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5 Siebzehn Knochen
ОглавлениеCollin kauerte auf einer eisernen Pritsche. Die Tür war geschlossen. Abgesperrt. Von außen.
Er dachte an Charlotte, die irgendwo da draußen versuchte, einen Anwalt aufzutreiben. Sie würde es schaffen. Bald würde er wieder frei sein. Das war nicht das Ende ihrer Reise.
Eine Reise? Das Leben? Es hatte am Morgen nach ihrer Flucht begonnen.
Donald war bereits in der Werkstatt, als Charlotte und Collin aufwachten. Die verrückte Polin schlief noch.
In der Spüle leere Bierflaschen und schmutziges Geschirr. In der Luft der Geruch von Chili. Sie tranken Kaffee. Lächelnd hielten sie sich an ihren Tassen fest, warteten darauf, dass der andere etwas sagte.
»Und jetzt?«, fragte Charlotte. Genau das hatte Collin auch fragen wollen. Nun musste er antworten, sonst würde es nicht weitergehen.
»Wir sollten los«, sagte er. ›Los‹ klang gut.
Der Vergnügungspark The Nu Pike lag nicht weit von dem hellblauen Haus entfernt. Ein Plan musste geboren werden. Ein Kind, gemacht aus gestohlenem Geld, einem taubengrauen Station Wagon und, ja, aus Liebe. Ein solches Wesen konnte nicht an einem Küchentisch zur Welt kommen. Der Vergnügungspark mit seinen Achterbahnen, Zerrspiegeln und Snow Cones schien Collin der einzig angemessene Ort.
Das Karussell drehte sich im Kreis.
»Wir fahren einfach. Es wird sich schon alles finden«, rief Charlotte lachend. Auch Collin lachte und gab dem hölzernen Pferd die Sporen.
Sie fuhren die Küste entlang, von Süden nach Norden ins Landesinnere und dann von Norden nach Süden. Zurück zur Küste. Im Kreis. Die Grenzen Kaliforniens überquerten sie nicht. Collin war noch nie woanders gewesen. In Kalifornien fühlte er sich sicher.
Sie hatten Mammutbäume berührt und sich im Tal des Todes geliebt. Sie hatten Austern in San Francisco gegessen und Muscheln in San Diego gesammelt. Sie hatten den Big Bear Lake durchschwommen und die White Mountains gesehen. Bald würden in Stanislaus County die Mandelbäume blühen.
Es war Freitag, der 11. Februar 1966. Das Cover des Life Magazine zeigte zwei verwundete Soldaten. Der Kopf des einen bandagiert. Aufrecht sitzt er da. Das rechte Auge zum Himmel gerichtet. In seinem Schoß der bandagierte Kopf des anderen, der einen Becher oder eine Büchse in der Hand hält. Etwas Metallenes, etwas Blechernes.
Collin legte die Zeitschrift zu den zwei Colaflaschen und der Keksschachtel auf den Tresen, bezahlte und ging zum Auto.
»Schau mal«, sagte er, als er auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. »Sieht der nicht aus wie Bob?«
»Wer ist Bob?«, fragte Charlotte und warf einen flüchtigen Blick auf das Cover.
»Bob, der Marine. Die Nacht, in der wir uns kennengelernt haben.«
Charlotte öffnete die Kekse. »Ach, der«, sagte sie und schob sich einen Schokoladencookie in den Mund. »Weiß nicht. Kann sein, kann aber auch nicht sein.«
»Er sieht genauso aus«, sagte Collin bestimmt, dann stutzte er. »Aber das sind keine Marines. Er war doch ein Marine?«
»Was?«, fragte Charlotte.
»Bob war ein Marine, das hier sind Army-Soldaten. Die Uniform«, erklärte Collin.
»Dann ist er es eben nicht.«
»Aber die Ähnlichkeit ist so …«
»Es gibt Millionen Bobs. Können wir jetzt los?«
Normalerweise hätte Collin sofort den Wagen gestartet. Er fürchtete Charlottes Ungeduld. Nie zu lange bleiben, nicht zu viele Fragen stellen. Doch das Bild ließ ihn nicht los.
»Ist das ein Becher?«, fragte er und strich mit den Fingern über das Papier. Charlotte riss ihm die Zeitschrift aus den Händen, betrachtete die Abbildung genauer.
»Was der eine da in der Hand hält … Ist das ein Becher?«, wiederholte Collin seine Frage.
»Sieht aus wie ein Becher«, sagte sie und warf das Heft auf den Rücksitz. »Können wir jetzt?«
Collin startete den Wagen.
In Ceres, benannt nach der römischen Göttin des Ackerbaus, der Fruchtbarkeit und der Ehe, nahmen sie ein Zimmer in einem Motel. Einstöckig, beige gestrichen, ein leerer Pool.
Collin trug das Gepäck – Charlottes kleinen Koffer und seine schwarze Plastiktasche, die sie samt Inhalt noch in Long Beach gekauft hatten – ins Zimmer Nummer 19. Es roch nach Mottenkugeln.
Die Stadt gab nicht viel her. Sie aßen Burger in einem schmuddeligen Restaurant und fuhren mit brennenden Mägen zurück zum Motel.
Eine Laterne und die Neonreklame vor dem Gebäude tauchten alles in ein grellgelbes Licht. Sie saßen am Rand des Pools, ihre Beine baumelten in der Luft. Auf dem Grund des Beckens lag ein totes Eichhörnchen. Zertrümmert der kleine Schädel. Blutverkrustet das Bäuchlein.
»Ob es reingefallen ist?«, fragte Charlotte.
»Vielleicht«, sagte Collin.
»Wie lange es wohl schon dort liegt?«
Collin spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte, und zuckte bloß mit den Schultern. Bemüht, die feuchten Augen vor Charlotte zu verbergen, senkte er seinen Kopf.
»Ich finde, die Leute sollten es da rausholen. Macht hier denn keiner sauber?«
Als Collin nicht antwortete, sah sie ihn an, sah, dass er weinte.
»Was hast du denn?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht«, sagte er und wusste es wirklich nicht.
»Ist doch nur ein Eichhörnchen«, sagte Charlotte leise. Dann stand sie auf, um Zigaretten aus dem Zimmer zu holen.
Sie hatte erst vor kurzem angefangen zu rauchen. Eine Zigarette, fand sie, war ein hübsches Accessoire. Als junge Frau brauchte Charlotte keine Diamantringe, eine Lucky Strike Filter genügte völlig.
Sie kam zurück, zündete zwei Zigaretten an. Eine für Collin, eine für sich.
»Weinst du noch immer?«, fragte sie sanft und reichte ihm eine.
Collin schüttelte den Kopf. »Ist schon wieder gut.« Er dachte an den falschen Bob und seinen Kameraden auf dem Life Magazine. Ein verwundeter Soldat mit einem Becher in der Hand. Vielleicht hatte er, gleich nachdem das Bild entstanden war, einen Schluck getrunken, aber es sah aus, als ob er für immer durstig bleiben würde. Und dieses Gefühl der Endgültigkeit machte Collin traurig.
Charlotte schnippte ihren Zigarettenstummel in den Pool, vorbei am toten Tierchen.
»Was machen wir hier eigentlich?«, fragte sie und seufzte.
»Die Mandelbäume. Du wolltest die Mandelblüte sehen«, sagte Collin.
»Wollte ich das? Wann blühen sie denn?«
»Bald«, antwortete er.
»Eigentlich interessieren mich Mandelbäume nicht besonders. Ich meine, ich mag Bäume. Jeder mag Bäume …« Charlotte lehnte sich an ihn. »Lass uns verschwinden. Gleich morgen früh. Oder willst du warten, bis die Bäume blühen?«
»Nein«, sagte er und lächelte. Lächelte, weil er diese unfassbare Frau so sehr liebte.
Über fünfhundert Kilometer hatten sie an diesem Tag zurückgelegt. Charlotte hatte unbedingt und sofort zu den Mandelbäumen gewollt. Collin hatte ihr gesagt, dass sie noch nicht blühen würden. Sie wollte trotzdem – unbedingt und sofort.
Ihre Unbeständigkeit störte ihn nicht. Es war dieses Sehnen, das sie im Kreis fahren ließ. Und solange sie weiterfuhren, durfte Collin Nacht für Nacht neben Charlotte schlafen.
Die Sonne verschwand immer wieder hinter Schleierwolken. Vor ein paar Monaten waren sie schon einmal hier gewesen und hatten die einsame Bucht in der Nähe von Santa Barbara entdeckt. So musste sich Vasco Núñez de Balboa gefühlt haben, der erste Europäer, der den Pazifik sah.
Nackt waren Charlotte und Collin ins Wasser gesprungen, kreischend vor Glückseligkeit.
Jetzt waren sie zurückgekehrt, hatten ihren Felsen wiedergefunden. Eingewickelt in Decken, hockten sie auf dem Vorsprung.
»Es ist anders«, sagte Charlotte enttäuscht.
»Es ist nur kälter«, antwortete Collin.
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.«
Den Vorschlag, am Strand spazieren zu gehen, wies sie ebenso zurück wie seine Zärtlichkeiten. Und auch die Delfine, die nur wenige Meter von der Bucht entfernt im Wasser tanzten, heiterten sie nicht auf.
Charlottes Unzufriedenheit begleitete die beiden in ihr Motelzimmer.
»Mir ist eiskalt. Ich brauche ein Bad.« Türenknallend verschwand sie, türenknallend tauchte sie wieder auf. Und Collin fühlte sich schuldig. Schuldig, dass der Felsen seinen Zauber für Charlotte verloren hatte. Schuldig, dass sie fror. Schuldig, dass es nur eine Dusche und keine Badewanne gab.
Erst am Abend, als sie in einem überfüllten mexikanischen Restaurant Enchiladas aßen, hellte sich Charlottes Stimmung auf.
Die Rechnung lag auf dem Tisch. Collin zog das Portemonnaie aus der Hosentasche, doch Charlotte riss es ihm aus der Hand.
»Lass uns einfach gehen.«
»Was?«
»Ich zähle bis fünf, und dann gehen wir.« Ihre Augen leuchteten. »Ohne zu bezahlen«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
»Warum?«
Das Essen war billig, und sie hatten Geld.
»Eins. Zwei …«
»Charlotte, aber …«
»Drei …«
»Was ist, wenn …«
»Vier …«
Die leuchtenden Augen funkelten bedrohlich. »Fünf.«
Charlotte stand auf, er folgte ihr.
Draußen nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich, kreischend vor Freude.
Drei Tage später zwang sie Collin, in einem 24-Stunden-Diner aus dem Toilettenfenster zu klettern. Er gab nach, weil es sie glücklich machte. Ein Glück, das er nicht verstand. In Restaurants nicht zu zahlen, wurde Alltag. Und das galt auch für Tankstellen. Charlotte steckte ein, was sie in die Finger bekam. Schokoladenriegel, Bonbons, eine Sonnenbrille, eine Mütze, Kaugummis, Zeitschriften.
»Und?«, fragte sie.
»Ein bisschen zu groß«, sagte Collin.
Sie klappte die Sonnenblende runter und betrachtete ihr Spiegelbild. »Stimmt, zu groß.«
Der Strohhut flog auf die Rückbank. Dort würde er liegen bleiben, zwischen all seinen unbezahlten Brüdern und Schwestern, um später, wenn es zu viele geworden waren, in einer Mülltonne zu landen.
In Willits, Mendocino, entführte Charlotte einen schwarzen Mischlingshund. Sie stahl den Welpen aus einem geparkten Auto und erstickte Collins Protest mit einem einzigen Blick.
Der Hund winselte traurig in Charlottes Armen, als sie, nun zu dritt, Zimmer Nummer 27 betraten.
»Ich nenne dich Bibo«, sagte sie zu dem Hündchen. »Ich wollte schon immer einen Hund haben«, sagte sie zu Collin.
»Ich hätte dir einen gekauft. Aber der hier gehört doch jemandem. Der Hund will nach Hause.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Bibo muss sich nur an mich gewöhnen. Nicht wahr, mein Kleiner?« Charlotte liebkoste das Tier. Und während sie es mit Hot Dogs fütterte, sagte sie immer wieder: »Collin, ich liebe diesen Hund. Ich bin so glücklich.«
Noch ein Glück, das er nicht verstand, aber sehen konnte. Auf ihren Lippen, in ihren Augen. Ihr Glück machte ihn glücklich. Und da saßen sie, zwei glückliche Menschen und ein unglücklicher Hund.
Bibo lag am Fußende des Bettes und wimmerte die ganze Nacht. Als er sich im Morgengrauen auf der dunkelgrünen Decke erbrach, schnappte Charlotte sich das Tier. Barfuß, den Hund im Arm verließ sie das Zimmer. Wenig später kam sie zurück. Alleine.
»Wo ist er?«, fragte Collin.
»Wer?« Sie klang überrascht.
»Bibo.«
»Ach, Bibo«, sagte sie, »Ich habe ihn an der Rezeption abgegeben. Weißt du, eigentlich wollte ich immer einen Löwen haben.«
Und da begriff Collin, dass ein kleiner Hund Charlotte ebenso viel bedeutete wie eine mit Rentieren bestickte Wollmütze oder eine Tüte Karamellbonbons.
»Tu das nie wieder«, sagte er.
»Was soll ich nie wieder tun?«
»Der Hund …«, begann er.
Sie schüttelte lachend den Kopf. »Es war aufregend. Für ihn auch.«
»Nein, verdammt noch mal. Nein. Nein. Nein.« Noch nie hatte er Charlotte widersprochen.
Das Lachen verschwand aus ihrem Gesicht, doch schnell kehrte es zurück. »Ach, armer Collin, warum hast du nicht gleich gesagt, dass du Hunde nicht magst.«
Er gab auf, sie konnte oder wollte nicht begreifen.
Doch sein Nein zeigte Wirkung. In den folgenden Monaten stahl Charlotte nicht mal ein Päckchen Kaugummi. Sie mussten nicht mehr davonrennen oder aus Toilettenfenstern klettern. Etwas in ihr schien zur Ruhe gekommen zu sein.
In einem Lokal in Reedley endete die friedliche Zeit.
Sie saßen am Tresen der fast leeren Bar und tranken helles Bier. Charlotte erzählte Indianergeschichten, die sie als Kind gehört hatte.