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Iris ist es durchaus nicht unangenehm, etwas länger zu arbeiten, denn das lenkt vom Grübeln ab. Zum Grübeln gibt es nämlich genug. Jenny, mit der sie seit knapp zwei Jahren zusammen lebt, benimmt sich in letzter Zeit sonderbar, zieht sich zurück, gibt keine oder nur ausweichende Antworten, wenn Iris nachfragt, ob etwas nicht stimmt. Kein fröhliches Grübchen­lachen mehr, keine schwungvolle ­Umarmung beim Nachhause­kommen, keine Lust auf gemeinsames Kochen, gemeinsame Ausflüge, keine Lust auf gar nichts. Seit einem Monat geht das nun schon so und gestern fand sie ihre Lebensgefährtin weinend vor. Eine Klausur sei schief gegangen, das könne ein ganzes ­Semester kosten. Die Versicherung, es sei einfach nur der Stress des Studiums, es habe nichts mit ihr und der Beziehung zu tun, kommt ihr wenig plausibel vor. Es muss mehr dahinter stecken. Klar ist, dass etwas nicht stimmt und dass eine Aussprache ansteht. Iris hat sich für das Wochen­ende vorgenommen, ihre Freundin zum Reden zu bringen, denn so kann es nicht weitergehen. Besser, sich bis dahin mit anderen Sachen zu beschäftigen, als selbst Trübsal zu blasen.

»Nein, es macht mir wirklich nichts aus«, wendet sie sich an Thomas, »du hast doch auch schon Arbeiten für mich übernommen, wenn ich in ­Terminschwierigkeiten war.« Sie stößt ihn leicht in die Rippen. »Los Kumpel, verschwinde. Ich halte hier die Stellung und fange schon mal mit den Befragungen an.« Mit einer ­Handbewegung scheucht sie Thomas fort, der zunächst noch zögert, dann das Angebot dankend annimmt.

Prüfend gleiten ihre Blicke über die Hausfassade des Hinterhofs. Alle Fenster sind mittlerweile wieder geschlossen, die Sensation ist vorbei. Aus dem Augenwinkel kommt es ihr so vor, als bewege sich die Gardine am Fenster einer der Erdgeschoss-wohnungen. Sie tritt näher und bemerkt eine schmale Gestalt hinter dem Vorhang, die offenbar ihren Beobachtungsposten noch nicht aufgegeben hat. Sie überlegt kurz und pocht dann gegen die Scheibe. Irgendwo müssen die Befragungen ja ihren Anfang nehmen, vielleicht gibt es hier schon Antworten.

Mit einem kleinen Zögern öffnet sich ein Flügel. Neun Jahre, höchstens zehn, überschlägt Iris, älter dürfte sie nicht sein. Das Gesicht ist noch ganz kindlich, aber die großen dunklen Augen blicken ernst und wissend. Neben ihr auf der Fensterbank sitzt eine schwarze Katze mit ebenso ernsthaftem, ungerührtem ­Gesichtsausdruck, bewegungslos wie eine Statue. »Die ist aber mal schön.« Iris deutet auf das Tier. »Wie heißt sie denn?«

»Das ist keine Sie, er heißt Sam, eigentlich Samuel, aber ich nenne ihn Sam, weil das kürzer ist«, folgt die Belehrung auf dem Fuß, »und er ist der schönste Kater der Welt.«

Iris nickt. »Das glaube ich auch. Darf ich ihn streicheln?«

»Versuchen Sie’s.«

Das klingt nicht gerade ermutigend, aber wenigstens nicht ablehnend. Vorsichtig nähert sie ihre Hand dem Kopf des Katers und krault sanft das Fell hinter den Ohren. Einen Moment lang trifft sie ein grün-goldener Blick, dann schließen sich die Augen. Sam neigt den Kopf zur Seite und fängt an zu schnurren.

»Das macht er nicht bei jedem.« Anerkennung schwingt in der Stimme des Mädchens mit. »Sie ­kennen sich mit Katzen aus.« Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Stimmt. Ich hatte mal zwei, die uralt geworden sind. Sie bekamen alle Krankheiten, die bei alten Menschen auch vorkommen, und kosteten ein Vermögen an Tierarztkosten, aber ich habe sie heiß und innig geliebt.«

»Sam ist noch jung, noch nicht mal ein Jahr alt. Im April saß er plötzlich auf unserer Fensterbank und ­miaute, da war er noch ganz klein. Mami sagte, ich soll ihn nicht reinlassen, er würde bestimmt nach einem Zuhause suchen, aber er blieb einfach sitzen und ­miaute und miaute. Die ganze Nacht hörten wir ihn und am Morgen ließ Mami ihn rein und gab ihm was zu essen. Jetzt gehört er zu uns. Da«, sie deutet auf ein fragiles Holzgebilde, »wir haben eine Leiter gebaut, damit er nicht so hoch springen muss und sich vielleicht wehtut. Wenn er raus will, springt er innen auf die Fensterbank, wenn er rein will außen und kratzt am Glas.«

»Ein schlaues Tier.« Der Kater hat mittlerweile den Kopf gehoben und lässt sich das Kinn kraulen. »Bist du oft mit ihm am Fenster?«

»Wollen Sie wissen, ob ich im Hof was gesehen habe?«

Erstaunt blickt Iris die Kleine an und fühlt sich durchschaut. Da wollte sie sich ganz behutsam dem springenden Punkt nähern und nun das. Ein kluges Kind. Nicht schlecht, da kann man sich Umwege sparen.

Sie neigt zustimmend den Kopf. »Hast du?«

Ein bedauerndes Achselzucken. »Nein, heute nicht.«

»Was heißt heute?«, hakt Iris nach.

»Na ja, manchmal sind Leute hier, auch nachts.«

»Die was machen?«

»Ach, das ist ganz unterschiedlich. Ein paar kommen zum Kiffen her, manche spritzen sich was, manche knutschen … oder so.«

Nicht nur ein schlaues, sondern auch ein aufgeklärtes Kind, das schon einiges mitbekommen hat, von dem die meisten Altersgenossen noch nichts ahnen, denkt Iris. Wie lange mag sie schon in dieser ­Umgebung wohnen?

»Schon lange«, beantwortet die Kleine ihre Frage. »Bestimmt zwei Jahre. Nachdem der Papa nicht mehr da war, sind wir hierher gezogen. Meine Tante wohnt auch hier im Haus, mit Samira und Yasmin. Das ist gut, ich kann sie besuchen, wenn Mami arbeitet. Früher war sie immer zu Hause, aber jetzt ist sie Tänzerin. Ganz in der Nähe. Sie ist wunderschön und hat wunderschöne Kostüme.«

Wunderschöne Kostüme? Merkwürdig. Hier im Bahnhofsviertel sind Kostüme doch eher überflüssig. Um was für eine Art von Tanz mag es sich wohl handeln? Vielleicht bekommt sie es ja heraus, ohne direkt nachzufragen.

»Wie dumm von mir, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich arbeite …«

»Bei der Polizei, ich weiß. Können Sie mir mal Ihren Ausweis zeigen, ich habe so was noch nie gesehen.«

Mit großem Ernst studiert sie das Dokument von beiden Seiten. »Iris Kirchner, ein schöner Name. Passt gut zu Ihnen.«

»Du kannst mich Iris nennen, wenn du möchtest. Sagst du mir auch deinen Namen?«

»Aisha«, kommt die bereitwillige Antwort, »Aisha Gülen, aber ich bin in Frankfurt geboren.«

»Warum aber? Ganz viele Menschen, deren Eltern von weit her zugereist sind, sind hier geboren.«

»Weil der Name nicht hierher passt. Ich mag ihn auch nicht besonders. Ich würde lieber Marie oder Sofia oder Emma heißen wie die Mädchen in meiner Klasse, aber Mami sagt, er sei was ganz Besonderes und ich soll stolz auf ihn sein.«

»Da hat deine Mami aber ganz recht. Er ist wirklich etwas Besonderes. Auf welche Schule gehst du denn?«

»Auf die Kant-Schule.«

»Aber das ist doch die Privatschule am Holzhausenpark. Ganz schön weit weg.«

»Ja.« Aisha nickt. »Jetzt schon, aber früher haben wir in der Nähe gewohnt. Mami wollte, dass ich dort bleibe.«

»Und du?«

»Ich auch. Meine ganzen Freundinnen gehen da hin, obwohl sie nicht mehr zu mir kommen können. Mami will das nicht, aber ich darf sie besuchen und zu meinem Geburtstag irgendwohin einladen.«

Iris überlegt. Ein sozialer Abstieg also, der kaschiert werden soll, damit dem Kind keine Nachteile entstehen. »Und was sagt dein Papa dazu?«

Aishas Gesicht verdüstert sich. »Er ist im Paradies. Ich soll deswegen nicht traurig sein, sagt Mami immer, es wäre sehr schön da und er würde auf uns aufpassen, aber ich hätte ihn lieber bei uns.«

»Ja, das verstehe ich. Mir ging es genauso, als mein Vater starb, obwohl ich schon viel älter war als du. Und deine Mami muss nun allein für euch beide sorgen?«

Aisha nickt. »Sie tanzt. Und viele Frauen tanzen mit ihr. Aber nicht alle sind so schön wie Mami. Es sind auch ziemlich alte dabei und auch hässliche.«

Alte, hässliche? Wie passt das denn nun zusammen? Alte und hässliche Frauen bekommen doch normalerweise kein Engagement als Tänzerin. »Dann bist du abends wohl oft allein zu Hause?«

Ein erstaunter Blick trifft sie. »Nein, wieso? Abends ist Mami immer daheim. Es dauert nicht mehr lange, bis sie kommt.«

Das wird ja immer komplizierter! Iris beschließt, die Angelegenheit zunächst auf sich beruhen zu lassen und zum Ausgangspunkt zurückzukommen. »Du hast also nichts Besonderes bemerkt heute früh zum Beispiel?«

»Nein.«

»Und gestern?«

»Gestern auch nicht.« Sie zögert einen Moment. »Aber in der Nacht fuhr ein Auto rein. Das passiert nicht so oft.«

Iris ist ganz Ohr. »Um wie viel Uhr war das?«

»Ziemlich spät. Ich bin dauernd wach geworden, weil Sam noch nicht da war. Ich hatte Angst, dass ihm etwas passiert ist, aber dann habe ich ihn gehört.«

»Und du bist aufgestanden, um das Fenster zu öffnen?«

»Ja, und da fuhr das Auto in den Hof.«

»Hast du das Kennzeichen gesehen?«

»Nein, es war zu dunkel und ich habe auch nicht darauf geachtet.«

»Und was geschah dann?«

Aisha hebt bedauernd die Achseln. »Weiß ich nicht. Ich war so froh wegen Sam. Ich habe ihn nur reingelassen und bin dann wieder ins Bett.«

»Weißt du, was das für ein Auto war?«

»Nicht genau, aber es war ein SUV, dunkel, ziemlich groß. Er passte gerade so durch die Einfahrt.«

»Bist du mit dem SUV sicher? Kennst du solche Fahrzeuge?«

»Klar, mit denen holen doch die meisten Mütter ihre Kinder von der Schule ab. Aber bei der Marke bin ich mir nicht ganz sicher, vielleicht ein Honda.«

Na bitte, freut sich Iris, das ist doch schon mal ein Anfang. Eine Spur haben wir jetzt. In der Nacht könnte die Leiche durchaus abgelegt worden sein.

»Du hast mir wirklich sehr geholfen«, bedankt sie sich bei Aisha und legt ihre Visitenkarte auf die Fensterbank. »Falls dir noch etwas einfallen sollte. Du kannst mich immer über diese Telefonnummer erreichen. Und grüß deine Mami von mir. Auch sie kann mich jederzeit anrufen.«

»Ich sag’s ihr. Und auch, dass Sie nett sind. Und hübsch. So blaue Augen hätte ich auch gern«, fügt sie bedauernd hinzu, »dann sähe ich aus wie die anderen.«

Ermutigt von ihrem Erfolg beschließt Iris, die Befragungen fortzusetzen. Jedes Stockwerk hat drei Wohnungen. In den beiden anderen Erdgeschosswohnungen meldet sich niemand, aber ihr Klingeln im ersten Stock hat Erfolg. Laut Türschild wohnt hier »Charlotte de Montfort (Inge Stark)«. Stark ist auch der erste Eindruck. Und ziemlich bunt. Die orangefarbenen Haare der fülligen Dame quellen in üppigen Locken aus einem kunstvoll drapierten, türkisblauen Turban hervor. Eine Art Kaftan, grün mit goldenen Bordüren, reicht fast bis zu den Füßen, die Mitte umschlingt eine violette Schärpe mit gelben Fransen. Der ziemlich enge Flur ist in sanftem Gelb gehalten, aus der halboffenen Tür an seinem Ende dringen schwebende Sitartöne und ein Duft von Sandelholz.

»Ich dachte schon, Sie kämen gar nicht mehr«, wird Iris in einem tiefen, weichen, wohlklingenden Alt gegrüßt, das so gar nicht zu der grellen Erscheinung passen will. »Sie hätten anrufen sollen, dass Sie sich verspäten, denn es ist schwierig, die Konzentration der vorbereitenden Meditation aufrechtzuerhalten. Aber gut, jetzt sind Sie ja da, wir wollen nicht noch mehr Zeit verlieren.«

Hier läuft etwas schief. Anscheinend liegt eine Verwechselung vor. Iris zieht ihren Ausweis. »Ich fürchte, dass ich nicht der erwartete Gast bin. Mein Anliegen ist dienstlich. Wir müssen alle Anwohner befragen, ob ihnen etwas aufgefallen ist.«

»Aufgefallen? Was sollte mir denn aufgefallen sein?«

Iris mustert ihr Gegenüber erstaunt. »Es geht um die Leiche im Container. Wir wollen erfahren, ob jemand eine Beobachtung gemacht hat.«

»Welche Leiche in welchem Container?«

»Wollen Sie sagen, dass Sie von dem ganzen Trubel nichts mitbekommen haben? Im Altpapiercontainer des Hinterhofs wurde ein Toter gefunden.«

Ein entschiedenes Kopfschütten ist die Antwort. »Meine Fenster gehen nach vorn. Und wissen Sie was: Irgendwo ist hier immer Trubel. Wenn ich mich jedes Mal darum kümmern würde, hätte ich viel zu tun.«

»Vielleicht Ihre Mitbewohnerin? Mit wem habe ich eigentlich das Vergnügen, Charlotte de Montfort oder Inge Stark?«

Ein tiefes, glucksendes Lachen. »Mit beiden. Wir sind nämlich ein und dieselbe Person. Die Montfort war ich früher, jetzt bin ich eben die Stark und im nächsten Leben wer weiß wer.«

Oh je, das kann schwierig werden. Zumindest sind Zweifel angebracht, ob der Dame nicht eine Tasse im Schrank fehlt. Iris denkt einen Moment daran, das Gespräch zu beenden, wird aber von Frau Stark mit dem Hinweis überrascht, dass sie ihr vielleicht trotzdem helfen könne. Für ihren Gast sei es jetzt ohnehin zu spät, selbst wenn er noch käme, würde sie ihn nicht mehr empfangen. Sie habe also etwas Zeit für eine Tasse Tee und eine kleine Unterhaltung.

Warum nicht? Neugierig ist Iris schon und man weiß ja nie, ob sich nicht doch noch ein Steinchen für das Mosaik findet. Also akzeptiert sie dankend und folgt Frau Stark. Der dezente, warme Farbton des Flurs findet sich auch im Wohnzimmer, allerdings weder die Quelle der Musik noch des Duftes. Auch die gesamte Erscheinung von Frau Stark wirkt in dieser Umgebung mit dem modernen Mobiliar merkwürdig deplatziert. Diese hat offenbar die Überraschung ihres Gastes gespürt und deutet auf ein Sofa. »Setzen Sie sich doch bitte. Sie überlegen gerade, wie das alles zusammenpasst. Habe ich recht?«

»Stimmt. Sieht man es mir an?«

»Überhaupt nicht. Ein Pokergesicht ist nichts gegen das Ihrige. Das bringt der Beruf wohl mit sich. Nein, ich kann Gedanken lesen.«

Iris zieht die Brauen hoch. »Tatsächlich?«

Wieder dieses glucksende Lachen. »Tatsächlich. Nicht immer, aber ziemlich oft, wenn ich mich entsprechend konzentriere. Bei Ihnen ist es allerdings nicht schwer, da brauche ich nur eins und eins zusammenzählen. Zwischen meinem Aussehen und der Umgebung besteht eine Diskrepanz. Und das gibt Ihnen zu denken.«

»Stimmt. Würden Sie mir den Grund dafür verraten?«

»Ganz einfach. Ich habe jemanden erwartet, der erwartet, dass ich so aussehe, wie ich jetzt aussehe. ­Wissen Sie, manche Menschen verbinden ein bestimmtes Erscheinungsbild mit einer Wahrsagerin.«

Sie blickt zu Iris, die jedoch keine Miene verzieht. »Ich sage Wahrsagerin, weil diese Menschen mich so bezeichnen und für sie bin ich in dieser Aufmachung einfach glaubwürdiger. Meine Klientin, die hätte kommen sollen, gehört dazu und wäre auch in ein Zimmer geführt worden, das ihren Vorstellungen entspricht.«

Eine gewiefte Scharlatanin, denkt Iris, eine, die ihr Handwerk versteht, die genau weiß, wie sie vorgehen muss, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

»Sie halten mich für eine Betrügerin, ich spüre es deutlich, aber ich sage Ihnen, so ist das nicht. Mir wurde die Gabe in die Wiege gelegt, hinter das zu schauen, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, denn hinter unserer Realität existieren andere Welten. Mit Hilfe von Konzentration und Meditation kann ich sie betreten, Zusammenhänge herstellen, die sonst im Verborgenen blieben und Menschen, die sich mir anvertrauen, beim Bewältigen von Lebenskrisen helfen. Wie gesagt, vielleicht kann ich auch Ihnen bei der Aufklärung des Verbrechens helfen. Wenn Sie möchten, werde ich mich damit beschäftigen.«

Du lieber Himmel! Auf was hatte sie sich da eingelassen? Diese Frau scheint wirklich von ihren Fähigkeiten überzeugt zu sein, wohingegen Iris mehr denn je davon überzeugt ist, dass es bei ihr wohl nicht ganz richtig tickt. Ihr Besuch war anscheinend verlorene Zeit. Sie beschließt, dem Gespräch ein Ende zu machen, bedankt sich höflich für das überaus freundliche Angebot, lässt ihre Karte zurück und ist froh, als die Wohnungstür hinter ihr zufällt.

Bei den zwei anderen Wohnungen hat sie ebenfalls keinen Erfolg. Es scheinen auffallend wenige Bewohner zu Hause zu sein oder man hat kein Interesse, Besuch zu empfangen. Auf der Treppe zum nächsten Stock bemerkt sie ein leises Zischen und schaut sich irritiert um. Nichts, was für das Geräusch verantwortlich sein könnte. Ihr Blick fällt auf den weiß lackierten, geschlossenen Schacht in der Mitte des Treppenhauses, dem sie bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie legt die Hand daran. Kein Zweifel, da ist ein leichtes Vibrieren. Was könnte das sein? Ein Versorgungsschacht vielleicht? Aber für was? Merkwürdig, notiert sie im Geist, das muss ich Thomas erzählen.

Im dritten Stock öffnet ein alter Mann, unsicher auf seinen Stock gestützt. Ein riesiger Hund drängt sich an ihm vorbei und knurrt Iris warnend an, woraufhin diese sofort respektvoll einen Schritt zurück tritt. Es dauert eine Weile, bis der Mann ihr Anliegen verstanden hat, denn mit seinem Hörgerät kommt er nicht zurecht. Es pfeife. und sei schon ein paar Mal neu eingestellt worden, ohne jeden Erfolg. Es müsse halt ohne gehen. Nein, er habe nichts bemerkt, das weiterhelfen könnte. Das Schlafzimmer gehe zwar nach hinten, aber trotz seines schlechten Gehörs müsse er Ohrstöpsel nehmen, weil seine Frau so schnarche. Die sei einkaufen, jetzt wo der Ansturm auf die Geschäfte vorbei sei, aber mitbekommen von dem Mord habe sie bestimmt nichts, sonst wüsste es schon die ganze Nachbarschaft.

In den beiden anderen Wohnungen rührt sich wiederum nichts. Das scheint eine magere Ausbeute zu geben und bedeutet einen weiteren Besuch am nächsten Tag. Im vierten Stock wird die Tür von einer hübschen Frau um die vierzig geöffnet, die ihr Kopftuch zurechtzieht. Kinderlachen dringt aus der Wohnung und gleich da­rauf erscheint ein Mädchen neben ihrer Mutter.

»Frau Yilderim«, Iris hat vorher das Türschild mühsam entziffert, »ich bin von der Polizei.« Sie streckt ihr den Ausweis entgegen. »Es geht um den Vorfall in Ihrem Hof. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Fragen Sie lieber mich.« Die Kleine drängt sich in den Vordergrund. »Mama spricht nicht so gut Deutsch. Ich kann ihr aber übersetzen.«

Die Frau nickt. »Samira, meine Tochter.«

»Samira, das ist aber schön, dich zu treffen, und das«, sie deutet auf das andere Mädchen, welches gerade hinzukommt, »ist bestimmt Yasmin.«

»Woher wissen Sie das?« Ein erstaunter, aber auch vorsichtiger Blick gleitet über die Polizistin.

»Keine Zauberei. Ich kann nicht wahrsagen. Aisha hat mir von euch erzählt. Bei der war ich nämlich schon.«

Samira kichert. »Und Sie waren auch bei Charly.«

»Charly, wer ist das denn?«

»Na Charlotte und Inge, wir sagen Charly zu ihr. Sie macht uns manchmal einen Tee. Sie ist sehr nett. Und sie weiß eine Menge.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, wer mein Fahrrad geklaut hat. Nicht den Namen, aber wie er aussieht. Und dann habe ich ihn auf der Straße wiedererkannt. Ich bin ihm nachgegangen und als er sich in ein Café setzte, hab’ ich einen Polizisten angesprochen. Die gehen hier rum.«

»Und?«

»Er hat gefragt, ob ich sicher wäre und da hab’ ich ja gesagt, weil Charly ihn ja genau beschrieben hat. Aber er hat gesagt, da kann man nichts machen, wenn ich ihn nicht selbst gesehen hätte. Und dann noch, ich soll nicht einfach jemanden verdächtigen, nur weil eine Spinnerin mir diese Idee in den Kopf gesetzt hätte. Aber Charly ist keine Spinnerin. Sie hat auch gesagt, dass Papa wieder zurückkommen würde und dann war er auch wieder da. Mama hat viel geweint in dieser Zeit, aber jetzt ist alles wieder gut.«

»Und wo ist dein Papa jetzt?«

»Noch bei der Arbeit, aber er muss bald kommen.«

»Aisha wartet auch auf ihre Mama.«

»Ja, die kommt auch ungefähr um diese Zeit. Manchmal etwas früher, manchmal etwas später, je nachdem, wie viele da sind.«

Das ist die Chance, Näheres zu erfahren. »Was macht sie eigentlich genau?«

»Hat Aisha Ihnen das nicht erzählt? Sie hat eine Schule für Bauchtanz. Sie kann das nämlich ganz toll. Hat sie von unserer Oma gelernt. Mama auch, aber sie darf das nicht machen. Papa sagt, was er verdient, reicht für uns.«

Na, die Lösung des Rätsels ist ja doch ziemlich unspektakulär, darauf hätte sie auch selbst kommen können. Zwar ist ihre Neugier befriedigt, aber zur Lösung des Falles hat dieses Gespräch nichts beigetragen und auch die weitere Befragung ergibt keine neuen Erkenntnisse. Es ist wohl am besten, ins Präsidium zurückzukehren und ein Protokoll anzufertigen, solange noch alles frisch und präsent ist.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen, der gleich um die Ecke geparkt ist, kommt Iris ein junger Mann entgegen, breit grinsend, mit wiegenden Hüften und berührt leicht ihre Schulter. Automatisch zieht sie die Tasche eng an sich. Nordafrikaner, ist sie sich sicher. ­Antänzer. Entweder will er Geld oder Handy oder beides. Er will anscheinend beides, denn als er merkt, dass sie sich nicht irritieren lässt, geht er sofort aufs Ganze und versucht, die Tasche an sich zu reißen. Offenbar erwartet er keinen Widerstand von einer kleinen, zierlichen Person. So nicht mein Lieber, denkt Iris, diesmal hast du dich verrechnet. Sie packt seinen Arm, zieht ihn zu sich und bringt ihn mit einem Schulterschwung mühelos zu Boden. Dort dreht sie den Arm auf den Rücken, kniet sich auf ihn und ruft Verstärkung. Mittlerweile sind Passanten stehengeblieben, ohne Anstalten zu machen, ihr zu helfen, obwohl sie ihre Marke gezogen hat. Im Gegenteil, drei weitere junge Männer, offenbar Freunde des am Boden Liegenden, überqueren die Straße mit drohendem Gesichtsausdruck. Die Sache wird mulmig. Ohne lange zu überlegen zieht Iris die Waffe und richtet sie auf die Näherkommenden. »Sofort stehenbleiben! Polizei. Ich ziele auf die Beine. Sollten Sie sich bewegen, kann ich für nichts garantieren.«

Niemand regt sich. Die Szene ist wie festgefroren. Wahrscheinlich vergeht keine Minute, aber Iris kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis sie das Martinshorn und gleich darauf hastige Schritte hört. Zwei Kollegen der Streife sind eingetroffen und nur kurze Zeit später hält auch ein Mannschaftswagen der Polizei.

Iris ist froh, dass die Sache so glimpflich verlaufen ist, macht sich aber keine Illusionen über den Ausgang der Sache. Ein paar Stunden später werden alle wieder auf freiem Fuß sein und ihren Geschäften nachgehen. Das ist gang und gäbe, treibt viele der Kollegen, die im Bahnhofsviertel Dienst tun, zur Verzweiflung. Dealer, vor allem aus Nordafrika und zu einem hohen Prozentsatz Asylbewerber, verkaufen in aller Öffentlich­keit ihre Drogen, begehen Taschendiebstähle, ­Körperverletzungen, werden festgenommen und stehen wenig später wieder am gleichen Platz. Das Misstrauen der Ordnungshüter gegenüber der Justiz nimmt immer größere Ausmaße an. Die einen fühlen sich allein­gelassen, die anderen sind chronisch überlastet durch Stellenabbau und immer mehr Bürokratie, sehen zudem oft keine gesetzliche Handhabe, strenger vorzugehen. Da braut sich einiges an Konflikten zusammen.

Zurück im Präsidium holt Iris sich einen Kaffee und startet den Computer. Ihr persönliches Postfach enthält eine Nachricht von Jenny: »Ich muss mit dir sprechen. Komm bitte nicht zu spät.«

Das klingt ziemlich dringend. Augenblicklich beschließt Iris, das Protokoll auf später zu verschieben. Sie hat Herzklopfen und Pudding in den Knien. Offensichtlich ist ihre Freundin zu einer Aussprache bereit. Die schlimmsten Befürchtungen schießen ihr durch den Kopf. Jenny hat jemand Neues gefunden und will die Trennung. Jenny hat die Diagnose einer gefährlichen Krankheit erhalten. Jenny kommt mit ihrem Studium nicht zurecht und will abbrechen oder sich einen neuen Platz im Ausland suchen.

Sie findet ihre Gefährtin im Bett, zwar blass, aber mit einem Buch in der Hand. Iris atmet auf. So dramatisch kann die Situation also nicht sein, wenn sie sich für Lesestoff interessiert. Als sie allerdings den Titel sieht, kehren ihre Befürchtungen zurück: »Das tibetanische Totenbuch.« Sie setzt sich auf die Bettkante. »Was ist passiert?« Nur ein Blick von unten herauf, keine Antwort. Iris nimmt die Hände ihrer Freundin. »Bitte sag mir, was los ist, ich muss es wissen. Wenn es mit mir zusammenhängt …«

»Nein, nicht mit dir. Oder doch, irgendwie. Du wirst es mir sowieso nicht verzeihen.«

»Ich glaube kaum, dass es etwas gibt, das unverzeihbar wäre. Ich dachte, du vertraust mir.«

Wieder dieser Blick. »Ja, natürlich.«

»Also los, dann lass es raus.«

»Ich habe noch mal mit Gernot geschlafen. Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Du weißt ja, wie schlecht es ihm damals ging. Er konnte es einfach nicht ­verkraften, dass ich ihn verlassen habe und schon gar nicht wegen einer Frau. Er rief immer mal wieder an, fragte, wie es mir ginge, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sich alles nur als Irrtum herausstellen würde. Vor ein paar Wochen ließ ich mich darauf ein, ihn zu besuchen, um noch einmal über alles zu sprechen. Das war einer der Abende, wo ich wusste, dass du lange arbeiten musst. Wir haben ein paar Gläser Wein getrunken und er war so ­wahnsinnig unglücklich, fing an zu weinen. Ich nahm ihn in den Arm, um ihn zu trösten. Bis heute weiß ich nicht genau, wie es dazu kam, aber es passierte eben. Ich bin dann weg, sagte ihm vorher, dass ich die Sache bereue und er sich keine weiteren Hoffnungen mehr machen solle.«

Iris zögert einen Augenblick. »Na ja, begeistert bin ich nicht grade, Offenheit wäre mir lieber gewesen.«

»Zuerst wollte ich es dir ja auch sagen, habe mich aber nicht richtig getraut und es immer vor mir hergeschoben. Und dann ging es gar nicht mehr.«

Iris hebt die Augenbrauen.

»Ich wurde an diesem Abend schwanger.«

Jetzt allerdings verschlägt es ihr die Sprache. Schwanger. Von ihrem Ex. Das hat grade noch gefehlt! Sie versucht, sich das künftige Leben zu dritt vorzustellen, aber es will ihr nicht gelingen.

»Kamst du denn nicht auf die Idee, zu verhüten?«

»Nein, kam ich nicht. Weißt du, wir haben nie verhütet.«

Iris ist verblüfft. »Aber warum denn nicht?«

»Ich hatte dir ja gesagt, dass Gernot ein ganzes Stück älter ist als ich. Seine frühere Freundin wünschte sich ein Kind und er war damit einverstanden. Es klappte aber nicht. Also beschlossen sie, der Sache auf den Grund zu gehen und es stellte sich heraus, dass der größte Teil von Gernots Spermien nicht lebensfähig ist und eine Schwanger­schaft an ein Wunder grenzen würde. Seine Freundin wurde tatsächlich in den sechs Jahren ihrer Beziehung nicht schwanger und ich glaube, dass dies auch der Trennungsgrund war. Als wir uns kennenlernten, verheimlichte er die Geschichte nicht und ehrlich gesagt war ich nicht unglücklich darüber. Ein Kind kam für mich zu dem damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht in Frage und ich war froh, nicht die Pille nehmen zu müssen.«

»Aber jetzt hat sich das geändert?«

Jenny schüttelt den Kopf. »Nein. Ich bin mit dir glücklich, so wie es ist und über den Nachwuchs musst du dir auch keine Gedanken mehr machen.«

»Du hast abgetrieben?«

»Ja, heute. Und die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen. Den Ausschlag gab der Befund, dass aufgrund einer Beckenfehlstellung die Schwangerschaft mit großen Risiken behaftet sei und damit die Indikation zum Abbruch vorläge.«

»Aber warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?«

»Ich wollte dich nicht damit belasten und denke auch, dass es gut so war. Damit musste ich allein klar kommen.«

Beide schweigen eine Weile und hängen ihren eigenen Gedanken nach. Dann zieht Iris ihre Freundin an sich. »Wie konntest du nur glauben, dass ich dir nicht verzeihen würde? So oder so, auch bei der Entscheidung, das Kind zu behalten, hätten wir eine Lösung gefunden. Wichtig ist doch, dass wir einander lieben und zusammen bleiben wollen. Alles andere ist sekundär. Eins möchte ich aber noch wissen: Wieso das tibetanische Totenbuch?«

»Um Abschied zu nehmen. Dort stehen Worte, die den Verstorbenen auf dem Weg ins Jenseits begleiten und vor Gefahren schützen. Es ist mir ein Trost, sie zu lesen.«

Ewige Stille

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