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Zweiter Eintrag

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Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, die Flucht.

Seit einigen Wochen verfalle ich einem Zustand, der einer Lähmung nahekommt. Ein Phlegma, dass mich sogar daran hindert, einen Spaziergang zu unternehmen. Ich habe frische Luft immer geliebt, bevor ich mich ihrer entwöhnte, nun deucht es mich, Abgase, verbranntes Schweinefett aus den Nachbarküchen, Hundekot aus dem Innenhof, kurz die geballte Geruchswulst an Widerlichkeiten heraus zu riechen. Eine dramatische Lebenswendung, die meine ohnehin notorische Unlust ins Krankhafte steigert, in Beziehung mit irgendetwas, geschweige denn mit irgendwem zu treten, weshalb ich mich hermetisch von der Außenwelt abschotte. Genau das im Prinzip, was die Politik von mir verlangt. Diese Paralyse findet heute jedoch ihr unrühmliches Ende, heute mache ich Schluss mit dem, was mir Virologen, im Besonderen jene vom Robert-Koch-Institut, vorschwafeln, Schluss mit den skurrilen und teilweise widersprüchlichen Präventivmaßnahmen vom sächsischen Bundesland, Schluss mit den Menschen, die an dem System festhalten, indem sie glauben, innerhalb dieser fremdgesteckten Grenzen eine Seite vertreten zu müssen, Schluss mit dem, was mich als Individuum belastet, denn ich bin nichts geringeres als ein Superheld. Wie der, von dem Bowie singt oder der mit dem der bolivianische Minister vor laufenden Fernsehkameras spielt. Ich bin der personifizierte Superlativ heldenhafter Handlungen – der Superheld. Im Ansatz sehe ich bereits wie einer aus. Wer mir das verraten hat? Die Lautsprecheransagerin der Leipziger Verkehrsbetriebe, "nicht nur Superhelden tragen eine Maske", sagt eine Frau, woraus ich schließe, dass das unkenntlich machende Hauptmerkmal, welches Helden seit je unterschieden hat, aufgehoben ist, indem jeder vom Pöbel an, über die Hausfrau, dem Bauarbeiter, dem Beamten im mittleren Dienst, dem Bäcker, dem Ladenbesitzer, dem Manager der Großfinanzen eine Maske trägt und damit ein Held sein kann. Bianca fügt hinzu, dass dieses „nicht nur“ genauso gutheißen kann, dass der Kreis der Maskenträger einfach erweitert wurde, ohne dass die Eigenschaften übernommen werden. Eine Lockerung des Vermummungsgesetzes ist meiner Ansicht nach bei der Vielzahl hässlicher Visagen, die die gottgegebene Ästhetik in Zweifel ziehen, durchaus angebracht, aber den vermeintlichen Sinn oder viel mehr Nichtsinn dahinter verneine ich vehement. Eine Maske, sei es eine Augenbinde alla Zorro, eine erweiterte Oberkopfmaske mit eleganten Latexohrenschutz, wie beispielsweise Batman sie trägt oder eine, die das gesamte Gesicht versteckt, wie bei Spider-Man, verleiht dem Träger eine unweigerliche Mystik. Er trägt zwar nur einen Stofffetzen, aber in seinem Herz trägt er sein Geheimnis für eine bessere Welt und da niemand ins Innere hineinsehen kann, gibt es dieses offenkundige Erkennungsmerkmal, Punktum, wer eine Maske trägt, trägt Superheldeneigenschaften, egal ob sie als gut oder böse empfunden werden. In derselben Straßenbahnfahrt folgt eine Männerstimme: "Seit dem 31. August ist es Pflicht, eine Maske zu tragen, falls nicht, wird dies mit einem Ordnungsgeld von 60 Euro geahndet. Folgen Sie bitte dem Wunsch Ihrer Mitfahrer!" Das heißt, dass mir keine Wahl gelassen wird, ein Superheld zu sein, es wird mir aufgezwungen, wenn ich Restriktionen meiden möchte. Meine Eigenbezeichnung als Superheld ist demnach eine Persiflage, weil heutzutage jeder Mensch ein Superheld ist oder optisch den Anschein erweckt. In einer individualitätsverkrusteten Welt strebe ich nicht nach dem Heldenideal, lieber stelle ich den "Normalo" vor, aus dessen Schatten ich mich ursprünglich erheben wollte, aber hinter den ich nun dankend zurückkrieche. Dieser Rückzug ist keineswegs leicht, er ist undurchführbar, die besagte Flucht zur „alten“ Normalität damit unumgänglich.

Sie schlussfolgern vollkommen korrekt, lieber Leser, denn dieser Zustand, wovon ich, respektive wir, uns zu befreien trachten, ist nicht recht neu in Mode. Da ich an dieser Stelle unmöglich vorausahnen kann, wie viele Dekaden mein Schriftstück überdauert, möchte ich klar an die, die das Jahr 2020 nicht aktiv miterlebt haben, herausstellen, dass die Welt nicht immer so erbärmlich war. Vor jenem Schicksalsjahr war kurz gesagt alles besser. In den Flussbetten rollten Milchwogen, die von den höchsten Gebirgsplateaus von glücklichen Kühen gespeist wurden. Jeder Mensch schöpfte seine biologisch abbaubare Schale ausschließlich aus dem Zweck, es seinem Nächsten zu reichen. Das Sättigungsgefühl erreichten wir damals mittels Augen, wie gemeinhin fast vergessen, und nicht den Mund. Gefängnisse waren vergleichbar mit ausgeklügelten Erweiterungen der hiesigen Universitäten, an denen besonders Begabte Begabtenkram erledigten und eher diese Institution nicht verlassen durften, bis eine Neuerung zur Steigerung der Lebensqualität aller und nicht ausschließlich einzelner, entdeckt wurde. Scherzhaft bezeichneten dies die Forschenden als Gefangenschaft, woraus die Zweckentfremdung jener Einrichtung führte, die wir heute vom Scheitern verhängter Resozialisierungsmaßnahmen kennen. Dieser Umstand resultierte wahrscheinlich daraus, dass die Demokratie lediglich als griechische Vokabel bekannt war, da es keine andere Herrschaftsform gab als die, die das Gemeinwohl förderte, und da sämtliche Bewohner des Erdenrunds nach stabilen Wohlstand strebten, wurden Abstimmungen seit je mit einhundert Prozent Übereinstimmung getroffen. Es mögen Unterschiede der Auslegungen existieren, was Luxus bedeutet, aber nicht, was es heißt, ein menschenwürdiges Dasein zu fristen. Automatisch schleicht Melancholie durch die voran gegangenen Zeilen, die das Gestern besingen und den trefflichsten Beweis ins Feld führen, dass das Leben selbst die besten Geschichten schreibt, Happy End ungewiss. Womöglich werden wir Helden, wenn wir konsequent versuchen das Heldentum abzulehnen, wie ein Mann, der von umso mehr Frauen begehrt wird, je rigoroser er die Botschafterinnen dieses Geschlechts ignoriert.

Es kommt, wie es kommen soll, der Weg ist vorbestimmt und auch, wenn wir ihn unbeschritten links liegen lassen wollen, gehen wir bereits festen Ganges auf ihm, denn der Weg weiß alles, weil er absolut ist und nie zwei Wege gleichzeitig von uns genommen werden können. Man erinnere sich an das Gedicht von Robert Frost "The Road Not Taken" … im goldgelben Wald betrübt es den Wanderer, der nur einen Weg gehen konnte und jenen nachblickte, der allmählich im Dickicht sich verlor, obwohl seiner, auf dem er wandelt, nicht minder schön anmutete. Was Bianca und mich betrifft, so treten wir hinaus in einen trüben Tag. Eine graumelierte Wolkenmasse hängt voll gesogen über Leipzig. Dunst steigt auf und erzeugt Nebelschwaden, kein Schriftsteller könnte eine treffendere Szenerie ausdenken, um vom Beginn einer Flucht, einem Ausbruch, mit dem Verlangen nach Wirklichkeit zu schreiben, in der unwirtliche Elemente Gewohnheit sind und wirken, als befinden wir uns unter einer abgeschlossenen Glocke von verrückten Wissenschaftlern als Bestandteil eines globalen Sozialexperiments beobachtet, dessen Ausgang für die Probanden Ungewissheit birgt. Falls dieses Theorem ein Fünkchen Wahrheit birgt, bin ich in soweit zufrieden gestellt, dass diesmal keine Ratten für diese Abscheulichkeit herhalten müssen, denn ich bin gegen Tierversuche, solange es genug Menschen gibt. Fakt ist: Wir handeln endlich und ergreifen die Initiative aus einem Antrieb heraus, der der stringenten Ergebenheit in das vermeintlich Unabwendbare, widerspricht, wir lassen uns keine Zügel anlegen und wie einen elenden Gaul zureiten, so glauben wir.

Der Revoluzzer in uns obsiegt. Wir folgen seinem Ruf nach Aufbegehren und schütteln das Autoritätsjoch von uns, aber wir dürfen diesen erklärten Widerstand nicht offen zur Schau tragen, da das Establishment sonst geneigt ist, unsere Pläne zu vereiteln. Zumindest schwimmen wir in einem Ozean an Unwissenheit, weil unklar ist, ob uns jemand folgt, aber wir müssen Vorsicht walten lassen und es in Erwägung ziehen. Unauffällig sind unsere Gesichter hinter babyblauen Einwegmasken versteckt, als wir den Bus besteigen, welcher turnusmäßig höchste Gefahren riskiert, um Flüchtlinge auf ihrem ersten Wegstück zu befördern. Das trojanische Pferd, das in seinem Bauch die Leute, die allesamt gleich geartet scheinen, diesmal nicht in die Stadt, sondern aus ihr raus, fern der aktuellen Gefahren, karrt. Neben mir ein Typ, der geschlagene drei Stunden Fahrt über seinen Laptop auf dem Schoss trägt. Er macht nicht den Eindruck, als gehöre er zur Revolution, dafür ist sein Interesse an Materiellen, ohne daraus Nutzen ziehen zu wollen, zu erheblich, aber plötzlich verstehe ich, dass seine Tarnung noch subtiler ist als unsere. Hinter mir sitzt Bianca und neben ihr ein gutartiges Großstadtmütterchen, wahrlich kommen wir hier mit einem Potpourri existierender Gesellschaftsklassen zusammen, sogar Minderheiten darunter, namentlich lustige Krausköpfe, die sich ebenfalls angeschlossen haben, um aus ihrem selbst auferlegten Schattendasein zu treten. Das ist das kosmopolitische Material, aus dem unsere alte Normalität geschaffen war und gemeinsam werden wir diesen Zustand der Freiheit (der uns früher niemals als solche erschien) zurückerlangen. Ich unterdrücke meine redliche Freude und kann einen frenetischen Jubelschrei unterdrücken, der mir wie ein Stein auf die Blase drückt. Einige Kameraden benutzen die mobile Bustoilette, ohne Angst vor einer Ansteckung. Kleinigkeiten, die dennoch von Solidarität zeugen. Hygiene ist die Angst, dass der Dreck anderer schädlicher ist, als unser eigener. Ich schließe die Kabine und vernehme Fatschgeräusche unter meinen Schuhsohlen auf dem gummierten Untergrund - das Klo ist bis oben hin voll und lässt mir keine andere Wahl als den verbleibenden Rand auszunutzen. Schweine, denke ich, jetzt bin ich eines von euch - Oink! Unbeteiligt setze ich mich mit dem Pokerface, welches ich mir von meinen Vorgängern abgeschaut habe, auf meinen Platz neben den, den ohnehin nichts interessiert. Der Busfahrer, der stolz wie Oskar seine Arbeit als Flüchtlingsdeporteur seinen Sohn präsentieren möchte, erklärt liebevoll die Funktionsweise des Klosetts, obwohl der Jüngling wirkt, als habe er die Strecke dutzend Male zuvor miterlebt. Da wird das Unheil publik. Er ruft im fränkischem Bauerndialekt, bei dem mir das rollende R besonders viel Freude bereitet: "Scheiße!" Leider war kein R in diesem Fäkalwort und genauso leid tut mir die Belehrung, dass dieser goldgelbe (war der Vergleich schon?) Swimmingpool kein Kot beinhaltet, was ich aus Rücksicht seiner natürlichen Bedürfnisse höflich unterließ. "Das läuft über!" Da war es, das klangvolle R, und ich konnte mich mir meiner Freude nicht verwehren und lächelte mild. Der Busfahrer macht eine den Umständen entsprechend würdevolle Durchsage zum Leidweise der älteren Dame, die vorhin am Öffnen der Tür scheiterte. Sie hätte die letzte sein können, so war ich es, der Solidarität verübte, was auch immer das mittlerweile heißt. Der Sohn des Busfahrers drückt seinen Eierschädel voller Ungeduld fast bis zur Entstellung an die Frontscheibe und sagt, als die Haltestelle in greifbare Nähe rückt "Ich bin gespannt, was da drin ist!" Ich für meinen Teil konstatiere, dass er darin nicht die alte Normalität findet, denn sie riecht weniger streng.

Logbuch - Auf zu neuen Ufern

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