alle bereit waren, die Verteilung der Zimmer ihr zu überlassen — vor allem die Räume zu bestimmen, in denen sie wohnen wollte. Dann ließ sie sich von Burg zu der Dame führen.

Kaum war sie draußen, da sagte Etville:

„Eine fabelhafte Angelegenheit, diese Frau!“

„Das große Los!“ erwiderte ich, und Rolf meinte:

„Die vollendetste Dame, die mir je begegnet ist.“

„Uradel, meine Lieben!“ meinte Töns. „Das erklärt alles. So was kriegt man nicht rein in’n Menschen. Das liegt drin!“

Nur Karl Theodor verzog den Mund und sagte:

„Nebbich!“

„Was, glaubt ihr, wird sie Gehalt fordern?“ fragte ich, woraufhin Etville erwiderte:

„Die Linggens, wenigstens ihre Linie, sind immens reich. — Ich glaube, sie verlangt nichts.“

Karl Theodor grinste und sagte:

„Wenn ihr euch nur nicht schneidet. Auf Gehalt wird sie vielleicht verzichten, dafür wird sie’s euch in anderer Form zehnfach abnehmen!“

Worauf das hinausging, war klar; erstaunlich war nur der einmütige Widerspruch und die Bestimmtheit, mit der wir erklärten:

„Sie ist eine Dame!“

Timm lächelte höhnisch, stand auf, hob das rechte Bein wie ein Hund nach hinten, klopfte sich auf den Absatz, sagte:

„Da — da!“

und ging hinaus.

Im Nebenzimmer empfing inzwischen Frau Inge ein Fräulein Hildegard von Strichlitz, das etwa achtzehn Jahre alt, gut angezogen und bildhübsch war.

Sie nannten ihre Namen und gaben sich die Hand, plauderten vom Adel, vom Landleben, von dem heruntergekommenen Berlin — und nach kaum fünf Minuten wußte Frau Inge, wes Geistes Kind Hildegard von Strichlitz war. Sie kam ihrer Gesangsstunde wegen wöchentlich einmal nach Berlin und übernachtete dann bei ihrer Freundin, der Tochter eines ehemaligen Generals, der sehr streng war und nicht einmal duldete, daß die beiden Mädchen des Abends ein Kino besuchten.

„Sie halten sich also tagsüber schadlos?“ fragte Frau Inge.

„Was soll man tun? Auf dem Lande wächst man aus. Und da unsere Kreise heute nach Geld heiraten, so weiß man, selbst wenn man hübsch ist, nicht einmal, ob man einen Mann findet.“

„Also nutzt man auf alle Fälle Zeit und Jugend.“

„Was soll man anderes tun?“

„Nur darf man sich nicht um seinen guten Ruf bringen,“ mahnte Frau Inge und hatte damit schon ins Schwarze getroffen, denn Fräulein von Strichlitz erwiderte:

„Das ist es ja gerade, was so schwer ist.“

„Ein Besuch in diesem Hause ist für ein junges Mädchen aus Ihren Kreisen, das an die Ehe denkt, schon bedenklich.“

„Aber deshalb komme ich ja!“

„Weshalb?“ fragte Frau Inge.

„Um mir das bescheinigen zu lassen.“

„Wie? — Ihre Ehefähigkeit?“

„Ja!“

„Und wer soll das tun?“

„Herr Töns aus Essen.“

„Was soll der bescheinigen?“

„Daß er niemals etwas mit mir zu tun hatte.“

Inge glaubte, nicht recht verstanden zu haben, und fragte:

„Warum gerade er? Das müßten Sie sich, damit es Sinn hätte, doch von jedem Manne zwischen sechzehn und sechzig Jahren bescheinigen lassen.“

„Es ist doch immer besser, man hat etwas, als nichts,“ erwiderte Fräulein von Strichlitz.

Inge lachte und fragte:

„Verlangt’s jemand von Ihnen?“

„Mein Vater.“

„Und wie kommt er auf Herrn Töns?“

„Durch mich. Irgendwer hat ihm erzählt, daß ich jedesmal, wenn ich in Berlin bin, den halben Tag über im Esplanade wäre.“

„Und Sie sind es nicht?“

„Aber ja!“

„Ich verstehe! Sie selbst haben daraufhin den Verdacht auf Herrn Töns gelenkt?“

„Er wohnt doch hier?“

„Gewiß!“

„Und Sie glauben, er wird es mir bescheinigen?“

„Ich bin überzeugt davon.“

„Ich bin nicht so sicher! — Es gibt keine Kavaliere mehr.“

„Das sagen Sie mit Ihren achtzehn Jahren?“ — Frau Inge stand auf. Der Fall interessierte sie. Sie öffnete die Tür zu dem Zimmer, in dem wir, noch immer von ihr beeindruckt, saßen, und rief hinein:

„Bitte, meine Herren, auf einen Augenblick.“

„Hilde!“ rief Rolf, der als erster ins Zimmer trat, und Etville, der ihm folgte, sagte freudig:

„Du bist es, Litzchen?“

Sie war ganz unbefangen, freute sich und sagte:

„Ich wußte ja gar nicht, daß ihr euch kennt.“ — Als sie mich sah, rief sie: „Peter!“ — Nur Töns, der als letzter eintrat, stellte sich vor und war förmlich. Hilde betrachtete ihn genau:

„Sie also sind Herr Töns!“ sagte sie. „Ich hatte Sie mir anders vorgestellt.“

„Woraufhin?“ fragte er.

„Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“

„Nichts Ungünstiges hoffentlich.“

„Doch! Sie kennt jeder.“

„Sie zum Beispiel kannten mich nicht.“

„Deshalb gerade kam ich.“

„Ein großer Vorzug für mich.“

„Es hat tiefere Gründe,“ mischte sich Inge in das Gespräch, da Hilde nicht recht weiter wußte. „Fräulein von Strichlitz hat eine Bitte an Sie.“

„Nämlich?“ fragte Töns und faßte in seinen Rock, wo die Brieftasche steckte.

„Warum kommst du nicht zu mir, Hilde?“ fragte Etville, und Rolf beteuerte:

„Ich hätte dir auch gern geholfen.“

Hilde schüttelte den Kopf und sagte:

„Ich brauche eine Bescheinigung, daß Herr Töns niemals in Beziehung zu mir stand und“ — fuhr sie zaghaft fort — „von meiner Unschuld überzeugt ist.“

„Wer behauptet denn, daß ich mit Ihnen ...?“

„Niemand!“

„Nun also!“

„Wenn sie es doch braucht, so bescheinige es ihr!“ sagte ich; und Rolf und Etville sagten dasselbe.

„Warum gerade ich?“ erwiderte Töns. „Das ist doch sinnlos.“

„Wieso sinnlos?“ fragte Hilde.

„Weil ausgerechnet ich doch wirklich in keinerlei Beziehung zu Ihnen stand. Bescheinigt ihr das gefälligst,“ wandte er sich an uns — „Da hat es doch einen Sinn!“

„Wieso?“ fragte ich.

„Weil es eine Tatsache widerlegt, die jemand behaupten kann. — Für jede Frau, die ich besessen habe, leiste ich den Ueberzeugungseid ihrer Unschuld. Aber eine Frau, die hübsch ist, nicht besitzen und ihr das noch schriftlich bestätigen — ich habe das Gefühl, daß man sich damit lächerlich macht.“

„Damit hat er nicht ganz unrecht,“ erwiderte ich und erbot mich, das verlangte Unschuldsattest auszustellen! Rolf und Etville erklärten sich bereit, mit zu unterschreiben.

„Eine Frau, die keiner von euch dreien besessen hat,“ sagte Töns, „der ist der Nachweis ihrer Unschuld schon zu drei Viertel gelungen.“

Hilde schien unbefriedigt.

„Ich habe doch aber den Verdacht meines Vaters nun mal auf Herrn Töns gelenkt,“ sagte sie. Und selbst als Töns versprach, bis morgen weitere hundert Unterschriften bekannter Lebeleute zu beschaffen, blieb sie dabei, daß die eine Unterschrift von Töns in diesem Falle wichtiger sei. — Der aber blieb bei seiner Weigerung.

In diesem Augenblick, in dem eine Lösung ausgeschlossen schien, griff Frau Inge ein. Ohne den Ausdruck des Gesichts zu verändern, sagte sie mit vollendeter Sachlichkeit:

„Ließe sich das Hindernis, an dem Herr Töns sich stößt, denn nicht beheben?“

Zunächst verstand sie niemand. Daran war die sachliche Art, in der sie es vortrug, schuld. Aber schon im nächsten Augenblick lag auf allen Gesichtern ein schmunzelndes Lächeln.

Wenn jetzt nur niemand etwas sagt, dachte Frau Inge. Und das gleiche Taktgefühl hatten die andern. Töns schien etwas verlegen, stand auf, trat an Hilde heran und sagte:

„Die Baronin hat recht. Ich glaube, wir besprechen den Fall am besten bei einem Glase Wein. Darf ich Sie bitten, mit mir zu frühstücken?“

„Gern,“ erwiderte sie, grüßte nach allen Seiten und ging hinaus. Töns folgte ihr, nahm Hut und Mantel und fuhr mit ihr davon. Und während beide irgendwo beim Frühstück saßen und die Bedenken, aus denen Töns seine Unterschrift verweigerte, behoben, nahm Frau von Linggen unter meiner Führung die Wohnung in Augenschein.

Rolf und Etville folgten uns, und ich hörte, wie Rolf sagte:

„Ich finde diese Frau prachtvoll.“

„Erlaube mal,“ widersprach Etville bestimmt, „ich habe sie vor dir prachtvoll gefunden.“

Rolf erwiderte:

„Es wird sich ja zeigen. Im übrigen scheint mir, daß die Entscheidung bei ihr und nicht bei uns liegt.“

„So etwas habe ich mir immer mal gewünscht!“ sagte Etville, und Rolf erwiderte:

„Ich glaub’s! Denn so oft wir uns bisher fragten: ‚Wirst du diese oder jene Frau bekommen,‘ lautete die Antwort stets: ‚Es kommt darauf an, wie tief wir in die Tasche greifen.‘ Und das wird auf die Dauer langweilig.“

„Davor gerade, versprach sie, sich und uns zu schützen,“ erwiderte Etville: „Vor Langeweile!“

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