Читать книгу Kinder des Zufalls - Astrid Rosenfeld - Страница 8

4 Schiffe

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Wenn Collin abends ins Hotel fuhr, lud Ozzy Charlotte manchmal in den Bungalow ein. Seine Drinks waren stark, das Radio bis zum Anschlag aufgedreht. Viel hatten sich die beiden nicht zu sagen. Die Musik übertönte ihr Schweigen, und der Alkohol lockerte die Stimmung.

Warum Ozzy sie überhaupt einlud, blieb Charlotte bis zu jenem Abend ein Rätsel.

»Muss mal kurz raus«, sagte er, während Charlotte, vom Whiskey benommen, auf dem Sofa saß.

Jedes Mal verschwand er eine Weile, und jedes Mal wunderte sie sich. Doch die Verwunderung hielt nur einen Wimpernschlag lang. Ozzys Drinks machten sie gleichgültig und vergesslich.

»Bin gleich wieder da«, sagte er.

Charlotte nickte, die Augen halb geschlossen. Ihr Magen krampfte, die Knie zitterten. Jameson und frittierte Hühnerbeine stiegen in ihr hoch. Und Erinnerungen an ihr altes Leben in Deutschland. Sie würgte.

»Ozzy?« Aber Ozzy war schon aus der Tür und Petula Clarks Downtown zu laut, als dass er Charlotte noch hätte hören können. Dunkelbraun platschte es auf den hellbraunen Kachelboden.

»Ozzy?«, rief sie noch einmal.

Sie stand auf, stolperte zur Tür, öffnete sie. Kühle Nachtluft füllte ihre Lungen. Sie setze einen Fuß vor den anderen. Fünfzehn Schritte bis zur Garage. Auf halber Strecke blieb sie stehen. Ein Auto parkte vor dem geöffneten Tor. Den Wagen kannte sie nicht, auch nicht die zwei Männer, die mit Ozzy und einem Seesack aus der Garage kamen. Das schwere Gepäckstück – alle drei mussten anpacken – wurde im Kofferraum verstaut. Schulterklopfen, gedämpfte Stimmen. Einer der Männer gab Ozzy ein Papierbündel, das er in seine Hosentasche stopfte. Das hier war nicht für Charlottes Augen bestimmt.

Alle Benommenheit wich aus ihrem Körper. Sie lief zurück in den Bungalow und holte einen Lappen aus der Küche. Als Ozzy wiederauftauchte, wischte sie gerade den Boden.

»Was machst du da?«, fragte er und stellte das Radio ab.

»Ist einfach rausgekommen.«

Er kniete sich neben sie. »Setz dich aufs Sofa«, sagte er und nahm ihr den Lappen aus der Hand. »Ozzy macht das schon. Bin doch ’n netter Kerl.«

»Wo warst du?«, fragte sie.

»Wo ich war? Draußen.«

»Und was hast du draußen gemacht?«

Er schaute sie nicht an. »Kann nicht die ganze Zeit stillsitzen, weißt du? Ist so ’n Tick. Ozzys Beine müssen zappeln.« Er hielt den Lappen hoch. »Verträgst nicht viel, was?« Ein aufgesetztes Lachen.

Ruckartig erhob er sich und marschierte in die Küche, Charlotte folgte ihm. Er drehte den Wasserhahn auf, hielt den verdreckten Lappen unter den Strahl.

»Danke«, sagte Charlotte.

»Danke für was?«

»Danke, dass du das aufgewischt hast.«

»Kein Problem. Hab doch gesagt: Ozzy ist ’n netter Kerl.«

»Und danke, dass ich hier wohnen darf.«

Er sagte nichts. Charlotte zog ihn an sich. Ihre Hände fuhren über seinen Körper, ihre Lippen küssten seinen Hals.

Fast hätte er sich gehen lassen. Doch dann stieß er sie weg. »Hör mal«, sagte er in ungewohnt ernstem Ton, »ich hab schon mit Collin geredet. Du kannst hier nicht bleiben. Ich meine …«

Sie lächelte. »Stör ich dich?«

»Was«, er zuckte zusammen, »was redest du da? Was …«

»Na ja«, sagte sie.

»Und was soll das heißen: ›Na ja‹?«

»Na ja heißt na ja.«

Unsanft packte er sie an den Armen. »Wenn du es genau wissen willst. Ja, du störst. Du störst Ozzy gewaltig.«

Mit einer schnellen Bewegung befreite sich Charlotte aus seinem Griff. »Dann gute Nacht«, sagte sie. »Ich will nicht länger stören.«

Ihr Herz schlug schnell. So schnell. Sie lief in die Garage, nahm ihren kleinen Koffer. Viel Zeit würde ihr nicht bleiben. Bald würde Ozzy bemerken, was ihre streichelnden Hände getan hatten.

Sie rannte den Hollywood Boulevard ostwärts.

Straßen, fremd und vertraut. »Verweile nicht!«, rief der Asphalt. Hier darf man sich nicht ausruhen, sonst bleibt man für immer sitzen. Wie die alte Frau dort an der Ecke mit dem schmutzigen Gesicht und den zwei fadenscheinigen Decken. Niemand würde sie retten, und das bisschen Stoff würde sie nicht warmhalten.

Mir kann nichts passieren, dachte Charlotte, mir nicht.

Schneller bewegten sich ihre Beine, schneller schlug ihr Herz.

Als Charlotte die Lobby betrat, lief Collin ihr entgegen. Er sah blass aus. Nervös. »Was hast du getan? Was ist passiert?« Seine Hände wussten nicht wohin. Fuchtelten herum, streiften ihre Schultern, ihr Haar.

»Er war schon hier?«, fragte sie in ruhigem Ton und nahm Collins Hände, hielt sie fest.

»Er sagt, er wird dich umbringen. Er … er sucht nach dir. Was hast du getan?«

Sie lächelte. »Wir müssen los.«

»Ich kann nicht einfach weg.«

»Und ob du kannst.«

Als sie das Hotel verließen, blickte Collin sich noch einmal um. »Hoffentlich springt niemand aus dem Fenster«, sagte er.

Charlotte ließ seine Hand erst los, als sie vor dem Station Wagon standen.

»Wohin?«, fragte er.

»Fort«, sagte sie.

Überfordert von den Möglichkeiten, entschied er sich für Zurück. Süden. Long Beach.

Charlotte erzählte ihm, was geschehen war.

»Irgendwas hat Ozzy verkauft, irgendwas versteckt er in der Garage. Leichen vielleicht.«

»Das hätten wir doch bemerkt«, sagte Collin.

»Ach ja und wie?«

»Leichen stinken. Und wer bezahlt schon Geld dafür? Und …«

»Dann etwas anderes, etwas Verbotenes. Deshalb wollte er, dass ich verschwinde. Deshalb hat er dir den Job als Nachtportier besorgt. Damit du ihm nicht in die Quere kommst.«

»Warum hat er mich dann überhaupt in der Garage wohnen lassen?«

»Falls … falls er erwischt wird von der Polizei oder … Na ja, dann kann er sagen: Gehört mir nicht, muss Collin gehören. Der wohnt schließlich hier.«

»Aber was denn?«

»Was immer er verkauft hat.«

»Das klingt verrückt«, sagte Collin.

Seufzend warf Charlotte ein dickes Bündel Scheine in seinen Schoss.

»Wir können machen, was wir wollen«, sagte sie. »Niemand sollte in einem Hotel arbeiten, in dem Menschen aus dem Fester springen.«

Collin blickte kurz auf das Geldbündel. »Wie viel ist das?«

»Hab nicht gezählt, aber schau doch, wie dick es ist. Alles Hunderter.«

»Hunderter«, wiederholte er tonlos.

»Freust du dich nicht? Also ich freu mich.«

Es war nicht das Geld selbst. Als junge Frau brauchte Charlotte keine teuren Kleider, kein luxuriös eingerichtetes Haus. Es war die Art und Weise, wie sie das Geld beschafft hatte, die sie berauschte.

»Was ist, wenn Ozzy uns anzeigt?«, fragte Collin.

»Wird er nicht.«

»Warum?«

»Du kapierst es nicht. Was immer Ozzy da verkauft hat. Es ist etwas Verbotenes. Er ist kriminell. Vielleicht sogar ein Mörder.« Sie lachte. »Ich dachte, du würdest dich freuen. Und jetzt verdirbst du alles.« Sie legte ihre Hand auf sein Knie. Die Wärme tat ihm gut.

Er kannte Charlotte nun seit einigen Wochen, wusste, wie sich ihre Haut anfühlte, ihr nackter Körper, wenn er neben ihr lag. Manche Nachmittage hatten sie am Meer verbracht. Neun Mal hatten sie My Fair Lady im Kino gesehen. Charlotte hatte den Film ausgesucht.

An seinen freien Abenden waren sie durch die Bars und Clubs am Sunset Boulevard gezogen. Obwohl Charlotte sich auf der Tanzfläche im Rhythmus der anderen bewegte, ging sie nie in der Menge unter.

Charlotte ließ sich nicht fassen. Auch die Geschichten, die sie Collin über ihr altes Leben in der alten Welt erzählt hatte, machten sie nicht greifbarer. Eine Stadt namens Heidelberg, Helga, die Haushälterin, der amerikanische Offizier. Ein Japaner, der wunderschön Flöte spielen konnte. Sie war auf einem Schiff gekommen, und jetzt saß sie neben ihm. Die Furcht, sie könnte einfach verschwinden, verließ Collin nicht.

»Versuch doch wenigstens, dich ein bisschen zu freuen«, sagte sie. Ihre Hand ruhte noch immer auf seinem Knie.

Er nickte. »Ja, ich freue mich«, sagte er. Dann lauter und enthusiastischer: »Ich freue mich!«

Wenig später erreichten sie das Haus seiner Kindheit. Die Wohnung, in der sein Vater und die Großmutter lebten.

»Wo sind wir?«, fragte Charlotte, als Collin vor dem Gebäude parkte. Obwohl Long Beach weniger als eine Autostunde von Los Angeles entfernt lag, hatte Collin seinen Vater und die Großmutter nur selten besucht. Jahre waren vergangen. Das letzte Mal war das Haus noch weiß gewesen, jetzt war es hellblau.

Fast Mitternacht. Die Haustür stand offen. Dritte Etage. Collin hoffte, dass der Vater zu Hause sein würde, denn die verrückte Polin würde nicht – konnte nicht – öffnen.

»Wir bleiben eine Nacht. Morgen überlegen wir weiter«, sagte er zu Charlotte. »Hier kann uns keiner klauen.«

Er klopfte. Die Klingel hatte noch nie funktioniert.

»Wer da?«, rief Donald Miroslaw Goodwin durch die verschlossene Tür.

»Ich bin’s.«

Die Tür ging auf.

»Collin«, sagte Donald. »Du …? Und wer …?«

»Das ist Charlotte.«

Donald schüttelte ihr die Hand. »Charlotte. Sehr schön. Sehr schön«, sagte er und verbeugte sich, ohne ihre Hand loszulassen.

»Hallo«, sagte Charlotte und löste ihre Hand aus seinem Griff.

»Können wir heute Nacht hier schlafen?«, fragte Collin.

»Selbstverständlich. Kommt rein. Kommt rein.«

Die Wohnung roch nach Männerschweiß und Chili.

Agnieszka stand im Wohnzimmer. In ihrem bodenlangen Nachthemd und mit den weit aufgerissenen Augen sah sie aus wie die Insassin einer Irrenanstalt eines längst vergangenen Jahrhunderts.

»Geh ins Bett«, sagte Donald.

»Du Pole«, sagte sie und zeigte auf Charlotte. »Du Pole.«

»Ich?«, fragte Charlotte.

»Du Pole. Ich Pole.«

Charlotte lächelte. »Nein. Ich bin keine Polin.«

»Du Pole. Ich Pole«, wiederholte die Alte. »Du Pole. Ich Pole.«

»Das reicht«, sagte Donald schließlich. »Geh ins Bett. Sofort.«

Agnieszka schnaufte verächtlich und ging in ihr Zimmer.

»Sie ist halbverrückt«, sagte Donald an Charlotte gewandt. »Leider.«

Donald bot alles auf, was der bescheidene Haushalt hergab. Ein paar Flaschen Bier. Ein Glas Mezcal, den ein Kollege aus Mexiko mitgebracht hatte. Eine Schüssel Honey Comb mit Schokoladenmilch, aufgewärmtes Chili vom Vortag. Charlotte nahm alles, nur das Chili lehnte sie ab.

Während sie aßen und tranken, redete Donald ohne Unterlass. Er erzählte von Motoren und von einem anderen Kollegen, der seinen Bruder erschossen hatte. Er gab ein paar Witze zum Besten, über die er selbst am lautesten lachte. Berichtete, dass der Fernseher kaputt sei und dass er mit dem Rauchen aufgehört habe. Beinahe jedenfalls. Nur noch ein halbes Päckchen am Tag. Zwischendurch stellte er Fragen: Was Collins Job mache? Ob sie verlobt seien? Wie ihre Zukunftspläne aussähen? Sie hätten doch welche, oder? Die Antworten waren vage und knapp. Das schien ihn nicht zu stören. Er redete und fragte.

»Es tut mir leid. Ich bin schrecklich müde«, sagte Charlotte nach dem dritten Bier. Donald nahm es mit einem traurigen Nicken hin.

Collins Kinderzimmer war unverändert, aber nicht aus nostalgischen Gründen. Donald besaß nichts, was er dort hätte unterbringen wollen. Er brauchte kein Büro. Kein Gästezimmer. Er hatte keine Freunde oder Verwandten. Er hatte kein Hobby, das nach einem Werkraum verlangte.

Collin gab Charlotte ein Handtuch, zeigte ihr das Bad. Als sie zurückkam, in ihrem dunkelroten Negligé, saß er auf dem Fensterbrett. Ein Bein in der Freiheit.

»Es ist kalt«, sagte Charlotte.

»Alte Gewohnheit.« Er schloss das Fenster.

Eng aneinandergeschmiegt, lagen sie in dem schmalen Bett. Der Mezcal und die Aufregung der letzten Stunden versetzten Collin in einen tiefen Schlaf. Charlotte lag wach. Das Bier drückte ihr auf die Blase. Sie wartete, bis sie es nicht mehr aushalten konnte. Im Dunklen schlich sie ins Badezimmer. Knipste das Licht an. Sie pinkelte. Betätigte die Spülung. Charlotte betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Sie sah ihrer Mutter kein bisschen ähnlich. Und das ist gut so, dachte sie. Gerade als sie ihr Spiegelbild küssen wollte, öffnete sich die Tür. Agnieszka. »Schhh«, machte sie, legte ihre Finger auf den faltenumrahmten Mund. »Schhh!«

Charlotte nickte.

In der Hand hielt die Alte eine Fotografie.

»Ich Pole. Du Pole«, sagte sie leise und zeigte Charlotte das Bild. Schwarz-Weiß. Leicht verblasst. Eine junge Frau an Deck eines Schiffes. Lachend. Entschlossenheit in ihrem Blick.

»Ich«, sagte die Alte.

»Du?«, fragte Charlotte und betrachtete die Fotografie genauer. Sie konnte nicht glauben, wie hübsch diese runzelige Frau gewesen war.

»Ich«, bestätigte Agnieszka.

»Wir sind beide auf einem Schiff gekommen. Aber ich bin nicht aus Polen«, sagte Charlotte.

»Nein?«, fragte Agnieszka.

»Nein. Aber ich bin auf einem Schiff gekommen.« Charlotte betonte jedes Wort.

»Ja«, sagte die Alte. »Da!« Sie gab Charlotte das Bild.

Die beiden Frauen sahen sich an.

Einen Augenblick lang schien ein unsichtbarer Faden sie zu verbinden. Gesponnen aus den Träumen und Tränen, den Ängsten und Hoffnungen all ihrer Schwestern, die vor ihnen ein Schiff bestiegen hatten, die nach ihnen an Deck gehen würden.

Kinder des Zufalls

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