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I

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Es roch noch immer nach Lorbeerblättern, Rosen und Veilchen. Die breiten Wände des ausgeräumten Eßsaales waren mit schwarzem Tuche überspannt. Vor den großen Spiegeltüren, die an beiden Seiten in die Nebenräume führten, standen noch gedrängt die Efeukästen und Palmen. Zwischen den Riesenkandelabern, die in gerader Linie nebeneinander unten im Saale standen, lagen die letzten Kränze; die wohl zu spät gekommen oder, da der Wagen sie nicht mehr faßte, aus Not zurückgeblieben waren.

Die eine Spiegeltür wurde aufgerissen.

»Fabelhaft, fabelhaft«, sagte der Professor.

»Es riecht überall gleich stark nach Menschen«, stöhnte Ida. »Man hätte, während wir auf dem Kirchhofe waren, wahrhaftig lüften können. Aber Rücksichten kennt sie nun einmal nicht, deine Nichte Fanny.«

»Hier ist’s erträglicher«, erwiderte der Professor, schnüffelte in den Eßsaal und schob sich durch die Tür. Ida folgte:

»Meinetwegen!«

Auch die andern kamen: Regierungsrat Störmer mit Gattin, Oberlehrer Sasse mit Frau, Hofbankier Walther nebst Gemahlin. Alle in tiefer Trauer. Die Männer in zugeknöpftem Gehrock mit Zylinder; gekränkt, ernst, würdevoll, kerzengerade. Die Frauen mit blassen Gesichtern, rotgeweinten Augen und traurig mitleidsvollen Mienen.

»Setzt euch«, sagte der Professor.

Sie schoben die Stühle, die durcheinander standen, in einen Halbkreis und setzten sich. Die Männer legten ihre hohen Hüte unter die Stühle, die Frauen zogen die Leinentücher aus den Taschen und weinten.

Nur der Professor stand noch.

»Ihr seid damit einverstanden, daß wir mit Fanny das Notwendigste gleich jetzt besprechen?«

Die Männer sagten »Ja«; die Frauen nickten mit den Köpfen.

»Kann man denn nicht wenigstens bis morgen damit warten?« schluchzte die Gemahlin des Hofbankiers Walther.

»Nein!« sagte kurz der Professor und unterdrückte damit den Widerspruch Sasses, der auch gerade den Mund auftat, um zu sprechen. Der Professor schritt würdevoll zur Tür, rief dem Diener und befahl mit tiefer Stimme:

»Sagen Sie meiner Nichte, daß die Familie sie hier erwartet.«

Der Diener zögerte: »Gnädige Frau haben mir streng befohlen, heute jeden Besuch . . .«

Weiter kam er nicht; der Professor schob ihn zur Seite. Man hörte, wie er mit starken Tritten über den Korridor schritt, jetzt stehen blieb, kräftig an einer Tür pochte, öffnete, eintrat . . .

Nun, da man nichts mehr hörte, atmeten die Frauen tief auf; die Männer räusperten sich; der Oberlehrer spuckte ins Taschentuch; der Regierungsrat sah’s und wandte sich ab; der erstaunte Diener schüttelte den Kopf und flüsterte: »Shocking!« Nur die Gemahlin des Hofbankiers schluchzte noch immer . . .

Da wurden von neuem die Tritte des Professors hörbar; die Frauen begannen wieder zu weinen; die Männer räusperten sich nicht mehr; der Oberlehrer steckte sein Schnupftuch in die Hosentasche; der Diener stand kerzengerade, und in die Tür trat: der Professor! An seinem Arme hing Fanny, die kaum die Füße rührte. Ernst und entschieden schob er sie neben sich her, führte sie zu einem Sessel und sagte kurz:

»Setz’ dich.«

Fanny glitt willenlos in den Sessel. Sie hatte längst keine Tränen mehr und stierte mit glanzlosen Augen teilnahmslos vor sich hin. Sie sah nichts und wußte nichts; weder was diese Menschen hier von ihr wollten, noch was nun weiter wurde. »Nur nicht denken, nicht denken!« rief sie sich zu, so oft sie aus ihrer Anästhesie erwachte.

Der Professor war anderer Ansicht.

»Wir haben bis jetzt geschwiegen«, begann er mit kräftiger Stimme; »nun aber ist es endlich an der Zeit zu reden.«

Das war ganz dumm, denn draußen schaufelten die Leichengräber noch an dem Grabe. Aber es wirkte. Einmal, weil es echt war, und dann, weil bei allen die Neugier, mehr von den Motiven zu hören, die »diesen lebensfrohen Menschen mitten aus der Fülle seines künstlerischen Schaffens« – das waren die Worte des Geistlichen gewesen – in den Tod getrieben hatten, größer war als die konventionelle Trauer, für deren Äußerung ja später noch Zeit und Gelegenheit genug blieb.

»Liebe Fanny,« fuhr er in feierlichem Tone fort, »das reine Wappenschild unserer Familie ist durch diesen gewaltsamen Tod und seine Zusammenhänge beschmutzt. Es ist unsere Pflicht, aus Pietät für die Toten« – hier schluchzte die Frau des Oberlehrers – »wie aus Rücksicht auf die lebenden Mitglieder unserer Familie, diesen Schandfleck zu tilgen.«

»Sehr richtig!« rief der Regierungsrat, und der Oberlehrer nickte so lebhaft mit dem Kopfe, daß ihm der Kneifer von der Nase flog.

»Und zwar so schnell wie möglich!« fuhr der Professor fort. »Ich habe daher den Rechtsanwalt Heinrich gebeten, gemeinsam mit uns zu beraten, was im Interesse des Rufes der Familie zu geschehen hat. Wir rechnen dabei mit Bestimmtheit auf dich, Fanny. Für dich kann es ja in dieser Stunde nur eine Pflicht geben: die Schuld deines seligen Mannes zu sühnen. Bist du dazu bereit?« fragte er sie.

Fanny saß teilnahmslos und hörte nichts. Als er ihr jetzt: »Bist du bereit?« in die Ohren brüllte, sah sie auf und sagte leise: »Ja«, ohne zu wissen, was man von ihr wollte. Es ist ja auch ganz gleich, dachte sie.

Der Professor gab ein Zeichen. Der Diener öffnete die Tür, und der runde, kleine Anwalt polterte herein. Wie drei aufeinandergestülpte Kugeln sah er aus, legte Hut und Mantel ab, schlug die Hacken zusammen, beugte den runden Oberkörper nach vorn und küßte der Gemahlin des Hofbankiers ehrfurchtsvoll die Hand, drückte die der Frau Regierungsrat mit verbindlichem Lächeln, grüßte mit kurzer Kopfbewegung zur Frau Oberlehrer hinüber und sagte, ohne sich zu bewegen, kurz und steif: »Tag!«, als er bei Fanny vorüberschritt. Dann setzte er sich neben den Professor.

»Was zunächst die finanzielle Seite dieses Trauerfalles angeht, so hat dein Mann trotz seines großen Einkommens, es waren wohl an die 60.000 Mark im letzten Jahre« – »hier lächelte die Frau des Hofbankiers Walther, aber der Frau des Oberlehrers stieg das Blut in den Schädel, und sie stieß ihren Mann an – »wie du ja weißt, keinen Pfennig Vermögen hinterlassen.«

Vorwurfsvoll fuhr er fort: »Du, Fanny, kanntest seine leichtlebige Art, aber leider: du machtest nicht einmal den Versuch, ihn zur Sparsamkeit anzuhalten; du bist also mit schuld daran, wenn du mit deinen Kindern heute mittellos dastehst; hättet ihr nur die Hälfte eures Einkommens jährlich zurückgelegt, so würdet ihr heute nicht der Familie zur Last fallen.«

Er trat einen Schritt vor.

»Blickt auf mich! Ich gehöre seit fünfzehn Jahren als Extraordinarius dem Lehrkörper der königlichen Universität an, bin Mitglied des Stadtverordnetenkollegiums und seit nunmehr sechzehn Jahren Kandidat der nationalliberalen Partei im Kreise Dortmund-Hoerde. Es ist, wenn die heutige Konstellation bis zu den nächsten Wahlen anhält, durchaus nicht ausgeschlossen, daß ich eines Tages als Volksvertreter in den Deutschen Reichstag einziehe« – er machte eine Pause, denn er wollte die Wonnen dieser, wenn auch noch so fernen, Aussicht ganz genießen. – »Aber« – und er unterstrich jedes Wort – »ich brauche trotz der Verpflichtungen, die mir meine hohe soziale Stellung auferlegt, noch nicht die Hälfte von dem, was ihr jahrein, jahraus vergeudet habt. Ich lege Wert darauf, heute daran zu erinnern, daß ich vor zweiundzwanzig Jahren schon gegen diese Ehe Fannys mit einem Künstler war. Allen diesen mir so wesensfremden Menschen fehlt gerade das, was wir als die bedeutsamste Tugend von einem jeden deutschen Manne, gleichviel welcher Konfession und welcher politischen Richtung er angehört, entschieden fordern müssen: die innere Gebundenheit! Das Pflichtgefühl! Mit einem Worte: die Korrektheit! Wir brauchen keine Individualitäten! Die Begriffe von Moral und Recht stehen fest; sich ihnen anzupassen und unterzuordnen, ist die Pflicht eines jeden. Wem sie nicht passen, wer eigene Wege geht, den übergeben wir dem Arzte oder dem Staatsanwalt! – Und diese Korrektheit, die fehlte leider auch ihm, der dich zur Frau nahm und so mein Verwandter wurde, ohne daß ich mich bis zum heutigen Tage ihm verwandt fühlte. Ja, ich benutze diese Stunde, um ganz förmlich diese Absage an den nun in Gott Entschlafenen zu richten, dessen ganz freie, persönliche, an keine Prinzipien und keine Tradition gebundene Auffassung vom Leben, die sich über herrschende Moral und geltende Gesetze kühn hinwegsetzte, mir vom ersten Tage an zum äußersten zuwider war.«

Der Professor hatte gesprochen; seine Frau stand auf, trat an ihn heran, drückte ihm die Hand und sagte:

»Wie stolz ich auf dich bin!« Sie ging dann zu Fanny, die noch immer nicht wußte, was vorging, legte ihren Arm auf ihre Schulter und klagte:

»Wenn dein Mann ihm auch nicht gleich zu ähneln brauchte,« und dabei wies sie auf den Professor, der eben hinzutrat, »ein klein wenig nur von seiner Größe und Würde hätte ja genügt, um dich und die Kinder glücklich zu machen!«

Fanny schwieg; aber der Professor sagte: »Da magst du schon recht haben. Das darf uns aber nicht hindern,« und damit wandte er sich an den Anwalt, »so sehr euch meine Worte auch bewegt haben – man ist nun einmal Mensch und kommt aus seiner Haut nicht heraus – nunmehr den Gegenstand rein geschäftlich zu behandeln.«

Dr. Heinrich entnahm seiner Mappe ein Schriftstück.

»Bitte«, sagte der Professor.

»Was ich vorzutragen habe,« erklärte Dr. Heinrich, »ist an die Adresse der Frau Fanny Kersten gerichtet. Alle andern«, und er sah sie der Reihe nach an, »kennen den Inhalt. Ich habe aber den Eindruck, als wenn Frau Kersten den Vorgängen hier überhaupt nicht folgte.«

»Das wäre ja noch schöner«, erklärte entrüstet der Professor. »Ja, für wen sitzen wir denn hier und vergeuden die Zeit, die wir, weiß Gott, nutzbringender verwenden können?« Er wurde feierlich. »In zwei Stunden tritt im Rathause die Kommission, die über die Anlegung von zehn öffentlichen Bedürfnisanstalten beraten soll, zu ihrer ersten Sitzung zusammen. 30.000 Mark verlangt der Magistrat dafür! So etwas will durchdacht und auf seine Notwendigkeit hin geprüft sein! Die Interessen der Allgemeinheit stehen da in Frage, während es sich hier um das Einzelschicksal einer Familie handelt, die noch dazu durch eigene Schuld ins Unglück geriet.«

»Sie haben vollkommen recht«, sagte der Anwalt.

»Ich darf also bitten, liebe Fanny, daß du dich jetzt zusammenreißt. Du sollst Gott danken, daß du uns hast. Andere an unserer Stelle hätten sich längst zurückgezogen.«

Fanny, die mehr fühlte als hörte, was man sprach, richtete sich auf.

»Ja, was wollt ihr denn?« jammerte sie. »Laßt mich doch in Ruhe! Mir ist ja längst alles gleich! Beschließt! Und was ihr bestimmt, soll gelten und gut sein.«

»Wenn dem so ist,« sagte der Anwalt, »um so besser.« Und er entfaltete einen Bogen und las:

»1. Frau Fanny Kersten verpflichtet sich, innerhalb von vierzehn Tagen Berlin zu verlassen und ohne Genehmigung der Familie nicht nach dort zurückzukehren.

2. . . .«

»Halt!« unterbrach ihn der Professor. »Diese selbstverständliche Rücksicht auf uns bedarf wohl keiner Begründung?«

»Wenn mein Hiersein euch geniert – bitte!« – erwiderte Fanny; »mir ist es völlig gleichgültig, wo ich lebe.«

»Ich glaube, du mißverstehst uns«, sagte vermittelnd der Regierungsrat. »Du tust uns leid; von Herzen leid. Und was deinen Mann betrifft: ich für meine Person bedaure auch ihn!« – und zu den andern gewandt fügte er hinzu: »Wenngleich ich das nach außen natürlich nicht zu erkennen gebe.«

»Gott soll hüten«, sagte der Hofbankier Walther, der seine beste Kundschaft verlor, wenn der Skandal an die große Glocke kam.

Und der Regierungsrat unterstrich: »Nach außen, da müssen wir ihn natürlich ganz entschieden verurteilen und von ihm abrücken.«

»Was hat das alles nur mit meinem Fortgang aus Berlin zu schaffen?« fragte Fanny nervös.

»Man sieht,« erwiderte der Professor, »wie du an der Seite dieses Mannes jedes feine Gefühl verloren hast. Sonst könntest du nicht so naiv fragen.«

Und der Anwalt erläuterte: »Ihre Familie hat natürlich den Wunsch, daß alles, was sie und Dritte an diesen empörenden Skandal erinnert, aus dem Gesichtskreise Berlins verschwindet.«

»Natürlich,« bestätigte der Professor, »dadurch, daß du mit den Kindern hier lebst, man euch begegnet, von euch spricht, wird dauernd die Erinnerung an dies Unglück wachgehalten, in dessen letztem Zusammenhang man als Verwandte schließlich auch uns nennt. Seid ihr fort, sieht man euch nicht, so seid ihr und die ganze unglückselige Geschichte bald vergessen. In einer fremden Stadt weiß kein Mensch, wer ihr seid; ich meine, daß du selbst diesen Wunsch haben müßtest: schon mit Rücksicht auf deine Kinder.«

»Über meine Wünsche und Gefühle sprich bitte nicht!« forderte Fanny ziemlich energisch. »Das mache ich schon mit mir selbst ab. Es hat ja auch mit dem Geschäftlichen gar nichts zu tun. Und darauf wollen wir uns bitte beschränken; zumal nach der Offenheit, mit der ihr mir alle begegnet seid, und für die ich euch danke. Denn ich kenne nun eure Gesinnung.«

Sie stieß das alles bestimmt, aber ruckweise heraus; – eine Pause entstand, dann fragte sie plötzlich:

»Was also wird mit Harry?«

»Aber ich bitte,« sagte der Anwalt in unfreundlichem Tone, »wir wollen doch nach der Reihe gehen. Über das alles hat ja Ihre Familie bereits entschieden, und Sie haben Ihre Zustimmung, die juristisch verbindlich ist, zu diesen Entscheidungen ja bereits abgegeben. Also hören Sie mich zu Ende«, forderte er und fuhr fort: »Frau Kersten siedelt mit ihrem gesamten Mobiliar nach München über, woselbst sie eine Pension eröffnet, in deren Leitung sie von ihrer Tochter Luise unterstützt wird.«

»Dieser Vorschlag stammt von mir!« erläuterte die Frau des Oberlehrers. »Da werdet ihr endlich einmal den Wert des Geldes kennen lernen.«

»Laß doch das!« sagte die Frau des Hofbankiers und stieß sie an.

»Die Tragung der Kosten für die Übersiedlung«, fuhr der Anwalt fort, »bis zur Höhe von 1000 Mark hat in hochherziger Weise der Hofbankier und Geheime Kommerzienrat Walther übernommen«, und er krümmte abermals vor ihm und der Frau Gemahlin den Rücken. Dann las er weiter: »Frau Kersten erhält von der Familie im ersten Jahre einen Zuschuß von 3000, im zweiten einen solchen von 2000, im dritten einen von 1000 Mark und verpflichtet sich, die Darlehen zuzüglich 5 Prozent Zinsen vom fünften Jahre ab in monatlichen, noch näher zu bestimmenden Raten zurückzuzahlen.«

Alle sahen zu Frau Fanny hinüber; die aber verzog keine Miene; schien weder verlegen, noch dankbar, noch erstaunt; sagte nur, als der Anwalt im Lesen innehielt und sie ansah:

»Aber bitte, so lesen Sie doch weiter!«

Und Dr. Heinrich schüttelte entrüstet den Kopf und fuhr fort:

»Harry Kersten hängt seine Malerei an den Nagel . . .«

»Waas?« rief Frau Fanny dazwischen.

Aber er las mit erhobener Stimme zu Ende: »– und geht zum Bankier Alois Laqueur, einem Schwager des Hofbankiers Walther, nach Paris in die Lehre!«

»Nie!!« schrie Frau Fanny und sprang auf. »Nie dulde ich das! Harry ist Künstler durch und durch und taugt zu nichts anderem als zum Malen und geht zugrunde, wenn man ihn in irgendeinen Beruf zwängt, in den er nicht hineinpaßt.«

»Bist du noch immer nicht geheilt?« schrie der Professor. »Genügt dir die Enttäuschung noch nicht, die du an deinem Manne erlebt hast? Willst du sie durchaus an deinem Sohne noch einmal erleben?«

»Und dann träfe dich die Schuld, wenn es wieder so käme,« schrie die Frau des Oberlehrers, »dich allein.«

»Wir wollen aus dem Unglück lernen«, dozierte der Oberlehrer und stand auf; ein Zeichen, daß er zu einer seiner beliebten Reden ausholte; der Professor sollte ihn nicht in den Schatten stellen; was der konnte, konnte er auch.

»Wie oft habe ich euch gewarnt,« fuhr er fort und wandte sich zu Fanny, »wenn der Junge die Schule vernachlässigte und tagsüber, statt zu lernen, oben im Atelier deines Mannes saß. Jetzt solltest du endlich einsehen, wie schwer ihr euch an ihm vergangen habt, als ihr ihn Künstler werden ließet. Und das, obschon sich der Hofbankier Walther auf meine Vorstellungen hin bereit erklärte, ihn gegen seine Gewohnheit auch ohne das Zeugnis der Reife in sein Geschäft zu nehmen. – Ich werde den Affront nie vergessen: als ich mit der fröhlichen Botschaft zu deinem Manne kam und ihm das Resultat meiner erfolgreichen Bemühungen beim Hofbankier Walther verkündete, da nahm er ein halbfertiges Bild von der Staffelei, das einen nackten Frauenkörper darstellte, hielt es mir vors Gesicht – ich schloß instinktiv die Augen —«, sagte er zu seiner Frau gewandt, »und rief laut: ›Hier, sieh! Das hat mein siebzehnjähriger Bub heut’ früh, während du seine Kameraden mit Herodot traktiertest, in knapp zwei Stunden fertiggebracht – da sitzt noch das Modell!« – und er wies mit dem Pinsel auf einen Diwan, auf dem halbentkleidet eine junge . . .« – der Professor räusperte sich, der Oberlehrer besann sich – »und wenn du mir die Krone Frankreichs für meinen Harry brächtest: ich und mein Sohn schlügen sie aus, und er würde Maler!«

»Unverantwortlich!« – »Skandalös!« – »Ein netter Vater!« – »Das grenzt an Verbrechen!« surrte es durcheinander.

Aber Frau Fanny strahlte über das ganze Gesicht, auf dem breit der Kummer lag. Wie ein Regenbogen über trübe Wolken fährt, also spielten tausend Lichter jetzt in Fannys Augen, die in Gedanken an ihrem Manne hingen, ihm ins Atelier folgten, dort den Knaben sahen, sein Bild, das der beglückte Vater in den Armen hielt . . .

»Recht so!« schrie sie. »Ja, mein Harry wird Maler, wie es sein Vater war!«

»Du weißt nicht, was du sprichst!« brüllte der Professor.

»Die Aufregung ist ihr in den Kopf gestiegen«, schrie die Frau des Oberlehrers.

»Ich habe es gleich gesagt, man hätte ja auch bis morgen warten können«, zitterte die Frau des Hofbankiers.

Aber Fanny richtete sich auf:

»Nicht nötig, meine lieben Verwandten,« rief sie, »ich bin mir niemals über etwas so klar gewesen. Ihr habt mir heute erst so recht deutlich gezeigt, was ich an meinem Manne verloren habe. Wie sehr er Mensch war im Vergleich zu euch! Ihr hättet es nie gewagt, in seiner Gegenwart so zu reden, denn ihr wußtet, er wäre euch die Antwort nicht schuldig geblieben. Und wenn ihr gegangen wäret, dann hätte er hinter euch hergelacht, so herzlich, wie nur er lachen konnte, und hätte sich geschüttelt vor Vergnügen, wie er es oft tat, über eure Beengtheit, eure Vorurteile und die große Würde und Wichtigkeit, die ihr in alle äußerlichen Dinge legtet, eben weil es euch an jeder Innerlichkeit fehlt! – Heute zum ersten Male verstehe ich ganz, was er mit alledem meinte! – Und ihr wollt über ihn zu Gericht sitzen? Ihn schlecht machen vor mir? Ihr ihn? – Ich lache euch aus. – Ich weiß zwar nicht, was morgen wird. Aber hunderttausendmal lieber, als daß einer von euch heute mein Mann und der Vater meiner Kinder wäre, ist mir das Bewußtsein, daß er, der heute fortlebt in meinen Kindern, ein ganzer Kerl war!«

»Ein Verbrecher war er, der sich nur dadurch dem irdischen Richter entzogen hat, daß er sich eine Kugel in die Schläfe schoß«, schrie der Professor.

»Ich und seine Kinder verzeihen ihm! Und nur darauf kommt es an! Um eure Achtung und die der Welt hat er sich nie gekümmert. – Was er getan hat, das macht ihn mir und den Kindern auch nicht um so viel weniger liebenswert. Daß diese Margot, die er aus dem Dreck der Straße auflas, die so sündhaft war und so schön, die ihm den ganzen Sommer über zu seinen Bildern saß, der er das Höchste und Herrlichste, was er geschaffen hat, verdankt, die sich ihm an den Hals warf Tag für Tag und darum bettelte, daß er sie nahm« – sie lachte wehleidig – »nun, ich wußte es, als ich im Sommer in die Berge fuhr, daß es eines Tages dazu kommen würde. Es waren ja nur Menschen; Menschen von Fleisch und Blut. Und es hätten Gestalten sein müssen wie ihr, wenn es hätte anders kommen sollen. – Also es geschah, was so furchtbar und doch so natürlich war! Es geschah, ohne daß das Mädchen, noch er, noch ich, noch unsere Ehe, noch sonst jemand daran Schaden nahm. Im Gegenteil: in dieser Margot erwachte gerade jetzt so etwas wie ein moralisches Bewußtsein; ich habe mit ihr gesprochen. – Nun, ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß diese Margot zeit ihres Lebens nie einem Manne angehören wird, den sie nicht liebt. Ihr möget das beurteilen wie ihr wollt; für mich ist das jedenfalls der einzige Gradmesser für die Tugend einer Frau!«

Sie saßen alle da, sahen sich an und brachten vor Entsetzen kein Wort heraus.

»Und daß diese Margot«, fuhr Frau Fanny fort, »erst vier Wochen später sechzehn Jahre wurde – nun, ich glaube nicht, daß er es wußte – aber das ist auch gleich, denn hätte er es gewußt« – sie schüttelte den Kopf – »es wäre darum nicht anders gekommen. Ein unglücklicher Zufall: der Eklat war da! Ohne ihn war er noch heute – auch wenn längst alle darum wußten – der große, von allen gefeierte und umworbene Meister. Für euch mag dieser Zufall der Regulator eurer Gefühle sein! Ihr werdet das von mir und seinen Kindern nicht verlangen! – Ich bat, ich flehte ihn an, er möge die Folgen auf sich nehmen, suchte ihm klarzumachen, daß sie ja nichts an seinem Menschen, nichts an seiner Kunst, an meiner Liebe und der seiner Kinder ändern könnten. – Aber« – und sie richtete sich stolz vor dem Professor auf, der zornig vor ihr stand und sich nur schwer beherrschte – »er wollte die Hintertüren nicht benutzen, die ihr ihm botet. Er zog den freiwilligen Tod vor! Und wenn es einen Richter gibt dort oben – ich weiß es nicht – um seine Seele ist mir nicht bange!«

Sie war mit ihrer Kraft zu Ende, zitterte am ganzen Körper und wankte; die Frau des Hofbankiers stand auf und wollte sie stützen; der Anwalt hielt sie zurück; die Gattin des Regierungsrates faßte die Hand ihres Mannes und suchte Schutz; die Frau des Oberlehrers sah beschämt zur Erde; ihr Mann rückte an seinem Kneifer; der Hofbankier saß gelangweilt; der Regierungsrat schüttelte den Kopf und tat entrüstet – aber der Professor trat vor, stellte sich kerzengerade und sprach:

»Der Auftritt, dessen Zeugen wir und leider auch unsere Frauen soeben waren, und der so recht die Schamlosigkeit der Gesinnung, die hier herrscht, zum Ausdruck bringt, enthebt uns der Pflicht und Mühe, uns weiter um euch zu bekümmern. Ja, dieser Auftritt macht es mir und, wie ich glaube, auch den andern geradezu unmöglich, diese Schwelle noch einmal zu betreten.«

Diese Sätze sprach er ruhig und bedächtig; jetzt aber erhob er die Stimme, als spräche er in einem Riesensaale vor seinen Wählern:

»Damit du dich aber über den freiwilligen Abtritt deines sauberen Herrn Gemahls nicht täuschst, dessen Tod für dich noch etwas besonders Großes zu haben scheint, so will ich dir verraten, daß dein Mann auf deine Bitten hin allen Ernstes gewillt war, den Dingen ihren Lauf zu lassen;« – Fannys Ausdruck wurde zu Stein – »ich aber zwang ihn, sich und uns alle vor der Schmach einer Verhandlung und sicheren Verurteilung zu bewahren – ich habe ihm die Waffe in die Hand gedrückt und – dein Sohn wird es mir einmal danken —«

Fanny war unwillkürlich nahe an ihn herangetreten; sie wußte nicht, daß sie sich bewegte; auch jetzt, als sie die Faust erhob und sie dem Professor ins Gesicht schlug, wußte sie nicht, was sie tat.

Ein kräftiger Stoß des Professors warf sie zu Boden; alle stürzten hinaus.

»Im Kern verdorben!« sagte Dr. Heinrich an der Haustür.

Sonst sprach niemand was; und sie trennten sich ohne ein Wort des Abschieds. —

Oben im Saal roch es noch immer nach Lorbeerblättern, Rosen und Veilchen. Neben den letzten Kränzen, die wohl zu spät gekommen oder, weil der Wagen sie nicht mehr faßte, aus Not zurückgeblieben waren, lag regungslos Fanny.

Lu  die Kokotte

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