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II

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Fanny saß im Salon an ihrem Schreibtisch; vor ihr lag ein großer Bogen, der mit Hunderten von Zahlen vollgeschrieben war. Sie rechnete; zum ersten Male seit Jahren. Addierte und subtrahierte, aber es wollte nicht stimmen.

Sie drückte auf die Klingel; der Diener kam.

»Rufen Sie meine Tochter; aber sie soll gleich kommen.«

»Sehr wohl, gnädige Frau!«

Sie begann von neuem; schrieb Zahlen um Zahlen; strich sie wieder aus; schüttelte den Kopf; gab es dann auf; trat an einen Bulschrank; öffnete ihn; schraubte eine schwere Kassette los, stellte sie auf den Tisch, schloß sie auf, entnahm ihr eine Reihe von Schachteln und Kästen, die sie zum Schreibtisch trug.

Luise trat ins Zimmer; schritt auf die Mutter zu, legte ihren Arm um sie, warf einen Blick auf das Papier, sah die Schachteln und Kästen und wußte, was vorging.

»Armes Mütterchen«, flüsterte sie. »Ja, wer das Rechnen nicht gewöhnt ist, wie wir, dem fällt’s schwer!«

Sie sah ihr Kind traurig an. »Es ist noch weit weniger, als ich dachte«, sagte sie.

»Wenn’s nur so lange reicht, bis der Harry sich durchgesetzt hat.«

»Das tut’s eben nicht«, erwiderte Fanny.

»Das muß es tun!« erklärte Luise so bestimmt, daß Fanny erstaunt aufblickte und ihr in die Augen sah.

»Sonderbar! Daß der Vater nie auf den Gedanken kam, dich so zu malen! Ich gäbe etwas darum, wenn ich das festhalten könnte.« Sie stand auf und trat auf sie zu: »Keines der vielen Bilder, die er von dir malte, ist so schön wie dies!« Dabei fuhr sie ihr mit der Hand übers Haar und küßte sie auf die Stirn:

»Vergiß nie die sonnige Jugend, die du ihm verdankst. Solche Erinnerung reicht oft fürs ganze Leben. Denke in Liebe an ihn, mein braves Mädel!« Luise erschrak; das klang ja wie Abschied vom Leben.

»Warum so feierlich, Mama? Du willst ihm doch nicht etwa . . .?« Sie scheute sich den Gedanken auszusprechen.

Aber Fanny beruhigte sie: »Aber nein! Glaubst du, ich werde dich allein lassen? Du würdest dich in dieser schlimmen Welt ja gar nicht zurecht finden ohne mich.«

»Sag’ das nicht«, erwiderte Luise; »ich habe mehr über das Leben nachgedacht als du glaubst.«

»Sieh mal an!« rief Fanny ganz erstaunt. »Wann hattest du denn Zeit dazu? Ich habe dich immer nur strahlend gesehen. Des Tags über tolltest du im Garten; gleich ob es Sommer oder Winter war. Und des Abends saßest du beim Vater, und ihr erzähltet euch Geschichten, die gewiß nicht traurig waren. Wo blieb meinem Sonnenkinde denn da noch Zeit, über das Leben nachzudenken?«

Luise wurde verlegen. »Dann war es wohl doch mehr mit dem Herzen, wenn ich dachte . . . als mit dem Verstande.« – Sie wurde nachdenklich. »Da magst du schon recht haben, Mütterchen, daß alles dann mehr Gefühle als Gedanken waren . . .«; und fast traurig fuhr sie fort: »Und da Vater mich nur mit dem Herzen denken lehrte, was wohl recht gut für frohe Zeiten war, so werde ich mich jetzt, wo ich kalt denken und berechnen muß, womöglich schwer im Leben zurecht finden.« Trostlos klang es, als sie sagte: »Oder gar nicht.«

Fanny faßte sie an die Schultern:

»Darum eben bin ich da«, sagte sie bestimmt, »und bleibe da! Denn jetzt brauchst du jemand, der für dich denkt; einen ganz kalten, nüchternen Menschen – weißt du, so einen, wie du ihn nie leiden mochtest.«

Luise wollte widersprechen – aber Fanny sagte:

»Gewiß, ich weiß ja; daß ich dich lieb habe, hast du trotz allem am Ende doch immer herausgespürt.«

»Ja, Mutter«, bestätigte Luise leidenschaftlich; »wenn ich auch . . .«

»Wenn du mit deinem heitren Sinn auch mehr zum Vater paßtest . . . Natürlich!« unterbrach sie Fanny. »Aber jetzt ist meine Stunde da, wo ich mein Kind so sicher durch alles Trübe und Schwere führen muß, daß es sich sein goldnes Gemüt erhält. Bis es eines Tages wieder ohne ernste Gedanken nur mit dem Herzen leben darf.«

»Statt, daß du mich teilnehmen läßt an deinen Sorgen«, antwortete Luise unzufrieden; »ich bin auch zu anderem gut als nur zum Lachen und Scherzen. Gerade weil ich leichter und heiterer bin als du und alles nicht so ernst nehme, gerade darum kann ich dir jetzt mehr sein als du mir.«

Fanny war starr: »Nein, wie du sprichst, Luise! Das kenne ich ja gar nicht an dir, als ob du in den paar Tagen ein anderer Mensch geworden wärest.«

»Durchaus nicht!« erwiderte Luise. »Oder hat es etwa schon einmal eine Situation in meinem Leben gegeben, in der du Gelegenheit hattest, mich kennenzulernen? Gerade im Unglück wird sich mein Temperament am besten bewähren, versuch’s mir!«

Sie ging an den Schreibtisch. Fanny sah sie noch einmal an, als stände sie vor einem Wunder. Aber Luise hielt bereits den großen Bogen mit den vielen Zahlen in der Hand, den ihre Mutter gerade vor ihr verbergen wollte.

»Was? Mit 150 Mark soll der Harry in Rom leben? Das ist ganz unmöglich!« rief sie. »Wo er bis jetzt monatlich 1000 hatte.«

»Wir werden uns alle an ein anderes Leben gewöhnen müssen«, sagte Fanny.

»Wir schon! Aber er? Niemals! Schon wenn er sein Atelier aufgibt, an das er gewöhnt ist, wird seine Kunst leiden. Harry muß weiterleben wie bisher«, erklärte sie ganz bestimmt; »sobald der bei seiner leichten und unpraktischen Art anfangen muß, mit Kleinigkeiten zu rechnen, verliert er sich. Ich kenne ihn! Tausende, die es könnten, deren Entwicklung es nichts schaden würde; aber niemals er! Verlaß dich darauf. Erst wird’s ihn amüsieren, und er wird denken: Pah, als ob es darauf ankäme! Dann aber wird’s ihm unbequem werden; ihn schließlich verstimmen, unlustig zur Arbeit machen! – Erst einmal muß er durch sein! Nachher, da kann man an seinem äußeren Leben so viel Änderungen vornehmen, wie man will. Bis dahin aber muß alles bleiben, wie es ist!«

Fanny hatte bis zu dieser Stunde ihr Kind nicht gekannt; hatte geglaubt, es werde nun wie ein Vögelchen mit gebrochenen Flügeln scheu und zaghaft umherflattern und nie mehr seine helle Stimme erheben. Sie hatte sich schon ein ganzes Programm zurechtgelegt, wie sie ihr Kind erheitern, alles Häßliche und Schmutzige, was nun kommen mußte, von ihm fernhalten würde. Und nun? – Dankbarkeit für ihren Mann war das erste, was sie empfand. Ja, in Luise lebte sein aufrechter Geist. Ein ganzer Kerl war sie mit ihren 19 Jahren, der das Leben gerade da bejahte, wo es am schwersten wurde; der sich nicht zimperlich den Verhältnissen unterwarf. Der seinen Willen erzwang! Wenn es sein mußte, auch gegen die Verhältnisse! – Ja, das war das Kind ihres Mannes. Und erst jetzt kam ihr so recht zum Bewußtsein, was auf seiten des Professors dazu gehört haben mußte, um den Widerstand ihres Mannes, der dem Leben selbst da, wo es nichts mehr bot, noch Reize abrang, zu brechen.

»Du willst mir also helfen?« sagte sie bloß.

»Welche Frage!« erwiderte Luise. »Harry darf nichts von den Verhältnissen erfahren. Wir dürfen überhaupt nicht über Geld mit ihm sprechen. Denn sobald er auch nur ahnte, wie es bei uns aussieht, gäbe er die Malerei auf . . .«

»Du meinst, er täte das?« unterbrach sie Fanny und schüttelte den Kopf.

»Bestimmt! Aber was innerlich aus ihm würde, ist eine andere Frage; froh würde er nie mehr!«

»Und leisten würde er auch nichts«, fügte Fanny hinzu.

»Und darum ist darüber überhaupt kein Wort zu verlieren«, bestätigte Luise, die noch immer den großen Bogen in der Hand hielt. »Damit freilich« – und sie vertiefte sich in die Zahlen – »werden wir nicht weit kommen. Aber hör’ mal, Mama,« sagte sie beinahe gekränkt, »da unterschätzt du Papa denn doch gewaltig, wenn du seine beiden letzten Bilder mit 8000 Mark ansetzt. Das Doppelte sind sie wert; und vielleicht das Vierfache, da es seine letzten sind.«

Fanny ging zum Schreibtisch; nahm aus einem Stoß von Papieren einen Brief heraus, gab ihn Luise und sagte:

»Lies!«

Und Luise las:

»Liebe Fanny! Da ich die prekäre Lage kenne, in die Du durch den Tod Deines Mannes geraten bist, so will ich Dir die letzten beiden Bilder Deines Mannes aus besonderem Entgegenkommen, und obgleich ich nicht recht weiß, wohin damit, abkaufen. Den Kaufpreis, den ich Deiner augenblicklichen Lage entsprechend ziemlich hoch bemessen habe, lege ich Dir in einem Scheck über 8000 Mark  bei; setze aber voraus, daß es sich dabei wirklich um die letzten Bilder Deines seligen Mannes handelt, und behalte mir vor, falls sich etwa noch spätere Bilder von ihm vorfinden sollten, den Kauf rückgängig zu machen. Mit Gruß Dein Vetter

Theodor Walther.«

»Pfui Deibel!« rief Luise. »Wo ist der Scheck? Gib ihn mir; er muß ihn zurücknehmen und uns die Bilder wieder herausgeben.«

»Wir brauchen das Geld, Luise, das weiß er; bedenke, ehe wir die Bilder woanders unterbringen . . .«

»Das laß meine Sorge sein! . . . Noch heute, wenn es sein muß!«

Fanny stand nur immer und staunte ihr Kind an. Luises Lebhaftigkeit und Bestimmtheit gab auch ihr wieder Mut und Zutrauen; und was mehr war: sie fühlte, daß sie nicht mehr allein war. Daß ihr Kind, um das sie sich am meisten bangte, fester stand als sie; daß sie eine Gefährtin hatte in ihrer Sorge um Harrys Zukunft.

»Du bist ein Optimist, mein Kind! Vorläufig reißt man sich noch nicht um Vaters Bilder; im Gegenteil.«

»Was heißt das?«

»Denke dir, eine besonders empfindsame Natur schickt uns das eigene Porträt zurück mit der Begründung, daß es . . .« – sie stockte – »ich sollte es dir lieber nicht sagen, es wird dich kränken . . .«

»Ich dachte, wir wollen aufrichtig zueinander sein«, erwiderte Luise.

»Du hast recht«, sagte Fanny; »also er schreibt, daß er es mit seinen Ansichten über Moral nicht vereinen könne, ein Bild von der Hand dieses Mannes in seinem Hause zu haben.«

»Wer ist der Esel?« fragte Luise.

»Dein lieber Onkel, der Professor.«

»Daß ich noch frage!« rief sie aus. »Dieser Philister, der nie gefühlt hat, mit welcher himmlischen Ironie Papa ihn kerzengerade wie ein Stück Holz, starr und bewegungslos, auf die Leinewand warf.«

Fanny geriet in Bewegung; sollte sie nicht ehrlich gegen ihr Kind sein und ihm sagen, daß er es war, der den Vater in den Tod getrieben hatte? – Nein! Jetzt nicht! Vielleicht später, entschied sie; wenn die Zeit den ersten Eindruck etwas verwischt hatte!

»Und immer, wenn wir traurig sind – und das wird wohl oft sein in nächster Zeit,« sagte Luise, »dann stellen wir uns beide vor dies Bild; das wirkt unfehlbar! Wenn wir da ernst bleiben, steht es schlimm um uns.«

Sie ist doch noch ein halbes Kind, dachte Fanny; aber sie wird es, wie ihr Vater, zeit ihres Lebens sein! – Gott geb’ es! fügte sie hinzu. Man könnte ja auch dieses Bild verkaufen, dachte sie weiter, aber sie sprach es nicht aus. Wenn es die Wirkung hatte, dann sollte es als letztes Stück im Hause bleiben.

Luise stand am Telephon und mühte sich, Anschluß zu bekommen.

»Warum läßt du dich nicht von Franz verbinden?« fragte Fanny.

»Aber Mama,« erwiderte sie, »in vierzehn Tagen gibt es hier keinen Diener, keine Zofe mehr; es ist doch besser, man gewöhnt sich beizeiten.«

Sie war verbunden: »Hier Luise Kersten, ist Herr Casper da?«

– — – — – — – —

»Guten Tag, Herr Casper; sagen Sie, Sie kennen doch die beiden letzten Bilder von Papa?«

– — – — – — – —

»Ja! Eben die! – Wollen Sie sie haben?«

– — – — – — – —

»Den Preis müssen Sie nennen; ich weiß, Sie haben Papa lieb gehabt und werden zahlen, was sie wert sind.«

– — – — – — – — – —

»Mit 15.000 Mark? Aber natürlich bin ich damit zufrieden; soviel haben wir gar nicht einmal erwartet. – Wie schade, daß Papa das nicht mehr hört; er hat auf Ihr Urteil immer so viel gegeben.«

– — – — – — – — – —

»Ja, abgemacht! Ich danke Ihnen sehr! Adieu, Herr Casper!« —

Sie hängte den Hörer wieder an und wandte sich um.

»Bitte, Mama! Was sagst du nun zu deiner geschäftstüchtigen Tochter?«

Fanny war ganz aufgeregt: »Hast du dich auch nicht verhört?«

»Aber Mama!« erwiderte Luise und hatte Mühe, ihrer Mutter klarzumachen, daß jeder Irrtum ausgeschlossen war. – Schon stand sie wieder am Telephon und ließ sich mit dem Hofbankier Walther verbinden.

»So!« rief Luise in den Apparat. »Der Herr Geheimrat ist nicht zu sprechen? Dann sagen Sie, bitte, daß seine Nichte ihn zu sprechen wünscht und so lange hier wartet, bis er Zeit findet.«

Kaum eine Minute verging.

»Ah! Bist du’s, Onkel?«

– — – — – — – — – —,

»Danke, einigermaßen; – — Mama auch; hör’ mal, wir haben deinen Brief und Scheck erhalten. Wir danken dir für dein ›Entgegenkommen‹ » – das klang sehr ironisch – »möchten aber nicht gern, daß du gegen dein Gefühl . . .«

Hier unterbrach er sie wohl; denn sie hörte auf zu sprechen und bewegte nur lebhaft den Kopf.

»Also« . . . weiter kam sie nicht.

– — – — – — –  —

»Wir wollen aber nicht!« brüllte sie schließlich in den Apparat. »Wir verzichten auf deine Gnade! Wir brauchen dich nicht!«

– — – — —

»So!« schrie Luise. »Ich wüßte nicht, seit wann du Bilder zu beurteilen verständst! Jedenfalls, uns sind sie mehr wert. Franz ist in einer halben Stunde mit dem Scheck bei dir und holt sie ab.«

– — – — – — – — – —

»Was, das geht nicht? Warum nicht?«

– — – — – — – — – —

»Du hast sie verkauft? An wen?«

– — – — – — – — – —

»So? Das geht mich nichts an? Vielleicht aber interessiert es mich, zu erfahren, wieviel du daran verdient hast.«

Ein Brüllen durchs Telephon. Der Geheimrat hing an.

»Verlaß dich darauf,« sagte Luise in aller Ruhe und hing den Hörer an, »er hat mehr als das Dreifache daran verdient, dein lieber Schwager . . . Aber ganz gut! Man ist nun wenigstens fertig mit dem Gesindel!«

Der Diener meldete den Kommerzienrat Mohr.

»Aber Sie sollten doch keinen Besuch . . .«

Luise unterbrach ihre Mutter:

»Mit Ausnahme des Herrn Mohr; ich habe das Franz ausdrücklich eingeschärft« – und zum Diener gewandt fuhr sie fort:

»Bitte in den Salon!«

»Was bedeutet das?« fragte Frau Fanny, die sich an die Selbständigkeit ihrer Tochter zwar allmählich gewöhnte, hier aber doch einigermaßen erstaunt war.

»Ich begreife dich nicht, Luise, seit seiner erfolglosen Werbung gehst du ihm überall aus dem Wege – besuchst nicht einmal Gesellschaften, auf denen du fürchtest, ihm zu begegnen, und nun . . .«

»Das war einmal«, erwiderte Luise und sah ihre Mutter traurig an; »diesen Luxus kann ich mir heute nicht mehr gestatten.«

»Soll das etwa heißen? – Aber nein, das ist nicht möglich – du kannst im Ernste nicht daran denken.«

»Doch Mama, ich denke daran, und zwar sehr ernstlich . . . in einer halben Stunde werde ich seine Braut sein.«

»Luise!« schrie Frau Fanny entsetzt, »bist du von Sinnen? Ich gebe das nie zu! Ich weiß, wie dir dieser rohe Mensch im Innersten zuwider ist – du willst dich opfern! – Lieber wollen wir anständig verhungern.«

»Und Harry?« warf Luise ein und sah der Mutter in die Augen. »Ja, wenn’s nur um uns ginge! Aber verlaß dich darauf, ich weiß, was ich tue. Ich vergebe mir nicht mehr, als unbedingt nötig ist. Dies Opfer aber muß sein! Es ist nicht etwa ein Gedanke, der mir so im Augenblick gerade kommt. Seit Vaters Tode habe ich Stunde um Stunde darüber nachgedacht – aber es gibt keinen anderen Weg. Es ist der einzige!«

»Du darfst das nicht!« erklärte Fanny; aber ihr Widerspruch klang schon zögernd: »Das geht zu weit.«

»Auch dann nicht, wenn ich mein Glück darin finde, Harry den Weg zu ebnen? Ja mehr: wenn ich darin eine Pflicht gegen den Vater sehe?«

Sie trat nahe an Frau Fanny heran:

»Sei ehrlich, Mama! Was nützt es, daß wir uns wehren? Wir werden den Vater nie vergessen! Du so wenig wie ich. Harry ist sein Vermächtnis! In ihm lebt das fort, was wir mit dem Vater zu Grabe trugen. Und darum werden wir ihn halten und durchsetzen um jeden Preis.«

Sie legte ihre Arme um Frau Fannys Hals und sah ihr in die Augen:

»Hab’ ich recht, Mama?« —

Frau Fanny schwieg.

»Siehst du!« sagte Luise. »Nun widersprichst du nicht mehr und – das mußt du mir versprechen – wirst zu allem, was nun kommt, ein fröhliches Gesicht machen.«

Sie schritt zum Schreibtisch; nahm wieder den großen Bogen mit den vielen Zahlen, riß ihn in tausend Fetzen und warf ihn in den Papierkorb. Dann ging sie hinaus, den Korridor entlang und trat in den Salon.

Als sie eintrat, erhob sich der Kommerzienrat langsam von seinem Sessel, ging ihr entgegen, nahm ihre Hand und sagte:

»Mein Fräulein, es tut mir leid, daß wir uns unter so traurig veränderten Verhältnissen wiedersehen. Meine Schuld ist es nicht, wenn ich mich heute darauf beschränken muß, Ihnen in dieser Form mein aufrichtiges Beileid auszusprechen.«

Dabei drückte er Luises Hand stärker, als es wohl nötig war, und sah ihr so fest in die Augen, daß sie, statt zu danken, nur eine kurze Bewegung machte, worauf er, noch ehe sie saß, wieder auf seinen Sessel glitt und die Beine übereinanderschlug.

»Daß es auch so kommen mußte!« sagte er; aber aus seinen Worten sprach mehr Spott als Mitgefühl.

So empfand es jedenfalls Luise; und dieser breite und schwere Mensch mit dem gelben Teint, seinen 44 Jahren, den falsch dreinschauenden Schlitzaugen hinter der goldenen Brille, dem aufgedunsenen, sinnlichen Mund und dem tiefschwarzen, sorgsam gescheitelten Haar ekelte sie an.

»Tut es Ihnen wirklich leid?« fragte sie ihn. »Ich habe das Gefühl, als müßten gerade Sie eine gewisse Genugtuung über unser Unglück empfinden.«

»Ich wäre ein schlechter Mensch, wenn ich das täte«, erwiderte er; aber er widersprach nicht.

»Nun, ich glaube, daß das Herz bei Ihren Entschließungen in den seltensten Fällen spricht«, sagte Luise.

»Woraus schließen Sie das?«

»Weil man nicht mit Sentiments arbeiten darf, um so große und vor allem so schnelle geschäftliche Erfolge zu erzielen wie Sie.«

»Ich bewundere Ihre Schärfe«, antwortete Mohr und sah sie groß an. »Ich wußte gar nicht, daß Sie auch über solche Dinge nachdenken.«

»Gewiß, mich interessieren auch Menschen, die ganz anders sind als ich.«

»Aber dies Interesse würde nie so weit gehen, um einem solchen Manne Ihr Vertrauen zu schenken.«

»O doch!« erwiderte Luise schnell. Der Kommerzienrat rückte näher; schob die Beine nach vorn, setzte die Brille zurecht und schnalzte mit der Zunge; er tat das immer, sobald er von Dingen sprach, die für ihn von Bedeutung waren.

»Dann haben sich Ihre Ansichten aber seit dem Tode Ihres Herrn Papa gewaltig verändert«, sagte er.

»Durchaus nicht«, gab sie zur Antwort. »Die Verhältnisse haben sich geändert. Ich kann heute nicht mehr wie damals nur nach meinen Gefühlen handeln; ich habe Rücksichten, meinetwegen auch Pflichten, die ich früher nicht hatte – das ist der ganze Unterschied.«

»Sieh einmal an! Wie amüsant!« entschlüpfte es ihm.

»Ich finde es höchst widerwärtig, daß es so ist – aber schließlich: meine Jugend war so schön, daß man auch ein kleines Opfer nicht gar so tragisch nehmen darf.«

»Sie sind sehr offen, mein verehrtes Fräulein«, erwiderte er und grinste ganz niederträchtig; »aber das reizt mich, das gefällt mir!«

»Um so besser! Denn es wäre mir unmöglich, Gefühle zu heucheln, wo . . .« sie stockte.

»Nun bitte!«

»Man braucht die Offenheit nicht weiter zu treiben, als es nötig ist!« erwiderte sie.

Aber er drang darauf. »Wenn ich Sie bitte! Ich sage Ihnen doch, das reizt mich, reizt mich ungemein. Sagen Sie’s nur! Nicht wahr, ich bin Ihnen widerwärtig! Oh, Sie haben es mir ja schon einmal gesagt; Sie haben einen Ekel vor mir! – Sehen Sie, so muß eine Frau sein, die ich liebe. Nur keine Süßigkeiten, kein Schmachten, keine liebevolle Hingabe!« – Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, seine Augen tränten, und aus den Mundwinkeln lief ihm der Speichel. »Zwingen gegen Ihren Willen, jede Nacht von neuem, darin liegt der große Reiz; darum kann ich mir nicht wie andere Maitressen halten und Frauen kaufen, weil sie entweder lieben oder völlig apathisch sind – Sie aber . . .«

Luise schüttelte sich vor Ekel. Er war jetzt ganz nahe an sie herangerückt, seine schweißige Hand lag auf ihrem Schoß, und er sah sie so sudelig an, daß sie Übelkeit verspürte.

»Sie aber hassen mich«, fuhr er fort. »Sie werden sich immer von neuem wehren; sich vor mir verbergen; ich werde Sie immer von neuem erobern müssen; und Sie werden mich innerlich verfluchen, so oft ich Sie in meinen Armen habe.«

Er stand jetzt auf und wollte nach ihr greifen; seine Hand lag schon auf ihrer Schulter, und sie spürte den heißen Atem, der aus seinem Munde kam.

Sie hob den Stuhl in die Höhe und trat ein paar Schritte zurück.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Sie mir zuwider sind«, rief sie. »Ich könnte Ihnen ins Gesicht spucken.«

»Tun Sie’s, bitte, tun Sie’s!« brüllte er laut und stellte sich in seiner ganzen Breite vor sie hin. »Ich lechze danach!«

»Ich wollte das Opfer bringen!« schrie Luise; »Ihnen heute sagen, daß ich meine Weigerung von damals bedaure, daß ich mich anders besonnen habe und bereit bin, Ihre Frau zu werden; aber . . .«

Weiter kam sie nicht. Er brüllte jetzt vor Vergnügen.

»Frau?« rief er. »Sind Sie naiv, mein Kind! Heiraten! Sie! Nach dem, was vorgefallen ist? Sie womöglich in die Gesellschaft einführen! Mutter meiner Kinder werden lassen . . .! Oh, das wäre köstlich!«

Luise traute ihren Ohren nicht! Dies Vieh ist rasend, dachte sie; aber sie überzeugte sich, daß er ganz ruhig wurde, allmählich wieder in Haltung kam und jeden Wort abwog, das er sprach:

»Ich danke meinem Schöpfer, daß Sie mich vor zwei Monaten abgewiesen haben. Sonst säße ich heute schön in der Tinte! Wäre als naher Verwandter gesellschaftlich boykottiert und – was schlimmer ist – geschäftlich ruiniert. – Nein, mein Engel, davon kann natürlich keine Rede mehr sein! – Ich kenne Ihre Verhältnisse genau und weiß, daß Sie und Ihre Mutter, wenn Sie nicht betteln gehen wollen, keine Wahl mehr haben; – — darum habe ich mich beeilt, um als erster hier zu sein – Sie verstehen,« sagte er spöttisch – »denn Sie sind schön und jung – bald werden andere kommen.«

Luise stand regungslos an die Wand gelehnt und krallte die Fingernägel in die Tapete.

»Zu meiner Geliebten will ich Sie haben! – Und Sie werden ›Ja‹ sagen, so gewiß ich hier vor Ihnen stehe. – Heute und morgen werden Sie sich vielleicht noch sträuben – aber in ein paar Tagen, wenn Sie ruhiger geworden sind, dann werden Sie von selbst kommen.«

Er trat an sie heran; sie stand noch immer unbeweglich.

»Sie wissen, wo Sie mich finden! Ich bin für Sie immer zu sprechen. – Ich erwarte Sie! —«

Dann ging er.

Luise biß die Zähne aufeinander.

»Nie!« sagte sie; zitterte am ganzen Körper, starrte zur Tür und tastete schwankend zum nächsten Sessel, auf den sie wie tot niederglitt.

Lu  die Kokotte

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