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Säfte und Temperamente
Оглавление„Säfte bringen Leben … Wenn sie hervorsprudeln, sind sie entweder unangebracht in der sozialen Welt, in der wir selbst unsere Haut verstecken müssen, oder sie bringen Tod. Aber im Leben haben sie immer die Kluft zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren gefüllt.”12
Der Ursprung der Theorie der „Säfte” kann auf die ältesten Kulturen zurückgeführt werden. Die frühesten Aufzeichnungen tauchen in sumerischen Schriften auf. In Indien gab es eine Lehre der vier elementaren Körperflüssigkeiten in der hinduistischen Medizin. Ähnliche Aufzeichnungen sind in altägyptischen Texten zu finden. Die Humoralpathologie jedoch wurde von griechischen Philosophen und Ärzten entwickelt. Im fünften Jahrhundert v.u.Z. schrieb Hippokrates das erste einflussreiche Werk zu diesem Thema, den Corpus Hippocraticum. In einem Teil davon, der den Titel Von der Natur des Menschen trägt, entwickelt der Autor eine medizinische Lehre über das Verhältnis zwischen den Elementen und den Säfte im menschlichen Körper. Ihm zufolge war die Natur des Menschen ein Teil desselben kosmologischen Prinzips, das in allen lebenden Geschöpfen existierte. Eine ähnliche Analyse der Elemente ist auch in den Schriften von Plato und Aristoteles zu finden. Auf der Basis all dieser Überzeugungen formulierte der bekannte griechische Arzt Galen im zweiten Jahrhundert seine Lehre der vier Temperamente, von denen jedes einem bestimmten Körperflüssigkeit zugeschrieben war. Das Verhältnis zwischen ihnen war in Galens System wie folgt:
Der Überzeugung folgend, dass einer der Säfte immer vorherrschend war, wurde jeder Person ein bestimmtes Temperament zugeordnet. Man sagte, dass die Säfte durch die Adern von der Leber zum Herzen befördert wurden und der Ausgleich zwischen ihnen für ein richtiges Funktionieren des Organismus nötig war. Eine überschüssige Menge von einer einzelnen war die Quelle von Krankheit und körperlichen oder geistigen Störungen. Dies galt insbesondere für die schwarze Galle. Die Hauptquelle der schwarzen Galle und der Melancholie war nicht die Leber, sondern die Milz. Der Begriff „Spleen” (Milz) wurde im siebzehnten Jahrhundert zu einem Synonym für Schlechtgelauntheit und ein „Splenetic” war eine gehässige und schlechtgelaunte Person. Abnormerweise konnten die Säfte in Form eines Dunstes direkt zum Gehirn aufsteigen. Solche Dünste erzeugten Erkrankungen und düstere Gedanken. Ein Saft konnte auch durch übermäßige Hitze verbrannt werden. Dieses Phänomen wurde oft als „melancholisches Ausbrennen” bezeichnet, selbst wenn es einen der anderen Säfte betraf.
Man hielt ihre Rolle für enorm wichtig: Die Säfte waren die lebenspendende Feuchtigkeit des Körpers, das aktive Lebensprinzip, die vitale Hitze, die mit den Feuern und Energien im Innern der Erde korrespondierte. Außerdem spiegelten sie die Strukturen und Phänomene des umgebenden Kosmos. Frieden und Harmonie des Universums spiegelten sich in einer friedlichen Einstellung des Menschen, während Stürme und Erdbeben als Leidenschaften und dynamischer Teil der menschlichen Natur angesehen wurden. Die Säfte waren auch die Quelle des spirituellen Zustandes des Menschen: Die Leber produzierte den natürlichen Geist, das Herz den vitalen Geist und das Gehirn den tierischen Geist. Die Ausgeglichenheit der Säfte war ein Zeichen von Gesundheit, während Störungen und Erkrankungen aus einer Störung dieser natürlichen Harmonie resultierten.
Die Lehre der Säfte und ihrer Korrespondenzen und Funktionen im menschlichen Organismus wurde von dem mittelalterlichen Gelehrten Avicenna (Ibn Sina) in seinem Kanon der Medizin dargelegt. Ihm zufolge besteht der menschliche Körper aus den Organen, der vitalen Energie (Thymos), den Säfte und den Elementen. Diese elementaren Qualitäten sind untrennbar mit allen körperlichen und geistigen Prozessen verwoben, was die Quelle der Temperamente und ihrer Eigenschaften bildet:
Sanguinisch: Fröhlich, optimistisch, mutig, erfindungsreich, gewitzt, freundlich. Blut ist der Saft einer ausgeglichenen Natur, die dem Körper Stärke und Farbe verleiht. Es ist rot, salzig und seine Quantität übersteigt die der anderen Säfte. Herrscht von 3 Uhr bis 9 Uhr früh und nimmt im Frühjahr zu.
Cholerisch: Ungeduldig, leicht provozierbar, verräterisch, aufbrausend, zu Neid und Stolz neigend, extravagant und rachsüchtig. Die gelbe Galle, die dieses Temperament beherrscht, mäßigt die Feuchtigkeit im menschlichen Körper und versorgt das Blut mit einer durchdringenden Qualität. Sie ist gelb oder rot und bitter. Sie durchdringt und öffnet Passagen und hält den Körper davon ab, schwer und schläfrig zu werden. Sie herrscht von 9 Uhr vormittags bis 3 Uhr nachmittags und dominiert im Sommer.
Phlegmatisch: Schwerfällig, blass, schläfrig, müßig und langsam. Das Phlegma mäßigt die Stärke, Hitze und Dicke des Körpers. Es ist üblicherweise weiß, wässrig und süß. Es befeuchtet und ernährt das Gehirn und die beweglichen Teile des Körpers. Es herrscht von 3 Uhr bis 9 Uhr nachmittags und steht mit dem Herbst in Verbindung.
Melancholisch: Introspektiv, starrsinnig, argwöhnisch, sorgenvoll, mit wechselnden Launen. Die schwarze Galle mäßigt die Knochen, die Milz und die festen Teile des Körpers. Sie ist schwarz und sauer. Sie verdickt das Blut. Die schwarze Galle herrscht von 9 Uhr abends bis 3 Uhr früh und nimmt im Winter zu, wenn auch die Stimmung sich verdickt und die Leute träge werden.
Ein charakteristisches Temperament macht jedes Individuum zu einem einzigartigen Mikrokosmos, der bestimmte Ähnlichkeiten mit anderen Mikrokosmen hat, aber niemals mit ihnen identisch ist. Die Funktion der Säfte war nach Avicenna und seinen Anhängern die Quelle der Lebenskraft (Pneuma oder Thymos), die Verbindung zwischen dem Körper, der Seele und dem Geist. Die Lebenskraft erhielt das Leben, erzeugte Gefühl und Bewegung, und wurde mit der Verdauung der Nahrung, Wachstum und Fortpflanzung in Verbindung gebracht.
Der Einfluss der Säfte wurde auch mit dem der Planeten verglichen. In seinen Drei Büchern der Magie schrieb Agrippa, dass alle Dinge unter dem Saturn der Traurigkeit und Melancholie dienen, die unter dem Jupiter dem Frohsinn und der Ehre, die unter dem Mars der Kühnheit, Auseinandersetzung und Wut, die unter der Sonne dem Ruhm, Sieg und Mut, die unter der Venus der Liebe, Lust und Begehrlichkeit, die unter dem Merkur der Redegewandtheit, die unter dem Mond einem gewöhnlichen Leben. Agrippa schrieb auch alle Taten und Einstellungen von Menschen den Planeten zu: Saturn herrscht über alte Männer, Mönche und melancholische Menschen sowie verborgene Schätze und „solche Dinge, die durch lange Reisen und Schwierigkeiten erlangt werden können”, Jupiter herrscht über die Religiösen, Prälaten, Könige und Herzöge und „solche Art von Gewinn, die gesetzlich zu erlangen ist”, Mars herrscht über Barbiere, Chirurgen, Ärzte, Unteroffiziere, Metzger, Henker und „alle, die Feuer machen, Bäcker, und Soldaten, die überall als martialische Menschen bezeichnet werden” usw. Jeder Planet soll eine bestimmte Wirkung auf das weltliche Leben haben und sein Einfluss spiegelt sich in der Physiologie und der Wesensart von Menschen. Das menschliche Wesen und die umgebende Welt existierten in einer perfekten Harmonie, und das Wissen über die Prozesse, denen das kosmische Gleichgewicht unterliegt, war der Schlüssel zu Langlebigkeit, Gesundheit und Unsterblichkeit des Geistes. Die Korrespondenzen zwischen den Säften, Planeten und Elementen können wir deshalb in eine Vergleichstabelle zwischen dem Mikro- und dem Makrokosmos aufzeigen:
In der Jungianischen Psychologie korrespondieren die vier Elemente mit den vier Funktionen der Psyche: Empfindung, Gefühl, Denken und Intuition. Im spirituellen Sinne werden sie durch den ätherischen, den astralen, den mentalen und den kausalen Körper repräsentiert. Philosophen glaubten, dass das menschliche Wesen alle Qualitäten des Makrokosmos vereint, materielle wie spirituelle. Da sie drei Komponenten des menschlichen Geistes unterschieden (den vitalen, den natürlichen und den animalischen), hielten sie die Säfte für die konkretere Repräsentation dieser spirituellen Anlagen – in Form der Elemente stiegen sie im menschlichen Organismus in einem Zirkulationsprozess auf und ab, der die materiellen und immateriellen Teile des Menschen miteinander verband, was den Menschen zu einem vollständigen Mikrokosmos machte. Deshalb sahen die Denker der Antike und der Renaissance den Menschen als harmonische Reflektion und Ausgleich des ganzen Universums. Dies ist am Beispiel der neoplatonischen Rede an die Würde des Menschen, Pico della Mirandolas (1463 - 1494) zu sehen, die das menschliche Wesen als „den Vermittler zwischen den Geschöpfen, … den Herrn der Dinge unter ihm” oder „den Deuter der Natur” versteht. Diese Situation stattet den Menschen mit einem enormen Potential an Wandlungsfähigkeit und Kreativität aus.