Читать книгу Logbuch - Auf zu neuen Ufern - Askson Vargard - Страница 2
Erster Eintrag
ОглавлениеIch wälze mich unter meiner Federbettdecke, die an der angestauten Wärme festhält, wie mein erwachender Geist an seinen Träumen, hin und her; Ich schlage die Decke zur Seite, um sie im selben Atemzug, in dem ich mir den Fehler bewusst werde, wieder schützend über mich zu ziehen, denn ich verneine das verweichlichte Morgenrot, welches sich draußen außerhalb meiner Realität, das heißt jenseits des Fensters, abzeichnet, jenes hoffnungsschwangere Geheiß, das Myriaden Schriftsteller vor und wahrscheinlich nach mir als eine geeignete Metapher dünkt und dünken wird. Ich begehre Finsternis, denn in ihr ruhe ich, ohne lästige Verpflichtungen und ohne Sauerstoffzufuhr. In einer Drehung des Oberkörpers ertönt das Knacken dürren Geästs - meine erste Pflicht, die mich an meine Rückenübungen ermahnt. Wenngleich ich zwar umgangssprachlich kein alter Knacker bin, so habe ich das sorgenfreie Gewand der Jugend abgestreift und trage die wichtigste Erkenntnis dieser Verwandlung, die, dass ich sterblich bin, auf der Nasenspitze vor mir her. Keineswegs gerate ich dadurch in neurotische Angstzustände, im Gegenteil, was ich vom Leben, wie ich es definiere, erwarten konnte, habe ich bekommen. Ich lebe das Leben, was ich kann und nicht das, was ich will.
Wollen ... von wollen kann keine Rede sein, denn ich will schlafen, aber die allmählich penetrante Helligkeit des Tages hindert mich. Ich Idiot! Neben den Rückenschmerzen zahlt mir das zyklische Messerstechen in meinen Schläfen heim, was wohl auf die letzte Rotweinflasche von gestern Abend zurückzuführen ist, einen Vale da Clara aus Portugal. 'Die vielseitige Rotweincuveé aus regionalen typischen Portweintrauben hat eine verführerische Nase und wird geprägt vom starken Duft dunkler Beeren, wie Brombeere und Johannisbeere. Vollmundig und frisch mit einer guten Säure und Struktur fließt er ohne jede Schwere über die Zunge. Sowohl leicht gekühlt als auch etwas temperierter trinkbar.' Kein Wort in diesem Steckbrief erzählt von Kopfschmerzen. Ich stand auf dem Balkon, obwohl ich lieber gemütlich sein, also sitzen wollte, aber die Rückenschmerzen wussten es zu verhindern, während meine Frau gemütlich war. Sie saß mit zurückgestellter Lehne mit dem Kopf im Sternenhimmel. Ich gebe zu, sie ist nicht meine amtliche Ehefrau, korrekt würde ich sie als meine Partnerin bezeichnen, mit der ich zusammen eine Dachgeschosswohnung in Leipzig, Stadtteil Gohlis-Mitte, beziehe. Ihr Name ist Bianca und ich, ich heiße Sandrino. Zwei italienische Namen. Erster ist besonders in Berlin-Lichtenberg beliebt, vor allem in den Jahren 2018 wurde er bevorzugt jungen Mädchen mitgegeben, da er "die Weise" bedeutet und die somit, ohne Zutun, den ersten Druck der Gesellschaft spüren. Wobei? Papperlapapp ... Sandrino hingegen ist die Verniedlichungsform von Sandro, dieser wiederum eine Entwicklung von Alexander und so weiter. Mir obliegt demnach die Bürde des Beschützers. In Berlin wohnt übrigens derzeit kein Sandrino gemäß den Namensregistrierungen der örtlichen Behörden. Ich könnte der einzige sein! Ebenso in Österreich, wo seit 1987 kein einziger Namensvetter von mir lebte. Was wäre eine Welt ohne Namen? Wären wir sodann stets der oder die Erste, weil wir als Individuum gelten müssten? Wahrscheinlich würden wir uns oberflächliche Bezeichnungen geben, die von markanten Körper- oder Charakterzügen abgeleitet würden. "Ginger", "Fettsack", "Schlampe", "Dummbrot" zum Beispiel, das meiste ist selbsterklärend, denn was wir höchstens unterschwellig wissen ist, dass wir diese vorgefertigten Schubladen benötigen, um unseren Intellekt mit mehr Informationen zu füttern als wir besitzen, indes wie unheimlich wäre diese Vorstellung, wenn jeder Einzigartigkeit besäße? Unheimlich ist das Stichwort, worüber Bianca und ich uns im Anfluge eines Wetterleuchtens, das auf den Leipziger Hausgiebeln der Nordseite tanzte, debattierten, unter dem Gesichtspunkt seines Pendants: heimlich. Über das lose Gefühl des Unbehagens, das nah mit gruselig verwandt ist, waren wir uns schnell einig, aber nicht unter Berücksichtigung des genannten Gegenstücks, denn wenn ich etwas heimlich unternehme, dann tue ich demnach eine gewisse Sache im geheimen, weil die Befürchtung vor eventuellen Strafen besteht, zumindest sind Repressalien im Bereich des Möglichen, was umgelegt auf das Wort unheimlich wiederum bedeuten würde, dass ich etwas publik mache, also veröffentliche. Gedankenspiele, die der Suff gebärt, was durchaus nett wäre, würden mich nicht diese lästigen Kopfschmerzen quälen.
Ich blicke neben mich. Bianca schläft mit geöffnetem Mund, einer Steinskulptur ähnlich, die die gorgonischen Augen der Medusa als letztes erblickten, was sie jemals sehen sollte, aber da durchzuckt sie plötzlich Leben. Sie hebt zögerlich ihre Lider und sieht mich - Sandrino.
Sie, als Leser haben nun den ersten Eindruck von uns gewonnen, Sie wissen, dass wir Bianca und Sandrino heißen. Vermutlich schlussfolgern Sie daraus, dass unsere Eltern italienischer Abstammung sein müssten, aber weit gefehlt, Bianca hat dank ihrer Mutter tschechische Wurzeln und ich erfuhr erst vor kurzem von meinem Onkel, dass mein väterlicher Stammbaum nach Schlesien führt. Seltsam, dass wir darum gegen unsere ahnischen Völker des Ostblocks eine abneigende Haltung, womöglich gar eine unterentwickelte Form der Verachtung, entgegenbringen. Diese Gedankengänge! Sie durchrauschen mich, wie sie mich überfahren, allumfassend sozusagen.
Kennen Sie dieses Gefühl, in dem der Körper abgemattet und flundergleich am Boden fest gepresst wirkt, obwohl der Puls mit 180 auf der linken Autobahnfahrspur rast in froher Vorerwartung vor dem Unbekannten in der Ferne? Möglicherweise trägt der brasilianische Kaffee Sante eine Teilschuld, den ich gestern Abend frisch gemahlen in unserer French Press zubereitete. Aus dem letzten Drittel war kein Tropfen mehr auszudrücken, zu stark waren die gemahlenen Bohnen verdichtet. Das Gesöff war schwärzer als die Nacht, wie es so schön heißt, aber ich wollte die Bohnen, ohne ein kümmerliches Überbleibsel zurückzulassen, restlos aufbrauchen, bevor wir fliehen. Richtig gelesen, wir stehen kurz davor, auf der Flucht zu sein, deswegen wäre ein kraftspendender Schlaf immens wichtig gewesen. Bianca ist unterdes auch wieder eingeschlafen, eventuell bin ich die Medusa, vor der sie erstarrt. Die naheliegende Vermutung jedoch ist, dass sie eine übergesunde Beziehung zum Schlaf unterhält. Ich versuche mit ihr im Gleichtakt zu atmen, darin muss das ihrige Geheimnis verborgen liegen. Ich gleiche meine Atmung also an, sie wird ruhig, fällt immer tiefer bis ich im Einklang mit ihr den Schlaf erwarte. Klack ... die Millisekunde zwischen dem Wissen, dass der Radiowecker gleich ertönt bis David Bowie bereits "We can be heroes" singt, ist bereits Vergangenheit. Ich verstehe, dass unsere Stunde unweigerlich geschlagen hat und richte mich auf, wie lange habe ich wohl geschlafen? Flinken Schrittes umkurve ich das Bücherregal und setze mich, nachdem ich den Flur noch schneller durchkreuzt habe, auf Toilette. Es soll kein falscher Eindruck von mir entstehen, denn die Tatsache, dass ich scheinbar mühelos meinen Kadaver in Gang gesetzt habe, war wirklich mehr dem auditiv perfekt abgestimmten Appell, für den es keine andere Bezeichnung als Vorsehung (nicht Zufall) gibt, geschuldet, als der fragwürdigen Vorabendkombination aus Wein und Kaffee. In Folge versande ich auf der Klobrille, während das Gebläse, das zwischendurch verdächtig aufheult, als sollte sich jemand diesem annehmen, in der Monatsausgabe der Lateinamerika-Nachrichten. Verrückte Welt, wenn Chilenen behaupten, eher am Hunger als an dem Virus zu sterben, wenn bolivianische Abgeordnete den besorgniserregenden Zustand mittels Actionfiguren, wie Iron Man, vermitteln, bevor sie sich stückweise ins Ausland absetzen oder wenn Nicaragua in der Krisenzeit Ärzte en masse kündigt, weil diese Warnungen vor der Bedrohung aussprechen und den Bürgern empfehlen, zu Hause zu bleiben, da die Ansteckungsgefahr in den überfüllten Hospitalen zu gefährlich ist. Wahnsinn da draußen! Jenseits dieser Wände herrscht ein Tollhaus. Das Phänomen schlechter Nachrichten ist damit bewiesenermaßen global. Schließlich raff ich mich mit Wut im Bauch, denn kein Gefühl ist besser zum Sport geeignet, auf zu meinen abgespeckten Morgenübungen, die an Yoga erinnern. Es knackt bei jeder Bewegung. Erst verharre ich in der Kuh-Katze-Stellung, bis ich mir getraue die Kobra zu mimen, was eine Kettenreaktion an Feuerwerk in meiner Wirbelsäule auslöst. Aber interessiert Sie das überhaupt?
Wenn ich mir herausnehme, aus der Sicht eines Lesers zu berichten, so verhält es sich nämlich so, dass das erste Viertel eines Buches übermäßig interessant wirkt, ja sogar wirken muss, wenn der Schriftsteller beabsichtigt, dass seine Bücher in Gänze gelesen werden. Dieser Anfangszauber der ersten Seite reizt die Motivation, man könnte wohl gleichermaßen von Neugier sprechen, und muss unbedingt groß genug sein, um die Langatmigkeit und nicht selten belanglosen kommenden zwei Viertel (gekürzt eineinhalb) im wahrsten Sinne zu bekämpfen, bis sie erschöpft an der linken Seite des Bucheinbandes, wie ein Boxer in den Seilen, lehnen, bevor das verbleibende Viertel erneut mit reiflicher Überlegung und Witz antwortet, wie man es sich für das gesamte Pamphlet erhoffte. Solch eine Spitzfindigkeit hat das Ziel, positiv im Gedächtnis zu bleiben, sodass nach diesem Schema halb enttäuscht, aber vor allem halb erfreut dem Kauf eines nächsten Buches nichts entgegensteht (immerhin könnte ein unbekannter Autor auf ganzer Linie die Erwartungen torpedieren) und hernach weiter geschmökert wird. Wenn wir ehrlich sind, lässt die durchschnittliche Auffassungsgabe eines Lesers (Ihre ausgenommen) ohnehin keinen zweiten Rückschluss zu.
Ich beging diesen Exkurs aus reiner Freundlichkeit und aus Respekt vor der wertvollen Zeit und wie sehr es schmerzt, Stunden, Minuten, Sekunden vergeudet zu wissen. Nun, da ich Sie und mich hoffentlich einigermaßen bekannt machen konnte, glauben Sie mir sicherlich, wenn ich die These aufstelle, dass es sowohl vom Ausdruck als auch inhaltlich auf den kommenden Seiten nicht besser wird. Leider sind meine stilistischen Mittel arg begrenzt, sodass ich Ihnen nicht besser durch die Blumen zu verstehen geben kann, dass es zweifellos besser für Sie wäre, wenn Sie dieses Buch jetzt schließen!