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KAPITEL 1 Der Gute Bischof Worin das Konzept von Materie hinterfragt und von einem Stuhl geträumt wird.

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1744 veröffentlichte der Bischof des irischen Cloyne das erfolgreichste Buch seines Lebens.28 Siris: Eine Kette von Philosophischen Betrachtungen und Untersuchungen über die Tugenden des Teerwassers erreichte innerhalb eines Jahres sechs Auflagen. 1752, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte der Bischof eine Fortsetzung, Weitere Gedanken zur Teerwasserfrage.

Das bischöfliche Teerwasserrezept empfahl, ein Quart Holzteer in ein großes Glasgefäß zu geben und mit einer Gallone kaltem Wasser zu übergießen. Vier Minuten lang mit einer Kelle oder einem Stab umrühren, dann achtundvierzig Stunden stehen lassen. Danach die Flüssigkeit abgießen. Die Farbe sollte nicht heller sein als die von französischem Weißwein, nicht dunkler als die von spanischem. Abends und morgens eine halbe Pinte auf leeren Magen trinken; Kinder und »empfindliche Personen« sollten die Flüssigkeit verdünnt und dafür öfters trinken.

Diese Kur, so der Bischof, heile allerlei Beschwerden. Er beschreibt eine Familie mit sieben Kindern während einer Pockenepidemie. Sechs der Kinder tranken Teerwasser und »durchstanden die Infektion sehr gut«. Das siebte »konnte nicht dazu bewegt werden, Teerwasser zu trinken«, und uns wird zu verstehen gegeben, dass es starb. Teerwasser kuriere wirksam »so viele purulente Geschwüre«, dass der Bischof es schließlich auch bei »anderen Verdorbenheiten des Blutes« anwandte, darunter »kutane Ausbrüche« und die »schändlichsten Krankheiten […] Pleuritis und Peripeumonie«.

Der Autor der Siris – vom großen Philosophen Immanuel Kant später als »der Gute Bischof« bezeichnet – bewarb Teerwasser so energisch aus Sorge um seine Gemeinde. In Cloyne, einer abgelegenen, armen Gegend, waren kurz zuvor die Pocken und Dysenterie ausgebrochen – oder wie es der Bischof anschaulich nannte, die »blutige Ruhr«.

Ein Brief aus dieser Zeit an einen britischen Abgeordneten – »Die Plagen Irlands« – beschreibt das Land des Bischofs als »die elendigste Szenerie universellen Leides, von der je in der Geschichte zu lesen war«.29 Neben Krankheiten litt die Bevölkerung unter einer »Knappheit von Brot (die mancherorts einer Hungersnot gleichkommt)«. So sehr mangelte es an Brot, dass der Bischof in einer Solidaritätsgeste gegenüber seiner Gemeinde Mehl zum Pudern seiner Perücke erst wieder nach der Ernte verwendete.

Der Bischof glaubte, er habe eine günstige Möglichkeit gefunden, einer darniederliegenden Bevölkerung zu guter Gesundheit zu verhelfen. Doch nicht nur sollte sein Erfolgsbuch die physiologischen Tugenden des Teerwassers darlegen und dessen Wirksamkeit wissenschaftlich erklären. Das dritte Ziel bestand darin, wie es in der Stanford-Enzyklopädie der Philosophie heißt, »den Leser durch eine Aneinanderreihung kleiner Schritte zu einer Reflexion über Gott zu führen«30. Das Wort »Siris« im Titel stammt vom griechischen Wort für »Kette«, und die bischöfliche »Kette von Philosophischen Betrachtungen« führt, trotz einiger Schlenker, vom Teerwasser zur Theologie.

Was uns, wenn auch ein wenig abrupt, zu Gott bringt.

Die Tugenden des Teerwassers sind im Laufe der letzten Jahrhunderte größtenteils in Vergessenheit geraten, nicht jedoch die früheren Schriften des Bischofs. Es sind diese frühen Arbeiten, verfasst, als er sich mit Mitte zwanzig als Forschungsstipendiat am Dubliner Trinity College durchschlug, die ihn heute zu einer bekannten, wenn auch missverstandenen Figur machen. Denn in diesen frühen Schriften bestritt George Berkeley, der spätere Bischof von Cloyne, eindringlicher und wirkungsvoller als alle anderen Philosophen die Existenz von Materie.

Sagt jemand zu Ihnen: »Du bist so materialistisch«, meint die Person in der Regel, Sie seien übermäßig auf Konsumartikel fixiert, möglicherweise auf Kosten von Wichtigerem wie menschlichen Beziehungen oder noblen Anliegen. Aber Materialismus kann auch etwas anderes bezeichnen als Shopping-Gier: Nämlich den in universitären Kreisen verbreiteten Glauben, das Universum und alles darin könne zufriedenstellend allein durch Materie erklärt werden. Das heißt, es könne zufriedenstellend erklärt werden, ohne dass es eines Gottes bedürfe, eines Geistes, einer Bestimmung oder eines Sinnes, die darüber hinausgehen, was wir aus Materie erschaffenen Menschen mit unseren aus Materie erschaffenen Gehirnen selbst erfinden.

Wer anderer Meinung ist als die Materialisten, meint in der Regel, etwas existiere zusätzlich zur Materie – der menschliche Geist, Gott, eine Lebenskraft –, doch räumt er meist ein, dass Materie natürlich auch existiere. Materie ist physischer Stoff: Stühle, Tische, Steine, Wasser, Atome. Die Debatte zwischen Materialisten und Nichtmaterialisten betrifft normalerweise eher die Frage, ob es irgendetwas neben der Materie gebe, und nicht, ob Materie an sich existiere.

Berkeley widersprach beiden Lagern. Er glaubte, Materie existiere überhaupt nicht. Und obwohl diese Ansicht wie eine wahnsinnig radikale Doktrin wirken mag, nahm Berkeley selbst sie gar nicht so wahr, sondern eher als etwas mit ein wenig Reflexion völlig Selbsterklärendes. Nicht nur das, ganz nebenher schafft sie etwas für einen Bischof überaus Nützliches: Sie beweist die Existenz Gottes.

Wir alle träumen, und manche von uns erleben Halluzinationen oder haben sie schon erlebt. In unseren Träumen und Halluzinationen sehen, fühlen, hören, riechen und schmecken wir; wir erfahren Freude und Schmerz; und solange wir uns in ihnen befinden, glauben wir voll und ganz an ihre Realität. Wenn wir aufwachen, wird uns klar: »Oh, das war ein Traum.« Häufig, zumindest in der heutigen westlichen Welt, sagen wir: »Das war nur ein Traum.«

Wenn man es sich recht überlegt, meinen wir damit, dass die Gegenstände im Traum aus keiner Materie bestanden, Materie im Sinne von echtem Stoff. Alles hat sich in unserem Kopf abgespielt. Sind wir aber wach und sehen einen Stuhl, nehmen wir an, wir sähen gerade ein Stück richtig toller Materie. Und wir nehmen an, diese echte Materie verdeutliche dadurch, dass sie da ist, dass wir jetzt in der Realität leben, während wir vorher im Schlaf – als unsere Stühle aus keiner Materie bestanden – in einem Traum lebten.

In meinem Traum sehe ich einen Stuhl. Ich stolpere dagegen und stoße mir den Fuß – aua! Im Traum bin ich davon überzeugt, es sei ein echter Stuhl, aus echter Materie. Darum kann ich ihn sehen, und darum tut es weh, wenn ich dagegenrenne. Trotzdem sage ich nach dem Aufwachen ohne zu zögern, ich hätte mit meiner Überzeugung aus dem Traum falsch gelegen und es habe dort gar keinen echten Stuhl gegeben (also keinen Stuhl aus Materie).

Ich sage also bedenkenlos, dass ich manchmal (im Schlaf oder in einer Halluzination) Dinge sehe und fühle und durch sie verletzt werde, selbst wenn es dort keine Materie gibt, die ich sehen, fühlen oder durch die ich verletzt werden könnte. Berkeley fragte im Grunde, warum ich, wenn ich das für meine Träume einräume, trotzdem beharrlich annehme, echte Materie verursache auch nur einen meiner Sinneseindrücke – die im Wachzustand miteingeschlossen. Wenn der Traum-Stuhl nicht aus Stoff bestehen muss, warum dann der Wach-Stuhl? Zugegebenermaßen sind die Verhaltensmuster des Wach-Stuhls gesetzmäßiger als die des Traum-Stuhls – er verwandelt sich nicht plötzlich in einen rosafarbenen Elefanten –, aber warum sollte eine gewisse Gesetzmäßigkeit im Verhalten denn Materie implizieren?

Berkeley argumentierte sogar, der Unterschied zwischen Träumen und dem, was wir als Realität bezeichnen, sei ausschließlich eine Frage von Gesetzmäßigkeit. In der Regel folge die Realität Gesetzen, wie sie unser gesunder Menschenverstand und unsere Naturwissenschaften festgelegt hätten, während das bei Träumen häufig nicht der Fall sei. Die Vorstellung von Materie trage aber nichts zu unserem Verständnis von Gesetzmäßigkeiten bei. Wir gewönnen nichts durch sie – sondern verlören sogar etwas, da Materie ein völlig bedeutungsloser Begriff sei.

Ich sitze in meinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und schreibe. Ich bekomme Durst. Ich verlasse das Arbeitszimmer, schließe die Tür hinter mir und gehe in die Küche. Ich mache mir einen Tee. Ich gehe zurück in mein Arbeitszimmer, öffne die Tür und sehe meinen Bürosessel – ich nehme an, es sei derselbe Bürosessel, auf dem ich saß, bevor ich mir meinen Tee holen ging. Eines der größten Argumente zugunsten der Existenz von Materie ist, dass etwas während meiner gesamten Abwesenheit in meinem Arbeitszimmer geblieben sein muss und dass dieses zurückgelassene Etwas erklärt, wie der Sessel dort gewesen sein kann, als ich das Zimmer verließ, und noch immer dort ist, wenn ich zurückkomme. Das ist die grundlegende Funktion von Materie: Sie existiert, selbst wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind. Ihr ist es egal, ob wir sie sehen oder nicht.

Wir geraten jedoch in Schwierigkeiten, sobald wir versuchen, uns diese Materie vorzustellen – diesen materiellen Sessel, der in meinem Arbeitszimmer geblieben ist. Was meinen wir damit? Wie ist er? Ist er braun? Hat er eine feste Rückenlehne und eine weich gepolsterte Sitzfläche? Wiegt er fünf Kilo? Ist er bequem? Sieht er gut aus?

Das Problem besteht darin, was wir mit all diesen Eigenschaften meinen. Braun ist etwas, das ich sehe. Ich kann mir kein Braun vorstellen, ohne mir vorzustellen, Braun zu sehen. Klar, ich kann ein mathematisches Modell elektromagnetischer Wellen einer bestimmten Frequenz entwerfen – aber der Gedanke an elektromagnetische Wellen ist ein völlig anderer als der Gedanke an Braun (versuchen Sie’s ruhig). Ohne zu sehen, oder zumindest ohne mir vorzustellen, dass ich sehe, verliert »Braun« allen Inhalt – es ist ein leeres Wort.

Dasselbe ließe sich für »fest« oder »weich gepolstert« sagen. Diese Eigenschaften spüre ich. Ich kann mir etwas Festes oder weich Gepolstertes nur vorstellen, indem ich mir vorstelle, es anzufassen. Ohne einen Tastsinn sind »fest« und »weich gepolstert« leere Wörter. Die Wörter sind an Sinneseindrücke gebunden.

Dasselbe gilt sogar dafür, fünf Kilo zu wiegen. Fünf Kilo ist eine Beschreibung dafür, wie schwierig es ist, etwas anzuheben oder herumzuschieben. Ich kann mir keine fünf Kilo vorstellen, ohne mir auszumalen, etwas anzuheben oder herumzuschieben. Die Bedeutung ist an das Gefühl gebunden, welchen Widerstand etwas meiner realen oder imaginierten Handlung entgegensetzt.

Wenn ich mir in der Küche meinen Tee koche, kann ich mir mühelos meinen Sessel in meinem Arbeitszimmer vorstellen. Ich stelle ihn mir braun vor, fest und weich gepolstert und fünf Kilo schwer. Damit habe ich keinerlei Schwierigkeit. Aber all diese Eigenschaften sind von mir abhängig – oder von jemandem wie mir. Um einen Sinn zu ergeben, erfordern sie mein Sehvermögen, meinen Tastsinn, mein Empfinden, etwas zu schieben oder hochzuheben. Doch der materielle Sessel in meinem Arbeitszimmer soll sich ja gerade dadurch auszeichnen, dass er nichts mit mir zu tun hat. Er braucht mich nicht. Ich könnte in der Küche durch ein Gasleck sterben – die gesamte Welt und jedes Lebewesen in ihr könnte an einer plötzlichen und geheimnisvollen Krankheit sterben –, und der materielle Sessel stünde noch immer im Arbeitszimmer.

Aber was ist dann dieser materielle Sessel? Er ist nicht braun, weil er nicht gesehen oder imaginär gesehen wird. Er ist nicht fest oder weich gepolstert, weil er nicht berührt oder imaginär berührt wird. Er wiegt keine fünf Kilo, weil er nicht angehoben oder herumgeschoben wird, ob in der Realität oder in der Vorstellung. So seltsam es klingen mag, der materielle Sessel hat keine Eigenschaften.D

An dieser Stelle ruft normalerweise jemand: Moment mal. Der Sessel ist ja in Wirklichkeit eine Ansammlung von Atomen. Und das sei schließlich eine Eigenschaft. Selbst wenn niemand braun sehe oder fest oder weich gepolstert spüre oder sich vorstelle, irgendetwas herumzuschieben, seien die Atome ja da.

Aber leider, leider kann ich mit den Atomen dasselbe anstellen wie gerade mit dem Sessel. Atome sollen Dinge sein, die ein bestimmtes Gewicht haben, eine bestimmte Größe und bestimmte Eigenschaften, durch die sie andere Atome abstoßen oder anziehen. Doch selbst wenn ihr Gewicht sehr viel geringer ist als das eines Sessels, muss ich immer noch an Herumschieben oder Hochheben denken, um mir Gewicht überhaupt vorstellen zu können. Um mir Größe vorstellen zu können, muss ich mir Sehen vorstellen. Um mir Abstoßen oder Anziehen vorzustellen, muss ich mir vorstellen, einen Schub oder Zug zu spüren. Ohne mir diese Sinneseindrücke vorzustellen, sind »Größe«, »Gewicht« und »Anziehung« leere Wörter. Obwohl ich ein Atom also nie so direkt wie den Sessel wahrnehme, muss ich, damit das Wort »Atom« überhaupt eine Bedeutung hat, auf meine Sinneseindrücke zurückgreifen. Ziehe ich die Sinneseindrücke des Sehens, Fühlens und Schiebens von meiner Vorstellung eines Atoms ab, bleibt nichts von dieser Vorstellung übrig. Genau so, wie nichts vom Sessel übrig bleibt.

Wenn wir also davon ausgehen, es gebe Materie – Stoff, dessen Existenz nicht davon abhängt, wahrgenommen zu werden –, dann hat diese Materie gar keine Eigenschaften. Aber zu sagen, Materie habe keine Eigenschaften, ist, als würde man sagen, das Wort sei eine leere Chiffre – es bezieht sich auf nichts. Warum, fragte Berkeley, sollten wir unser Verständnis dessen, was existiert, mit einem bedeutungslosen Begriff wie »Materie« verwechseln? Stattdessen schlug er vor: Esse est percipi (aut percipere). Oder verständlicher: Sein ist Wahrgenommenwerden (oder Wahrnehmen).

Dieses »Sein« ist genau das »Sein« unserer Träume und Halluzinationen. In ihnen machen wir oftmals Erfahrungen, die genauso real sind wie die im Wachzustand, aber wenn wir aufwachen, sehen wir uns nicht genötigt, auf einen bedeutungslosen Begriff (»Materie«) zurückzugreifen, um dem Ganzen Rückhalt zu verleihen. Und wenn wir in unseren Träumen keine Materie brauchen, um Dinge wahrzunehmen, warum sollten wir sie sonst irgendwo brauchen?

Aber nicht nur unsere Träume und Halluzinationen kommen großartig ohne Materie aus. In Computerspielen kann man ziemlich genau wie in unserer normalen Welt durch virtuelle Welten reisen. Wenn Sie mit Ihrem virtuellen Auto hundert Meter nach Westen fahren, dann nach Norden, dann nach Osten, dann nach Süden, landen Sie an demselben virtuellen Ort, an dem Sie losgefahren sind. Vielleicht ist es ein Platz mit einem hübschen Springbrunnen. Als sie westwärts vom Springbrunnen weggefahren sind, haben Sie aufgehört, ihn wahrzunehmen. Als Sie vom Norden her, dem letzten Abschnitt Ihrer Fahrt, wieder darauf zugesteuert sind, haben Sie ihn wieder wahrgenommen. Der Springbrunnen ist wie der Sessel in meinem Arbeitszimmer – etwas, das ich oder Sie zurückgelassen und nicht mehr wahrgenommen haben und zu dem wir dann zurückgekehrt sind und es wieder wahrgenommen haben.

Im Computerspiel gehen Sie nicht davon aus, dass ein materieller Springbrunnen an einem festen Ort geblieben war, während Sie herumgefahren sind. Sie akzeptieren, dass der Springbrunnen nicht fortwährend existiert hat; bestimmte Bedingungen haben bei Ihrer Rückkehr die Spiel-Software das Bild des Springbrunnens neu schaffen lassen. Der Springbrunnen im Computerspiel existiert nicht, wenn er nicht wahrgenommen wird.

Mit derselben Einbildung spielen die Matrix-Filme. Ist man eingestöpselt, navigiert man durch eine stimmige Welt, die wie unsere wirkt. In einer eindrücklichen Szene aus Matrix Reloaded gibt es ein saftiges Rindersteak und ein Stück Schokoladentorte, die die Figur des Merowingers in einem Restaurant isst, bevor er zum Sex auf die Toilette verschwindet. Steak und Torte sind überaus sinnlich (den Sex sehen wir nicht). Doch statt Materie liegt ihnen ein Computercode zugrunde. Die herrlichen Geschmäcker und Gefühle brauchen keine Materie, um zu existieren.

Niemand glaubte Berkeley. Seine Philosophie ließ zahlreiche Limericks, Scherzgedichte, entstehen – immerhin war er Ire. Das Problem des Sessels, der im Arbeitszimmer weiterexistiert, wenn ich gerade in der Küche bin, erschien als das Problem eines Baumes, der im Innenhof einer Universität weiterexistiert, wenn alles schläft:

Einst meinte ein Jungphilosoph,

Gott müsse wohl denken: Recht doof!

Wenn er fände den Baum,

wie der stände im Raum,

selbst wenn niemand da wäre im Hof.

Berkeleys Schwäche war, dass er es selbst »recht doof« fand, dass der Baum nicht weiter im Innenhof der Universität existieren sollte – oder eben der Sessel im Arbeitszimmer. Seine Reaktion illustriert ein zweiter Limerick:

Werter Herr, Ihr Staunen wirkt toll,

im Innenhof bin ich, jawoll!

Drum steht auch der Baum

fortwährend im Raum,

erfasst von Gott, hochachtungsvoll.

Wie in seinem Traktat über Teerwasser kommt der Bischof am Ende auf Gott zu sprechen. Aber wie. Nicht nur glaubt Berkeley, esse est percipi sei selbsterklärend für jeden, der mal drüber nachdenke – er glaubt auch, dass darin ein klarer Beweis für die Existenz Gottes liege. Der Anfangsidee, der Baum im Innenhof der Universität müsse wahrgenommen werden, um zu existieren, fügt er hinzu, dass es absurd wäre, anzunehmen, der Baum schaue kurz im Dasein vorbei und verschwinde dann wieder, je nachdem, ob gerade Menschen den Hof beträten oder verließen. Sein Fazit? Etwas anderes als ein Mensch müsse den Baum wahrnehmen – und ihn fortwährend wahrnehmen, damit er fortwährend existieren könne. Und wer ist der einzige Kandidat, um den Baum immer wahrzunehmen? Gott natürlich. Der entsprechende Syllogismus, ein aus zwei Prämissen gezogener logischer Schluss, sieht dann wie folgt aus:

Esse est percipi. (Sein ist Wahrgenommenwerden.)

Der Baum existiert fortwährend.

Deshalb wird der Baum fortwährend wahrgenommen (und das einzige Wesen, das den Baum fortwährend wahrnehmen kann, ist Gott, und deshalb muss Gott den Baum fortwährend wahrnehmen, und deshalb existiert Gott).

Zugegebenermaßen ist das Fazit dieses Syllogismus ein bisschen verschachtelt. Aber es geht noch verschachtelter, etwa wenn man ein paar weitere von Berkeleys Ideen zu Gott unterbringen will, wie in diesem Versuch der Philosophin Lisa Downing (der Sie überzeugen könnte, auf keinen Fall hauptberuflich Philosoph zu werden):

Ein X existiert zur Zeit Z, falls, und nur falls, Gott einen Impuls hat, der einem Wollen entspricht, dass, falls ein finiter Verstand in Z sich in den richtigen Umständen befindet (z. B. an einem bestimmten Ort, in die richtige Richtung oder durch ein Mikroskop blickend), dieser wiederum einen Impuls haben wird, von dem wir behaupten könnten, er sei die Wahrnehmung eines X.31

Bei so viel Verschachtelung könnte einem Materie bei allen Schwächen fast noch lieber sein.

Berkeleys Problem war, dass er auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen wollte. Eigentlich sogar erst auf einer, dann auf noch einer und dann auf noch einer. Er wollte »Sein ist Wahrgenommenwerden«. Und er wollte, dass Objekte (wie der Baum oder der Sessel) fortwährend existieren. Und er wollte bestimmte Vorstellungen behalten, die er schon von Gott hatte.

Dieses ganze verschachtelte System lässt sich stark vereinfachen, wenn wir zwei Ideen fusionieren. Die erste Idee lautet, dass »Materie«, wie wir gesehen haben, eigentlich bloß als Platzhalter für »nicht wahrgenommene Existenz« fungiert. Das Problem der Existenz, die niemand mitbekommt, löst der materielle Baum, weil das nun mal ist, was Materie tut. Sie ist da, ob’s einem gefällt oder nicht; sie ist da, egal ob irgendwer etwas mit ihr zu tun hat oder nicht. Aber wie wir auch gesehen haben, hat dieser Platzhalter keinen Inhalt. Ob Baum oder Sessel oder Atom, um mehr als eine leere Chiffre zu sein, benötigt es unsere Wahrnehmung, ob nun die echte oder die imaginierte. »Nicht wahrgenommene Existenz« und »Materie« laufen in Wirklichkeit auf dasselbe unstimmige Konzept hinaus – ein Konzept, das zwar nach einem Konzept klingt, weil wir Wörter dafür haben, aber eigentlich gar kein Konzept ist, weil diese Wörter leer sind. Ohne Wahrnehmung können wir kein Konzept von der Welt haben, obwohl wir uns hier ständig etwas vormachen – immer wenn wir glauben, Dinge bestünden aus Materie.

Die zweite Fusion geschieht zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen. Eigentlich lautet Berkeleys Gleichung nicht »Sein ist Wahrgenommenwerden«, sondern: »Sein ist Wahrgenommenwerden (oder Wahrnehmen)«. Nicht nur der Baum existiert im Innenhof, wenn ein Student ihn ansieht – der Student existiert ebenso. (Berkeley bezeichnete den Baum als Vorstellung und den Studenten als Geist, meinte damit aber nichts anderes als eben das: etwas Wahrgenommenes und einen Wahrnehmenden.) Versuchen wir allerdings, den Wahrnehmenden oder das Wahrgenommene vom jeweils anderen abzugrenzen, landen wir am Ende wieder bei der Leere. Gibt es keinen Wahrnehmenden (den Studenten), gibt es auch nichts wahrzunehmen (den Baum), und somit kann der Baum nicht existieren. Aber dasselbe gilt für den Wahrnehmenden (den Studenten). Hat der Wahrnehmende keine Wahrnehmungen, ist er kein Wahrnehmender und existiert also auch nicht. Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden ist wie ein Tanz – und, wie es Berkeleys irischer Landsmann William Butler Yeats in seinem Gedicht Unter Schulkindern ausdrückte: »Wo trennt man nur den Tänzer und den Tanz?«32 Wir können sie nicht voneinander trennen. Ohne einen Tänzer gibt es keinen Tanz; und ohne einen Tanz gibt es keinen Tänzer. Ohne einen Wahrnehmenden gibt es nichts Wahrgenommenes; und ohne das Wahrgenommene gibt es keinen Wahrnehmenden.

Wenn Sie sich fragen, wer oder was Sie eigentlich sind, und dieses Ding ausfindig machen wollen, indem Sie all Ihre Sinneseindrücke, Gefühle, Gedanken, Glaubensvorstellungen, Fantasien, Erinnerungen, Überzeugungen abziehen – kurz gesagt alles, was Sie wahrnehmen –, um das »Ich« hinter all dem zu finden, bleibt Ihnen am Ende kein »Kern-Ich«, das all diese Dinge wahrnimmt. Es bleibt Ihnen gar nichts. Es bleibt nichts übrig. Selbst wenn Sie Ihre Augen schließen, ist Ihnen immer noch warm oder kalt, Sie fühlen sich wohl oder unwohl, hören alle möglichen Geräusche oder Ihren Herzschlag, Sie riechen die Luft oder schmecken den Speichel in Ihrem Mund. Sie können sich nicht von Ihren Wahrnehmungen lösen. Die Welt ist nicht losgelöst vom wahrnehmenden Subjekt – aber genauso wenig ist das wahrnehmende Subjekt losgelöst von der Welt.

Dasselbe gilt, wenn Sie die Grenze zwischen Ihrem Körper und der Welt bestimmen wollen. In Ihrem Darm schwimmen Millionen von Bakterien, ohne die Sie nicht überleben könnten – und die Bakterien auch nicht ohne Sie. Sind sie ein Teil von Ihnen? Sie haben keine gemeinsame DNA. Und trotzdem, würden Sie die Bakterien entfernen, würden Sie selbst sterben. Oder denken Sie an Ihren Körper, wenn Sie gerade eingeatmet haben – ist die Luft in Ihren Lungen ein Teil von Ihnen oder losgelöst von Ihnen? Auch die Luft brauchen Sie zum Überleben. Betrachten Sie diese Luft als einen Teil von sich und atmen aus, hat ein Teil von Ihnen Sie soeben verlassen und sich mit der Atmosphäre vermischt. Betrachten Sie diese Luft als keinen Teil von sich, ist Ihr Körper mit einer fremden Substanz gefüllt – allerdings einer, ohne die es Sie gar nicht geben würde. Ein Teil dieser Substanz wird von Ihrem Blut aufgenommen und kreist durch Ihren gesamten Körper, dringt auch in die allerletzte Zelle ein und ermöglicht Ihnen, alles zu tun, was Sie je tun – am Leben zu bleiben mit inbegriffen. Sind das Sie oder sind Sie das nicht? Ihre Fingernägel, Ihr Schleim, Ihre Haare, all das sind Sie und nicht Sie. Ihre Haut schält sich fortlaufend ab. Die Atome in Ihrem Körper werden laufend von anderen Atomen ersetzt; rein physisch gesehen sind Sie nach einer gewissen Zeit ein komplett neues Modell.E Essen wandert in Ihren Mund und verlässt Sie durch Ihren Anus. Die Welt ist ein Teil von Ihnen, und Sie sind ein Teil der Welt.

Fügen wir die beiden obigen Fusionen aneinander, können wir uns keine Welt ohne Wahrnehmung vorstellen und keine Wahrnehmung ohne Welt. Paradox ist das nur, solange wir darauf bestehen, die Welt als getrennt von uns selbst zu begreifen. Sind der Tänzer und der Tanz eins – der Wahrnehmende und das Wahrgenommene –, verschwindet das Paradox.

Ich denke, der spätere Bischof von Cloyne wollte auf ebendiesen Punkt hinaus, bis ihm Gott in die Quere kam. Aber er kam ganz nah ran. Berkeley sah klar die Absurdität und Leere der Vorstellung von Materie und der einer Existenz, die von Wahrnehmung getrennt ist – ihm zufolge handelt es sich um dieselbe Vorstellung. Er löste diese Absurdität mit einer Art universeller Wahrnehmung, die er Gott zuschrieb. Der Baum existiert fortwährend, weil Gott ihn fortwährend wahrnimmt, und esse est percipi.

Es gibt noch eine andere Lösung für das Problem des Fortwährens, und obgleich Berkeley sie direkt vor der Nase hatte, sah er sie nicht.

Esse est percipi (aut percipere) – Sein ist Wahrgenommenwerden (oder Wahrnehmen). Genau da steht’s, in der Klammer.

Was wäre, wenn der Baum im Innenhof selbst wahrnähme? Was wäre, wenn der Baum, in Berkeleys Terminologie, ein Geist wäre?

Bis vor nicht allzu langer Zeit wäre man für die Idee, Bäume nähmen wahr, auf dem universitären Innenhof ausgelacht worden – Gelehrte wollten nichts davon hören. Heute sehen Wissenschaftler das anders. Im Kapitel »Sein oder Nichtsein« schauen wir uns später an, was sie zu sagen haben. Fürs Erste reicht es, Folgendes anzumerken: Falls Bäume tatsächlich wahrnehmen, müsste es Berkeley nicht mehr »recht doof« finden, dass der Baum weiter im Raum stände, »selbst wenn niemand da wäre im Hof«. Schließlich wäre der Baum – ein Geist – dann selbst »im Hof«, und mehr brauchte es nicht.

Wenn wir dächten, dass nicht nur Bäume, sondern auch Steine und Flüsse und Wolken Geister in Berkeleys Sinn seien – also wahrnehmend –, würden wir die Welt sehr anders empfinden. Es wäre eine Welt, wie sie der Homo sapiens während des Großteils seiner Vorgeschichte erfahren hat – also während weit über 90 Prozent der Zeit, die wir als Spezies existieren. Nach wie vor mit der Wildnis verbunden, erfahren viele indigene Völker diese Welt auch heute noch.

Diese Sichtweise wird gemeinhin als Animismus bezeichnet. In der Regel nahm sie immer dann und dort ab, wenn Menschen sich vom Jagen und Sammeln ab- und der Landwirtschaft zuwandten, wo Pflanzen und Tiere von, in Yuval Hararis Worten33, »gleichberechtigten spirituellen Partnern« zu »stummen Besitzgütern« wurden. Systematisch verurteilt und ausgerottet wurde der Animismus in großen Teilen der Welt durch Berkeleys Religion, das Christentum, das der Natur innewohnende, nichtmenschliche Geister mit Heiligen ersetzte – Männer und Frauen, die nicht in Bäumen oder Flüssen lebten, sondern im Himmel. Oftmals ging die christliche Missionierung einher mit kolonialistischem Genozid und ökologischer Zerstörung durch einen Ressourcenabbau auf Land, das Europäer den ursprünglichen Bewohnern abgenommen hatten. So gibt es heute, anteilsmäßig zur Weltbevölkerung, nur noch sehr wenige Animisten.

Den meisten von uns ist die Erfahrung des Animismus völlig fremd, und in den meisten europäisch geprägten Gesellschaften gilt sie einfach als falsch – ob es einem gefalle oder nicht, die westliche Wissenschaft habe bewiesen, dass die Dinge anders lägen, als Animisten glaubten. Nehmen wir allerdings im Sinne des Guten Bischofs ernst, dass die Welt nicht von uns getrennt ist und wir nicht getrennt von der Welt sind – dass wir uns keine Welt ohne Wahrnehmung vorstellen können und keine Wahrnehmung ohne Welt, dass esse est percipi (aut percipere) –, dann regen sich in uns vielleicht erste Zweifel an unserem »Wissen« und noch grundlegender daran, wie wir eigentlich zu diesem gekommen sein wollen.

DMan könnte versuchen, die Eigenschaftslosigkeit des Sessels zu umgehen, indem man sagt, er habe die Eigenschaft, die Wahrnehmung eines Sessels hervorzurufen, wenn er durch einen Menschen oder einen anderen wahrnehmenden Akteur wahrgenommen werde. Das ist im Grunde das, was Kant mit seinem »Ding an sich« versuchte. Allerdings bleibt diese neue »Eigenschaft« so abhängig von der menschlichen Wahrnehmung wie jede andere auch, da sie ohne echte oder imaginäre menschliche Wahrnehmung verschwindet. Außerdem bringt sie die Absurdität mit sich, dass in einem Universum, in welchem nie Leben entstanden wäre, sogenannte »Dinge« »existieren« würden, deren einzige Eigenschaft wäre, in nichtexistenten Lebewesen eine bestimmte Wahrnehmung hervorzurufen.

EFür eine vom Roboteringenieur Steve Grand verfasste erhellende Diskussion siehe https://stevegrand.wordpress.com/2009/01/12/where-do-those-damn-atoms-go.

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