Читать книгу Ewige Stille - Astrid Keim - Страница 8
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ОглавлениеJetzt werden sie bald kommen und alle ausquetschen, die etwas gesehen haben könnten, denkt der Mann am Bildschirm. Samuel Gordon, ein groß gewachsener, hagerer Mann, dem man das fortgeschrittene Alter zwar ansieht, jedoch nicht, dass er die achtzig bereits hinter sich gelassen hat, beobachtet das Treiben im Hof über eine Kamera, die er zur Überwachung seiner Eingangstür installieren ließ. Die Leiche ist abtransportiert, die Scheinwerfer gelöscht, Spurensicherung und Polizei sind abgezogen. Von den Zuschauern ist nur noch eine kleine Gruppe von Männern übrig geblieben, deren Lachen bis in den fünften Stock dringt. Er steht auf, lässt über eine Fernbedienung die Jalousien herunter und schaltet die Deckenbeleuchtung ein. Ein Dimmer hat die Helligkeit auf ein Minimum reduziert, gerade genug, um alles erkennen zu können, aber zu wenig, um auch die Ecken zu erleuchten.
Die Wohnung erstreckt sich auf zwei Stockwerken über die gesamte Fläche des Hauses, welches ihm gehört. Er ließ das Dach anheben, die ehemaligen Dienstbotenunterkünfte und den Speicher zu einer leicht rückversetzten Maisonette ausbauen, um sie selbst zu bewohnen. Von unten ist die Aufstockung nicht zu bemerken, was genau seinen Wünschen entspricht.
Seine Wohnung ist geschmackvoll und teuer eingerichtet. Solchen Luxus würde man nicht in diesem Haus erwarten, dessen Glanzzeiten schon lange vorbei sind. Bei seiner Fertigstellung war es gewiss ein Schmuckstück mit der reich verzierten Gründerzeitfassade, den hohen, von Giebeln gekrönten Fenstern. Der Zahn der Zeit hat jedoch deutliche Spuren hinterlassen. Schmutzablagerungen vieler Jahre lassen kaum noch Rückschlüsse auf die ursprüngliche Farbgebung zu, die schmiedeeisernen Gitter der Balkone sind an einigen Stellen verrostet, die steinernen Ornamente tragen deutliche Spuren von Verwitterung, sodass man die Kunstfertigkeit der Steinmetze nur noch erahnen kann. Die Stelle der reich geschnitzten, schweren Eichentür nimmt nun eine Metall-Glaskonstruktion aus den Siebzigern ein. In die Fassungen der Schilder über den Klingelknöpfen sind kleine Zettel mit den Namen der Bewohner geschoben, einige kaum leserlich, andere in Blockbuchstaben, die sich in verschiedene Richtungen neigen, eines in ungelenker Schreibschrift, zwei Computerausdrucke. Alles deutet darauf hin, dass das Haus von einfachen Leuten teilweise ausländischer Herkunft bewohnt wird. Keines weist auf den Mann ganz oben hin.
Im großzügigen Treppenhaus relativiert sich der etwas heruntergekommene Eindruck des Hauses. Es wurde vor nicht allzu langer Zeit renoviert, die Stufen sind mit Teppich belegt. Zudem wurde ein Aufzug eingebaut, gerade ausreichend für zwei Personen und kaum bemerkbar, da er in einem geschlossenen Schacht verläuft und sich lediglich im fünften Stock öffnet. Der Zugang erfolgt über eine gesicherte Tür zum Hinterhof. Für die übrigen Bewohner ist Gordon so fast ein Unbekannter. Wenn sich ihre Wege doch einmal kreuzen, wird er mit Respekt gegrüßt, aber mit Ausnahme seiner kleinen Freundin im Erdgeschoss finden keine Gespräche statt. Der Hausverwalter Jens Rosenzweig, der ein paar Häuser weiter wohnt, kümmert sich um alle Anliegen der Bewohner. Er ist ein enger Freund und entfernter Verwandter Gordons, ihre Verbundenheit rührt noch aus der Kindheit. Das Naziregime überlebte Rosenzweig in Frankfurt, während ein großer Teil der Familie in letzter Sekunde nach Amerika übersetzte. So auch Gordons Mutter mit dem kleinen Samuel, nachdem sein Vater verhaftet und unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen war. Sie heiratete später einen Börsenmakler, der den Jungen adoptierte, und kehrte nach dem Krieg mit der kleinen Familie nach Frankfurt zurück, da ihr Gatte einem lukrativen Angebot folgte.
Im Nachlass seiner Eltern befand sich auch das Haus, in dem Gordon nun lebt. Er erhöhte den Mietzins im Laufe der Jahre nur gering, Kündigungen werden nicht ausgesprochen, solange es keinen triftigen Grund dafür gibt. Dies geschieht allerdings nicht aus schierer Menschenfreundlichkeit, wie es die Mieter mutmaßen, sondern aus einfachem Kalkül. Je unauffälliger, desto besser. Nichts an die große Glocke hängen, niemandem Anlass zu Neid oder Misstrauen geben. Keineswegs liegt es in seiner Absicht, jemanden von der Polizei hereinzubitten, um Fragen zu beantworten. Sollten sie herausbekommen, dass hier jemand lebt, würde er selbstverständlich aufs Präsidium kommen, seine Aussage machen und ihnen mitteilen, dass ihm leider nichts Ungewöhnliches aufgefallen sei.
In seine Wohnung jedoch würde er sie nicht lassen. Denn Zutritt zu dieser erlangt nur ein ganz spezielles Klientel, welches eine gemeinsame Leidenschaft eint, das Sammeln alter Handschriften. Weniger ganze Bücher, da diese kaum noch zu bekommen sind, sondern hauptsächlich einzelne Seiten, manches Mal sogar nur Fragmente von Seiten, die doch den ganzen Zauber des Gewesenen im Sein vereinigen. Gordon ist einer der Großen dieser Branche, Sammler, Sachverständiger und Händler zugleich. Einige schöne Blätter schmücken unter entspiegeltem Glas die Wände. Es sind nicht die wertvollsten, aber sie geben einen Vorgeschmack auf das Sortiment. Damit dem Betrachter keine noch so kleine Nuance entgehen kann, liegen Lupen mit starker Vergrößerung bereit.
Die übrigen Stücke befinden sich in einem Safe. Gordon hat ihn exakt einpassen lassen, fast unsichtbar für das ungeübte Auge, denn das schmale Streifenmuster der Tapete verläuft in einer Linie mit der Fuge. Zusätzlichen Schutz vor unerwünschten Blicken bietet ein Wandteppich aus dem 17. Jahrhundert. Dargestellt ist eine Venus im Bade, ausgeführt in feinster Stickerei. Er erwarb ihn aufgrund der passenden Größe und dem moderaten Preis für ein solch typisches Werk seiner Epoche. Inzwischen jedoch denkt Gordon immer öfter darüber nach, es gegen ein anderes auszutauschen, denn jedes Mal wenn sein Blick darauf fällt, stört er sich an den Proportionen. Die Formen der nackten Schönheit sind üppig, die Brüste dagegen fast winzig. Kleine feste Halbkugeln mit kaum angedeuteten rosigen Spitzen, dem Schönheitsideal des Barock folgend, welches jedoch durchaus nicht seinem eigenen entspricht.
Gordon hat ausgesprochen wertvolle Stücke im Angebot, auch solche, die nicht auf dem Kunstmarkt registriert sind, was sie umso begehrenswerter für Menschen macht, die sie weniger als Geldanlage, sondern vielmehr als eine Herzensangelegenheit betrachten. Genau wie Gordon. Für ihn ist es die größte Freude, nein nicht nur Freude, sondern tiefstes Glück, Schriftzüge, Symbole oder exquisite Malereien zu betrachten, die menschliche Hände vor Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden auf Papyrus, Pergament oder Holztafeln hinterließen. Welch Privileg, sie ansehen zu können und mit ihnen in die Vergangenheit zu reisen, sich vorzustellen, wie ein ägyptischer Schreiber im Schatten einer Sykomore oder in einer lichtdurchfluteten Säulenhalle der Nachwelt Kunde von wichtigen Ereignissen hinterließ, ein Mönch des Mittelalters am Fenster oder im Garten des Klosters seine ganze Kunstfertigkeit darauf verwendete, Gott zu preisen.
Es ist nicht einfach, immer wieder Nachschub zu erhalten. Natürlich bieten zuweilen Auktionen gute Gelegenheiten dazu, aber interessant ist vor allem das private Klientel. In dessen Hand befinden sich Artefakte, die nicht auf dem offiziellen Markt kursieren, sondern hin und wieder aufgrund von Geldmangel verkauft werden oder aus Nachlässen stammen. Bereits als junger Student der Kunstgeschichte hatte er sich selbst auf die Suche nach solchen Stücken gemacht. Sicherer Instinkt sowie Verhandlungsgeschick brachten ihm bald erste Erfolge ein.
Da ihm klar wurde, dass er sich eine Menge Wissen würde aneignen müssen, um sicher urteilen zu können, belegte er Latein und Griechisch als weitere Studienfächer. Nach der Promotion wurde das Hobby zum Beruf. Auf der Suche nach verborgenen Schätzen bereiste er ganz Europa und knüpfte ein weit gespanntes Netz von Kontakten. Nachdem er das Reisen vor einigen Jahren der Gesundheit zuliebe aufgegeben hat, erledigen das nun Scouts für ihn, die auf Dachböden, in privaten Archiven oder abgelegenen Klöstern unterwegs sind. Die Quellen dieser Schätze bleiben im Verborgenen und dies ist der Grund, weshalb auch Gordon im Verborgenen zu bleiben trachtet. Ansonsten könnte man ihm den Vorwurf der Hehlerei machen – absurd aus seiner Sicht, aber so liegen die Dinge nach geltendem Recht nun einmal.
Es ist nur eine kleine Gemeinde, die sich für alte Handschriften interessiert. Alle sind bestens untereinander und mit dem Geflecht der Informanten vernetzt, die im grauen Kunstmarkt ihr Auskommen finden. Selbstverständlich sind sämtliche Stücke mit Expertisen versehen, die deren Echtheit verbürgen. Unter der kleinen Zahl von Experten ist Gordon einer der angesehensten und hat nicht Schriften selbst zertifiziert. Lange Jahre des Lernens waren nötig, um die Sicherheit zu erwerben, eine Fälschung vom Original zu unterscheiden, und immer wieder gab und gibt es bei dem einen oder anderen Objekt Zweifel. Nur wenn alle Bedenken ausgeräumt sind, stellt er die Beglaubigung aus. Diese Vorgehensweise hat ihm große Autorität und Anerkennung eingebracht, dazu ein nicht unbeträchtliches Vermögen, das er keineswegs beabsichtigt, einer Gefährdung auszusetzen, denn offiziell verdient er seinen Lebensunterhalt mit Gutachten, Schätzungen und gelegentlichen Verkäufen aus Auktionen. Ansonsten ein gesetzestreuer Bürger, hat er nur ungern mit der Polizei zu tun, um kein Risiko einzugehen. Außerdem kann er zur Aufklärung des Mordes ohnehin nichts beitragen, denn die Kamera läuft nur in seiner Anwesenheit zur Überprüfung von Besuchern.
Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass noch genügend Zeit bleibt, um sich ein Vergnügen zu gönnen, das, so oft er es auch wiederholt, immer etwas Besonderes ist. Um sich darauf einzustimmen, nimmt er einen großen Schwenker und geht zu einem schön gearbeiteten Tisch an der Wand. Es ist ein exquisites, handgefertigtes Stück, die Beine aus Ebenholz, die Platte aus hochglanzpoliertem Vogelaugenahorn. Darauf liegt ein schmaler schwarzer Samtläufer, auf dem mehrere aufwendig geschliffene Karaffen stehen. Aus einer von ihnen gießt er sich eine kleine Menge Cognac ein, lässt das Glas kreisen, führt es dann an die Nase, um den Duft einzusaugen. Man braucht nicht viel von diesem Cognac, der in den Dreißigerjahren in einige wenige kleine Fässer gefüllt wurde und nur sporadisch, der Nachfrage entsprechend, auf Flaschen gezogen und verkauft wird. Lange wird dieser Zaubertrank nicht mehr auf dem Markt sein, umso mehr schätzen ihn seine Liebhaber, zu denen auch Gordon gehört. Er führt in eine vergangene Zeit, lässt Geschehnisse wieder auferstehen und den Herbst, in dem die Trauben geerntet wurden. Es ist dasselbe wie bei den großen, langlebigen Weinen, die zuweilen erst nach Jahrzehnten ihren Höhepunkt erreichen und von denen eine stattliche Anzahl in seinem Klimaschrank bei optimaler Temperatur und Luftfeuchtigkeit lagert.
Vorsichtig setzt er das Glas auf den Tisch, um keine Schramme zu hinterlassen und schiebt ein kleines, als Dekoration getarntes Paneel zur Seite. Nach dem Eintippen eines Zahlencodes in die dahinter erscheinende Tastatur gleitet eine Schublade wie von Geisterhand gezogen hervor. In ihr bewahrt er jene Exponate auf, für die sich bereits feste Interessenten gefunden haben. Die Trennung von einigen Stücken fällt ihm äußerst schwer, so auch bei diesem. Gordon atmet tief ein, schließt die Augen, um sich für den bevorstehenden Anblick sammeln, und öffnet sie nach einem kurzen Moment wieder. Vor ihm liegt ein leicht gewelltes Pergament, mit vollendeten Minuskeln beschriftet. Der Großbuchstabe zu Beginn jedes Absatzes ist herrlich illuminiert mit verschlungenen Pflanzen, Blüten und Arabesken in leuchtenden Farben, vorherrschend rot, blau, grün und gold. Den größten Teil des Blattes nimmt das Miniaturgemälde einer Jagdgesellschaft ein, die von Hunden und Dienern begleitet wird. Zwei Pferde tragen Herren in höfischer Tracht mit Falken auf ihren behandschuhten Fäusten. Sie sind nach der neuesten Mode gekleidet, mit eng anliegenden, verschiedenfarbigen Beinkleidern und knappen Wämsern, deren geschlitzte Ärmel weit herabfallen. Hinter dem Reiter des vorderen Pferdes hat eine vornehme Schönheit im Damensitz Platz genommen, deren elegantes Kleid in strahlendem Blau fast den ganzen Leib des Pferdes bedeckt. Im Hintergrund befindet sich ein herrschaftliches Gebäude, eines der Schlösser des Jean de Valois, Duc de Berry.
Das Blatt, schon lange als verschollen geltend, stammt zwar nicht vom berühmtesten Stundenbuch, das der Herzog von den Gebrüdern Limburg erwarb, dem Très Riches Heures, sondern einem anderen, fast ebenso kostbarem Werk, dem Très Belles Heures de Notre Dame. Die hochbegabten Brüder Paul, Jean und Herman, unangefochtene Protagonisten ihrer Zunft um die Wende zum 15. Jahrhundert, illuminierten um die 300 Handschriften und wurden von dem Duc, einem jüngeren Sohn des Königs Jean II, so geschätzt, dass er sie zu Mitgliedern des Hofes machte und als begeisterter Sammler mit immer neuen Aufträgen versah.
Nicht ohne Grund, denkt Gordon, denn weder vor noch nach ihnen wurde eine derartige Meisterschaft erreicht. Vor allem in den Stundenbüchern ist ihr überragendes Können bis heute zu bewundern. Allzu schade, dass diese große Epoche ein solch abruptes Ende fand. 1416 starben die Gebrüder Limburg und Jean de France, vermutlich an der Pest, und ein anderer Stil setzte sich durch.
Gordon bewundert den sicheren Geschmack des Herzogs, dem größten Mäzen seiner Zeit. Er empfindet es als großes Privileg, dass ihm vor einigen Jahren erlaubt wurde, eine der außerordentlich wertvollen Plastiken zu berühren, die einst den Sockel seines Grabmals schmückten. Zu gerne hätte er sie erworben, aber der Preis überstieg seine Mittel bei Weitem. Von den ursprünglich vierzig virtuos gestalteten, trauernden Mönchen aus Alabaster wurden viele zerstört, andere gestohlen. Was übrig blieb, ist in Museen auf der ganzen Welt verstreut. Gordon erstaunte es nicht zu lesen, dass der Louvre bei der Auktion zweier Pleurants erst bei 4,4 Millionen Euro den Zuschlag bekam. Ja, der große Duc hatte nur die Besten seiner Zeit beschäftigt und sein Andenken dadurch über die Jahrhunderte sichergestellt.
Gordon kehrt von seinem Ausflug in die Vergangenheit zurück und legt seufzend das Vergrößerungsglas zur Seite, unter dem er die feinen Striche, die exquisiten Farben bewundert hatte. Es wird Zeit aufzubrechen, man erwartet ihn.