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Drei Zeitzeugen

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Florian Steiner war zum Führen geboren. Meine lebendigste Erinnerung an ihn stammt aus der Volksschulzeit. Wir waren Klassenkameraden. Schon damals wäre es niemandem in den Sinn gekommen, ihn Flo zu nennen. Es war ein sonniger Herbsttag, knapp nach Schulbeginn. Wir waren acht Jungs, Lausbuben, und stritten darüber, ob wir Cowboys und Indianer oder Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann spielen sollten. An diesem Tag bekamen wir alle von einem Achtjährigen unsere erste Lektion im demokratischen Mehrheitsprinzip.

Florian kletterte kurzerhand auf die Parkbank und verkündete mit einer angeborenen Autorität, die unser wildes Durcheinandergeschrei augenblicklich verstummen ließ: »Hört mal her, es gibt eine ganz einfache Lösung.« Es folgte eine kurze Erklärung der Begriffe Mehrheit und Demokratie mit dem Hinweis, dass wir in einer demokratischen Republik lebten. Wir verstanden höchstens die Hälfte, waren aber zu erstarrt in einer Mischung aus Faszination und Scham über unsere eigene Unwissenheit, um Fragen zu stellen oder gar Widerspruch zu leisten. »Damit eine Einigung zustande kommt und wir endlich spielen können, muss die Minderheit ihren Protest aufgeben und dem Willen der Mehrheit folgen. So ist das in einer Demokratie«, schloss er sein Plädoyer und wir alle nickten betreten.

Die Abstimmung endete 5:3 für Cowboys und Indianer. Dass Florian den begehrten Part des Indianerhäuptlings einnahm, stand außer Frage. Später fragte ich mich manchmal, was geschehen wäre, hätte das Voting 4:4 ergeben. Aber ich bin mir sicher, dass er auch dafür eine Lösung parat gehabt hätte. Wahrscheinlich hätte er uns einen Exkurs über parlamentarische Diskussionsrunden verpasst. Florian war zwar der Kleinste und Schmächtigste von uns, überragte uns aber haushoch in seinen rhetorischen Fähigkeiten. Er hätte es zweifelsohne geschafft, einen aus der Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann Fraktion zum Überlaufen zu bewegen.

***

Ich unterrichtete Florian Steiner in der Oberstufe des Akademischen Gymnasiums in Physik. Er war der Albtraum für einen noch relativ jungen und unerfahrenen Lehrer wie mich. Nicht etwa, weil er störte oder aufmüpfig war, nein, es waren seine Fragen, die mir den Angstschweiß auf die Stirn trieben, sobald ich ihn brav die Hand heben sah. Dabei ging es ihm keinesfalls darum, uns Lehrer bloßzustellen. Er war einfach unendlich wissbegierig. Aber wie, um Himmels Willen, kam ein Siebzehnjähriger auf derartige Fragestellungen?

»Wenn das Verhalten eines Schwarzen Lochs nach außen hin vollständig durch seine Masse, elektrische Ladung und seinen Drehimpuls bestimmt ist und es außerdem in der Quantenphysik keinen Verlust von Information geben kann, was passiert dann mit der Information der Objekte, die von einem Schwarzen Loch aufgesogen wurden?« Hatte man keine zufriedenstellende Antwort parat, und die hatte natürlich niemand, verlor Florian rasch das Interesse und verabschiedete sich mental vom Unterricht, was ich jedes Mal als persönliche Niederlage empfand. Gegenüber seinen Mitschülern war er durchwegs hilfsbereit, erklärte ihnen geduldig nicht verstandene Teile des Unterrichtsstoffes und gab einigen sogar unentgeltlich Nachhilfeunterricht.

Als ich hoffnungslos daran scheiterte, der Maturaklasse eine Vorstellung von der vierten Dimension zu vermitteln, hob Florian wieder einmal seine gefürchtete Hand: »Darf ich es versuchen?« Ich nickte resigniert und sah mit an, wie er aus einem papierenen zweidimensionalen Würfelnetz einen Würfel formte und diesen dann wieder in die zweite Dimension auffaltete. Danach projizierte er den Schatten eines Würfels auf einen zweidimensionalen Schirm und skizzierte, wie man aus diesem Schatten ein Würfelnetz konstruieren konnte. Daraus folgerte er, dass der Schatten eines Tesserakts in unserer Dimension ein 3D-Würfel sei, aus dem sich ebenfalls ein Tesseraktnetz ableiten ließ, welches zusammengefaltet schlussendlich einen Hyperwürfel ergäbe. »Keiner von uns kann sich die vierte Dimension wirklich vorstellen, aber ich denke, so bekommen wir zumindest eine brauchbare Näherung«, schloss er seine Darbietung.

Ich hätte froh sein sollen, solch einen begabten Jungen in meiner Klasse zu haben. Stattdessen verspürte ich in meiner jugendlichen Unsicherheit, ich war damals gerade sechsundzwanzig, nur Irritation gepaart mit einem Aufflammen kindischer Eifersucht. Es dauerte drei Schuljahre, bis ich Florians Erklärungsmodell in meinen Unterricht übernahm. Heute würde ich viel dafür geben, unter den stumpfsinnigen, bestenfalls unkritischen Schülern einen Florian Steiner zu haben und seine eifrige Hand nach oben schnellen zu sehen.

***

Ich war mit Florian Steiner an der Uni zusammen. In der Masse der überwiegend noch kindischen männlichen Studenten glich er einem 2009er Château Lafite Rothschild unter Heurigenweinen. Wir studierten beide Volkswirtschaftslehre und waren für zehn Monate ein Paar. Florian war hochintelligent, hatte tadellose Manieren und wusste genau, was er wollte. Diese Mischung wirkte anziehend auf mich, gab mir Sicherheit. Auch optisch war er durchaus herzeigbar, wenn auch mit 1,72 Meter etwas klein für einen Mann. Mein Spitzname für ihn war Spock. Immerzu logisch und besonnen, ließ er Gefühle nur kontrolliert zu, weshalb ich letztlich mit ihm Schluss machte.

Rhetorisch beherrschte er alle Finessen, was mir bei Streitigkeiten stets das Gefühl gab, manipuliert zu werden. Seit Florian reagiere ich allergisch auf Gewaltfreie Kommunikation, Metakommunikation, NLP und sonstigen Rhetorik-Trainer-Scheiß.

»Du verstehst mich einfach nicht.«

»Ich höre, dass du frustriert bist, weil ich deine Erwartungen nicht erfülle. Das tut mir leid. Hilf mir bitte und sag mir, was du willst.«

»Verdammt, Florian, ich will dir keine Gebrauchsanweisung liefern müssen. Ich will, dass du mich verstehst!«

»Anna, diese Erwartung ist nicht nur unlogisch, sondern auch unfair; und das weißt du auch. Du bist eine intelligente Frau, sei bitte nicht so irrational!«

Am Ende dieser Szene packte ich meine Koffer und verließ ihn. Die Trennung verlief, in typischer Spock-Manier, unaufgeregt. Da Florian mir im Studium voraus war, kreuzten sich unsere Wege auch nicht mehr. Von gemeinsamen Bekannten hörte ich, dass er ein Jahr in Paris verbrachte, weil er zu schnell studiert hatte und nun seine Zulassung zur zweiten Diplomprüfung abwarten musste. Angeblich absolvierte er in dieser Zeit ein Praktikum beim Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien und beschäftigte sich mit Integrationsstrategien für die Sicherheits- und Entwicklungspolitik in der EU. Ich nehme an, das motivierte ihn, ein Doktorat in Politikwissenschaft anzuhängen. Soweit ich weiß, hat er in Paris auch seine Frau kennengelernt. Ich hoffe, Spock hat seine Vulkanierin gefunden.

Der Alpendiktator und Menschenfreund

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