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Nachtfahrt im ICE

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Fast geräuschlos glitt der letzte ICE des Tages in Richtung Frankfurt am Main aus der Halle im Stuttgarter Hauptbahnhof. Der nur spärlich beleuchtete Bahnsteig war bis auf einen einzelnen Mann leer. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.

Knapp zwei Stunden noch, dachte der Mann und schaute auf seine Uhr, dann bin ich frei. Frei von Jule, die ich nur ihres Geldes wegen geheiratet habe. Und Erbe eines Millionenvermögens, mit dem er nun endlich zu leben gedachte. Als freier Mann, nicht mehr im goldenen Käfig einer der reichsten Bankerfamilien der Mainmetropole. Er warf die Zigarette auf den Bahnsteig, trat sie aus und ging beschwingten Schrittes zum Aufzug, der ihn auf den Parkplatz brachte. Dort angekommen, schloss er sein Cabrio auf, ließ sich ins Polster gleiten und startete den Wagen.

Perfekt!, dachte er grinsend und bog vom Parkplatz auf die Straße ein. Es wird wie Selbstmord aussehen, da bin ich mir sicher. Warum auch schluckt sie ständig irgendwelche Pillen? Sie ist in Wirklichkeit doch gar nicht krank.

Hypochonder!

Es war nicht schwer gewesen, ein paar ihrer Pillen gegen andere, präparierte, auszutauschen.

Abfällig grinsend lehnte er sich im Polster zurück und fuhr gemächlich durch die hell erleuchtete Stadt.

Leise surrend brauste der Zug durch die stockdunkle Nacht. Ab und zu rauschte ein Gegenzug an ihm vorbei und ließ die Luft zwischen den Waggons vibrieren.

Jule, Mitte dreißig und nicht gerade mit Schönheit verwöhnt, hockte mit eingefallenen Schultern und gesenktem Kopf auf der Liege in ihrem Schlafwagenabteil. In den Händen knetete sie ein Taschentuch und heulte leise vor sich hin. Und tat ab und zu ganz undamenhaft einen tiefen Schluck aus der Champagnerflasche, die vor ihr zwischen ihren Füßen auf dem Boden stand. Jedes Mal, wenn die perlende Flüssigkeit durch ihre Kehle floss, musste sie aufstoßen. Sie hatte sich bisher nie etwas aus Alkohol gemacht. Doch heute wollte sie sich betrinken. Maßlos betrinken! Heute wollte sie vergessen. Heute war ihr alles egal.

Scheiß-e-gal!

Wie nur hatte sie so blind sein können? Blind vor Liebe und Verlangen nach Carlo, diesem Gigolo mit den wilden Locken. Alle hatten sie gewarnt: ihre Eltern, ihre Freunde, ihr Bruder. Nur ihres Geldes wegen würde er sie heiraten, hatten sie gesagt. Aber nein, sie hatte ja ihren Kopf durchsetzen müssen. Hatte seinen Liebesschwüren mehr geglaubt als allen Warnungen und war ihm von Frankfurt nach Stuttgart gefolgt. Und dabei kopflos in ihr Verderben gerannt.

Sie warf die leere Flasche achtlos auf die Liege, erhob sich schwankend und holte eine volle aus der Reisetasche. Gut, dass ich trotz der kurzen Strecke ein Schlafwagenabteil genommen habe, dachte sie. Niemand sollte sie so sehen. Wütend schüttelte sie die Flasche, bis der Korken knallte, ließ sich auf die Pritsche fallen und setzte die überschäumende Flasche an die Lippen.

Dass dabei ein Schwall an Champagner über ihr Kostüm floss, ließ sie kalt.

Schon kurz nach der Hochzeit hatte sie geahnt, dass Carlo sie betrog. Aber als sie ihn gestern zufällig engumschlungen mit einer aufgedonnerten Blondine im Minirock über den Schlossplatz hatte schlendern sehen, war ihr Verdacht zur Gewissheit geworden: Er hat eine Freundin!

Mit der gibt er ihr Geld aus!

Mit der fährt er in ihrem Sportcabrio!

Und mit der liegt er wahrscheinlich jetzt gerade auch in ihrem Bett!

Ihr wurde speiübel. Vor Ekel. Und auch des Alkohols wegen. „Verdammter Hund!“, fluchte sie, ganz gegen ihre gute Erziehung. Sie nahm einen weiteren Schluck aus der halb leeren Flasche. Der Champagner rann ihr aus den Mundwinkeln, den Hals hinab, in den Kragen ihres unscheinbaren, aber teuren Kostüms von Versace.

Heulend vor Wut trommelte sie auf die Liege; ihr war hundeelend zumute.

Obwohl sie eigentlich zu betrunken war, um klar denken zu können, fasste sie jetzt einen Entschluss: „Ich lasse mich scheiden!“, blaffte sie laut das schwarz schimmernde Fenster an. „Ja, dem werd ich das süße Leben versalzen! Hat sich gründlich verrechnet, das Schwein! Soll er doch zurück in die Gosse, der ‚Schöne Carlo‘, dorthin, wo er herkommt. Zum Glück haben wir einen Ehevertrag, sodass er nix bekommt, der Mistkerl! Morgen gehe ich zum Anwalt. Papa wird mir einen guten empfehlen. Ja, gleich morgen, wenn ich wieder nüchtern bin!“

Zufrieden mit ihrem Entschluss trank sie nun auch die zweite Flasche mit einem langen Zug leer und schleuderte sie von sich. Dann versuchte sie aufzustehen, um die letzte Flasche Champagner aus ihrer Reisetasche zu holen.

Nur mit größter Mühe kam sie hoch. Schwankend Halt suchend griff sie nach der Stange neben dem Waschbecken. In ihrem Hals würgte der Champagner nach oben, und vor ihren halb geschlossenen Augen waberten graue Schleier.

Just in dem Moment bog der Zug in eine lang gezogene Kurve. Die Haltestange verfehlend, stürzte Jule gegen das Waschbecken, klammerte sich dran fest und musste sich erbrechen.

Sie erbrach auch die kleine Kapsel, „liebevoll“ mit Zyankali präpariert, kurz bevor sie sich in ihrem Magen auflösen konnte.

Die Falle

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