Читать книгу Die Abenteuer des Odysseus - Auguste Lechner - Страница 6

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2 Sie fuhren viele Tage lang durch die öde Wasserwüste, zwölf starke Schiffe mit hohen dunklen Wänden, schön geschwungenem Bug und schimmernden Segeln. Ein guter Wind trieb sie an und die Männer brauchten nicht mehr zu rudern. Sie waren fröhlich und die Heimkehr schien ihnen sehr nahe.

Es war lange kein Land mehr aus den Fluten aufgetaucht. Dann aber lag eines Tages ein kleines Eiland vor ihnen, rings von steilen glatten Felsen umschlossen wie von einer Mauer. Sie fuhren an der Küste entlang, denn sie wollten landen, um Wasser zu schöpfen. Nach einer Weile hörte die Felsmauer auf und eine Stadt lag vor ihnen. Da wohnte in einem prächtigen Hause Aiolos, der Beherrscher der Winde, der ein Freund der Götter war. Darum hatte ihm Zeus Gewalt über die Winde gegeben: Er konnte sie zum wilden Sturm werden lassen, er konnte sie aber auch besänftigen und zum Schweigen bringen, ganz wie es ihn gut dünkte.

Er hatte sechs Söhne und sechs Töchter, die einträchtig in seinem Palast lebten.

Aiolos und seine Gemahlin empfingen die Achaier freundlich, und weil es selten geschah, dass Fremde auf das Eiland kamen, fragten sie nach allem, was sich zugetragen hatte, und luden die Gäste ein zu bleiben und zu erzählen.

Immer standen die köstlichsten Speisen auf dem Tisch und die Männer ließen sich’s wohl sein. Sie erzählten, was zu Troja und anderswo geschehen war, und als die freundlichen Wirte endlich alles erfahren hatten, war unversehens ein Monat vergangen.

Da sagte Odysseus zu Aiolos: »Nun sollst du uns ziehen lassen: Denn es verlangt uns heimzukehren, da wir so lange in der Fremde waren!«

Aiolos willigte ein und beim Abschied gab er Odysseus einen Schlauch, aus der Haut eines neunjährigen Stieres gefertigt und mit einer silbernen Schnur verschlossen.

»Darin sind die heulenden Winde gefangen«, sprach er ernst.

»Achte wohl darauf, dass sie nicht entweichen: Denn wenn sie meiner Obhut entronnen sind, werden sie leicht wild und ungebärdig. Euch aber will ich den freundlichen Zephir senden, der von Westen weht und euch sicher heimgeleiten wird!«

So meinte Aiolos. Aber durch die Torheit der Achaier kam alles ganz anders. –

Sie fuhren neun Tage und Nächte und der Zephir trieb sie sanft und stetig vorwärts gegen Ithaka.

Am zehnten Tage tauchte fern aus dem Dunst die heimatliche Küste auf und sie konnten schon die Wachfeuer am Strande sehen.

Ja, nun war Ithaka nicht mehr weit und es schien, als zürnten auch die Götter nicht mehr.

Odysseus aber hatte neun Tage und neun Nächte das Steuerruder nicht aus der Hand gegeben, um schneller und sicherer heimzugelangen.

Jetzt überkam ihn plötzlich eine große Müdigkeit, dass ihm im Stehen die Augen zufielen. Er winkte dem Steuermann, übergab ihm das Ruder und befahl, man möge ihn wecken, ehe die Schiffe vor Ithaka anlegten. Dann hüllte er sich in seinen Mantel, legte sich auf die Deckplanken und schlief ein.

Unterdessen hatten die Gefährten mit missgünstigen Augen den großen ledernen Schlauch betrachtet, der drunten im Schiffsraum lag. Und wie es den Menschen zuweilen geschieht, plagten sie Neid und Neugier. »Ich möchte wohl wissen, was für ein kostbares Gastgeschenk Odysseus von Aiolos erhalten hat! Wo immer er hinkommt, genießt er am meisten Ehre und Ansehen und jeder beschenkt ihn. Hat er doch auch von Troja die reichste Beute mitgeführt, während wir beinahe leer ausgegangen sind. Kommt, wir wollen sehen, ob der Schlauch etwa voll Gold und Silber ist!«

So redeten sie untereinander. Und – gesagt, getan! – schlichen sie hinab in den Schiffsbauch und lösten die silberne Schnur.

Da zischte und sauste und heulte es mit einem Male, dass sie vor Entsetzen auf den Rücken fielen.

Die Winde aber fuhren aus dem Schlauch und hinauf aus dem Schiffsraum und fort über das Wasser, das sogleich wild aufschäumte. Sie fuhren mitten unter die Schiffe der Achaier und rissen sie in einem wilden Wirbel mit sich, hinaus aufs Meer, dahin zurück, woher sie gekommen waren.

Die Küste von Ithaka aber verschwand wieder wie ein Traumbild. Odysseus war aufgefahren, und als er das Sausen und Heulen hörte, wusste er sogleich, was geschehen war. Aber was half es? Er konnte ja nicht ins Meer springen und durch die tobenden Fluten hinüberschwimmen nach Ithaka, das sich immer weiter entfernte, während die Schiffe der Achaier wie wild gewordene Pferde zurückjagten zur Insel des Aiolos.

Abermals legten sie dort am Ufer an und Odysseus begab sich mit zwei Männern in den Palast.

Da hielt gerade Aiolos mit seiner Gattin und den zwölf Kindern Mahlzeit. Staunend betrachteten sie die Gäste, die sie längst auf der Heimfahrt glaubten.

Dann stand Aiolos langsam auf und kam herüber zum Tor, wo sie sich bescheiden an den Pfosten gesetzt hatten, um zu warten.

»Wie kommst du hierher, Odysseus?«, fragte er und in seinem Gesicht war keine Freundlichkeit mehr. »Was für ein böser Dämon verfolgt dich? Habe ich nicht alles für dich getan, damit du sicher die Heimat erreichst?«

»Ja«, antwortete Odysseus betrübt, »aber mich hat Schlaf übermannt und meine Gefährten haben das Unheil verschuldet. Ich bitte dich, hilf uns noch einmal: Ich weiß, du vermagst es!« Aber Aiolos schüttelte den Kopf. »Pack dich fort, Unglückseliger!«, sagte er finster. »Es kommt mir nicht zu, einem Manne Wohltat zu erweisen, der den Zorn der Unsterblichen auf sich geladen hat. Darum pack dich eilig fort: Die Götter verfolgen dich, sonst wärest du nicht wieder hier!«

Da gingen sie traurig fort, bestiegen die Schiffe und begannen zu rudern: Denn jetzt wehte kein Lufthauch mehr über dem Meer.

Sechs Tage lang mussten sie rudern. Das Wasser war glatt wie Öl, Nebel hing grau und unbewegt über ihnen und die Sonne zeigte sich nicht. Sie wussten längst nicht mehr, wo sie waren noch in welche Himmelsrichtung sie fuhren.

Endlich am siebten Tag näherten sie sich einer Küste. Da ragte eine gewaltige Feste auf, wie ein Gebirge anzusehen, und daneben befand sich ein Hafen. Ein seltsamer Hafen, meinte Odysseus bei sich: Rings umgaben ihn hohe senkrechte Felsmauern, nur eine schmale Einfahrt führte zwischen zwei steilen Klippen hindurch. Es lag kein einziges Schiff in diesem Hafen und auch das schien Odysseus recht seltsam und gefiel ihm nicht. Nein, er hatte keine Lust, da hineinzufahren, und er hätte auch die Gefährten gerne davon abgehalten.

Aber die würden ihn verlachen, weil er nicht einmal wusste, warum ihm dieser Hafen so missfiel. Indessen lenkten die Achaier schon ihre Schiffe, eines hinter dem andern, durch die enge Einfahrt. Sie waren froh, nach der langen Fahrt einen so sicheren Landeplatz zu finden. Ei, einen besseren konnte es doch gar nicht geben! Das Wasser war tief und ruhig, es gab weder Wind noch Wellen in dem Felsenkessel und man konnte darum die Schiffe dicht nebeneinander anketten.

So lagen bald elf Schiffe Wand an Wand drinnen am Fuß der Felsmauern.

Nur Odysseus steuerte das seinige an der Einfahrt vorüber und hieß die Männer es draußen an den Klippen festbinden. Dann schickte er Kundschafter zu der Stadt, um zu erforschen, was für ein Volk da wohnte.

Die drei Männer gelangten bald an ein Tor in der Stadtmauer, neben dem eine starke Quelle aus dem Felsen sprang.

Da begegnete ihnen ein Mädchen, das aus der Stadt kam, um Wasser zu holen.

Bei allen Göttern, wie groß und gewaltig die Jungfrau war! Beklommen dachten sie einen Augenblick an die Kyklopen. Aber das Mädchen sah keineswegs schrecklich aus und so fassten sie sich ein Herz, redeten sie an und fragten nach Land und Leuten.

Da erfuhren sie, dass sie sich im Lande der Laistrygonen befanden, dass Antiphates, ihr König, droben in der Feste wohnte und dass das Mädchen seine Tochter war.

Sie stiegen zur Burg hinauf und traten in den Saal. Da kam ihnen die Gemahlin des Königs entgegen und sie war noch viel gewaltiger als ihre Tochter.

Und während die Männer sie noch mit Grausen betrachteten und dachten, sie wären lieber wieder auf ihren guten Schiffen, erschien der riesige Antiphates selbst.

Er blickte sie nur stumm und zornig an, dann packte er den Herold, der ihm zunächst stand, nahm ihn wie ein Bündel unter den Arm und trug ihn fort. Niemand erfuhr jemals, was aus dem Armen geworden war.

Die beiden anderen standen einen Augenblick wie zu Stein erstarrt vor Entsetzen. Dann wandten sie sich um und liefen aus dem Saal und aus der Feste und zurück zu den Schiffen, so schnell ihre Beine sie tragen konnten.

Hinter ihnen aber scholl der schreckliche Kriegsruf des Königs durch die Burg und über die Stadt hin.

Die Achaier horchten auf und wussten nicht, was der lang gezogene Schrei bedeuten sollte. Sie standen auf dem Deck ihrer Schiffe und riefen einander ratlos an.

Da entstand draußen jenseits der Hafenmauer wüstes Getöse, raue Stimmen näherten sich von allen Seiten, Steine polterten und dann … Die Achaier rissen die Augen auf: Hoch über ihren Köpfen auf der Mauer standen im Handumdrehen riesige Männer, einer neben dem andern. Sie hielten Steinblöcke in den Händen und schleuderten sie hinab in den Hafen auf die Schiffe. Planken splitterten und barsten, Masten brachen wie dünne Stäbe, die Männer schrien und versuchten, sich zu retten, aber es gelang keinem. Wer nicht von den Felsen getroffen wurde, ertrank im wild aufrauschenden Wasser.

Der entsetzliche Steinhagel nahm kein Ende: Denn draußen um die Mauer standen andere Laistrygonen und reichten ihren Genossen immer neue Felsblöcke hinauf.

Eines nach dem andern sanken die stolzen Schiffe zerborsten auf den Grund hinab.

Odysseus sah, wie das Unheil hereinbrach. Da riss er das Schwert von der Hüfte und durchhieb die Taue, mit denen sein Schiff festgebunden war. »Rudert!«, brüllte er. »Rudert, so schnell ihr könnt, wenn ihr nicht sogleich zum Hades fahren wollt!«

Die Männer stürzten sich auf die Ruder, obgleich ihre Hände zitterten. So entrannen sie dem Tode, da die Laistrygonen keine Fahrzeuge hatten, um sie zu verfolgen. –

Einsam zog das Schiff jetzt durch die Wasserwüste, Tag und Nacht. Die Männer taten ihre Arbeit bekümmert und müde. Es herrschte Windstille und sie mussten lange rudern.

Als sie sich abermals einer Küste näherten, beratschlagten sie, ob es nicht besser wäre vorbeizusteuern. »Denn wer weiß«, sagten sie mutlos, »gewiss hausen dort wieder andere Unholde, die uns nach dem Leben trachten!«

Da sie aber so müde waren und auch nichts mehr zu essen hatten, legten sie zuletzt dennoch in einer flachen Bucht an, gingen an Land, legten sich hin und schliefen zwei Tage und zwei Nächte lang vor Kummer und Ermattung. Hätten sie freilich gewusst, dass dies Aia, die Insel der Zauberin Kirke, war, so wären sie wohl schleunigst wieder davongesegelt.

Am dritten Morgen erhob sich Odysseus. »Klagen und Tränen haben noch niemandem geholfen«, sprach er zu sich, nahm Schwert und Jagdspieß und beschloss, das Innere der Insel zu erkunden. Vielleicht war sie unbewohnt, hoffte er und niemand würde sie bedrohen, wenn sie ein paar Tage hier rasteten und Jagd auf Wild machten.

Eine Weile ging er durch lichten Wald und Wiesen mit hohem Gras, dann kam er an einen felsigen Hügel und stieg hinauf, um sich von dort oben umzusehen.

Er sah, dass sie sich auf einem kleinen Eiland befanden. Ringsum lag uferlos das Meer, so weit man blickte.

Und dann gewahrte er etwas anderes: Aus einem Wald in der Mitte der Insel stieg Rauch auf. Das Herz wurde ihm schwer vor Enttäuschung. Nein, es sollte ihnen gewiss auch hier kein Friede beschieden sein!

Er schickte sich an hinabzusteigen, um herauszufinden, wer da drunten hause.

Aber da trat ganz nahe ein Hirsch aus dem Gehölz und er schleuderte schnell die Lanze nach ihm und traf ihn im Genick, sodass er niederstürzte und verendete.

»Das haben die Götter uns zum Troste so gefügt«, dachte Odysseus und freute sich der guten Beute. »So will ich zuerst zu den Gefährten zurückkehren, damit sie zu essen haben: Das ist gut gegen Kummer und Trübsal. Wenn ich aber allein jenem Rauche nachginge, so könnte es sehr leicht geschehen, dass ich nicht mehr zurückkehre. So wollen wir lieber später mehrere Männer zugleich als Kundschafter aussenden.«

Er flocht aus Weidenruten ein Seil, band die Füße des Hirsches zusammen, legte ihn über den Nacken und trug ihn hinab zum Strand. Da warf er ihn neben den Gefährten auf die Erde. »Seht ihr, Freunde«, sagte er ermunternd, »noch steigen wir nicht zum Hause des Hades hinab, solange wir Speise und Trank haben! Kommt, wir wollen uns eine herrliche Mahlzeit bereiten!«

Das schien den Männern bei all ihrer Betrübnis ein guter Rat und alsbald fachten sie ein Feuer an, zerlegten den Hirsch und brieten die besten Stücke. Sie holten auch die Weinschläuche vom Schiff und nach einer Weile hatten sie ihre Sorgen wirklich fast vergessen.

Am Morgen aber rief sie Odysseus zusammen und sprach: »Hört mich an! Wir müssen Rat halten, was geschehen soll! Wir wissen nicht, wo wir sind oder in welche Himmelsrichtung wir segeln müssen, um heimzugelangen. Aber ich habe gestern aus einem Wald in der Mitte der Insel Rauch aufsteigen sehen. Vielleicht wohnen freundliche Menschen hier, die wir befragen können!«

Aber die Gefährten fuhren auf und begannen, sogleich zu murren und zu klagen. Ja, auch vom Lande der Kyklopen sei Rauch aufgestiegen und von den Häusern der Laistrygonen und nun dächten sie nicht mehr daran, ihre Haut ein drittes Mal zu Markte zu tragen.

»Es muss sein!«, sagte Odysseus hart. »Wir können nicht ohne Ende auf dem Meer umherirren! So wollen wir uns teilen und das Los werfen!«

Er winkte Eurylochos, der mit ihm verwandt war. »Du magst zweiundzwanzig Männer mit dir nehmen und ich ebenso. Wen das Los trifft, der zieht als Erster mit seinen Gefährten auf Kundschaft aus. Und kehren sie nicht zurück, so werden die Übrigen sich aufmachen, sie zu befreien oder zu rächen!«

Sie schüttelten die Lose in einen Helm und das Zeichen des Eurylochos fiel heraus.

So machte sich Eurylochos wohl oder übel mit seinen Gefährten auf den Weg. Aber der Auftrag gefiel ihm nicht und er beschloss, auf der Hut zu sein.

Als sie eine Weile durch Buschwerk, Wiese und Wald gegangen waren, kamen sie auf eine Lichtung. Da stand ein prächtiges Haus aus schön behauenen Steinen und sie hörten eine liebliche Frauenstimme, die sang. Schon wollten sie auf das Haus zugehen, da prallten sie plötzlich zurück. Denn ringsum erhoben sich jetzt allerlei wilde Tiere aus dem Grase, hagere Bergwölfe und Löwen mit gewaltiger Mähne.

Und während die Männer noch überlegten, ob sie zu den Schwertern greifen oder fliehen sollten, kamen die Tiere schweifwedelnd herbeigelaufen und sprangen an ihnen in die Höhe wie Hündlein, die ihre Herren begrüßen.

Den Achaiern quollen die Augen aus dem Kopf vor lauter Verwunderung und sie wussten nicht, was dies alles zu bedeuten hatte. Einer von ihnen aber, mutiger und neugieriger als die anderen, schlich sich flink von der Seite an das Haus heran und spähte durchs Tor.

Alsbald kam er zurückgerannt. »Freunde«, verkündete er eifrig, »da drinnen wohnt eine liebliche Frau, ich weiß nicht, ob es eine Göttin ist oder eine Sterbliche. Sie singt und schreitet dabei um den Webstuhl und wirkt an einem herrlichen Teppich! Kommt schnell, wir wollen sie rufen! Welch ein Glück, eine sanfte Frau zu finden statt gräulicher Riesen und anderer Unholde!«

Aber es war kein Glück für sie: Denn die Frau war Kirke, die zauberkundige Tochter des Sonnengottes Helios. Sie verstand vielerlei Künste und kannte alle Kräuter, die auf der Erde wuchsen, und ihre heilsame oder verderbliche Wirkung.

Als sie die Männer rufen hörte, legte sie sogleich das Webschiffchen zur Seite und kam ans Tor.

Sie lächelte freundlich, dass es ihnen warm ums Herz wurde, und lud sie ein, ins Haus zu treten.

Sie folgten ihr, ohne sich lange zu besinnen. Nur Eurylochos, der Böses ahnte, blieb draußen und verbarg sich hinter dem Türpfosten. Und als das Tor sich hinter seinen Gefährten geschlossen hatte, begann er zu warten.

Währenddessen wies Kirke drinnen den Männern ihre Sitze an einem großen Tisch an, und während sie voll fröhlicher Erwartung dasaßen, mischte sie ihnen einen Trank aus geriebenem Käse, Mehl, Honig und Wein. Aber sie fügte auch noch den Saft von verschiedenen Kräutern hinzu, die nur sie allein kannte.

Der Trank schmeckte fremdartig, süß und würzig und die Gäste leerten begierig ihre Becher.

Kirke saß auf ihrem schön geschnitzten Thron und sah ihnen zu. Sie lächelte immer noch, aber es war ein grausames Lächeln.

Dann erhob sie sich. Sie hatte jetzt einen Stab in der Hand, ging schnell an der Reihe der Männer entlang und berührte jeden mit ihrem Stabe.

Alsbald begannen sie, sich auf eine schreckliche Weise zu verwandeln. Ihre Köpfe schwollen unförmig an, ein Rüssel streckte sich daraus hervor, die Ohren hingen an den Seiten herab, die Gewänder verschwanden und Borsten bedeckten die Haut. Zuletztverloren sie ihre menschliche Gestalt und begannen, auf vier Beinen zu gehen und zu grunzen: Sie waren alle zu Schweinen geworden! Nur ihr Menschenverstand war ihnen geblieben und so blickten sie einander todtraurig an und hätten gerne laut ihr Unglück beklagt. Aber sie hatten jetzt auch die Stimme von Schweinen und so vermochten sie, nichts zu sagen.

»Fort mit euch!«, befahl Kirke jetzt und trieb sie aus dem Saal über den Hof zum Stall. Dann schüttete sie ihnen Eicheln, Bucheckern und Kornelkirschen vor, wie eben Schweine gefüttert werden, und überließ sie ihrem Elend.

Eurylochos wartete unterdessen immer ungeduldiger. Eine Weile hörte er die fröhlichen Stimmen der Freunde, dann verstummten sie plötzlich.

Später sah er die Frau über den Hof gehen, wie sie ein Rudel Schweine vor sich her in den Stall trieb. Dann verschwand sie wieder im Hause und von da an drang kein Laut mehr hinaus zu Eurylochos. Er wartete immer noch, aber die Gefährten waren und blieben verschwunden und im Hause herrschte Totenstille.

Es wurde ihm immer unheimlicher zumute und endlich hielt er es nicht mehr aus: Er begann zu laufen und lief, als säße ihm ein Dämon im Nacken, bis er verstört und atemlos beim Schiff ankam. Odysseus betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Wie siehst du aus? Und wo sind die anderen?« Aber es dauerte lange, bis Eurylochos zu antworten vermochte.

Dann erzählte er stockend, was ihnen begegnet war.

Er hatte kaum zu Ende geredet, da sprang Odysseus auf und warf sein Schwert über die Schulter. »Führe mich sogleich zu diesem Hause!«, befahl er finsteren Gesichts. »Ich will selber sehen, was geschehen ist!«

»Nein!«, stieß Eurylochos entsetzt hervor. »Ich bitte dich, verlange nicht von mir, dass ich noch einmal dahin zurückkehre! Und ich sage dir, auch du wirst nicht wiederkommen und unsere Gefährten wirst du nicht zurückbringen! Wir wollen lieber schleunigst zu Schiffe gehen und entfliehen, solange es Zeit ist!«

»So bleib hier bei den anderen!«, sagte Odysseus unmutig. Er hatte sich schon abgewandt und ging mit langen Schritten landeinwärts.

Gewiss wäre er in sein Verderben gerannt wie die Gefährten, wenn sich diesmal nicht einer der unsterblichen Götter seiner erbarmt hätte.

Als er zum Waldesrand kam, trat ihm Hermes entgegen, der Gott mit dem goldenen Stabe. Er hatte Gestalt und Angesicht eines schönen Jünglings und begrüßte Odysseus freundlich. Aber sogleich wurde er sehr ernst.

»Unglückseliger, wie kannst du es wagen, so allein und fremd hier umherzustreifen!«, sagte er tadelnd. »Du weißt nicht, was dich bedroht: Deine Freunde sind bei Kirke, der zauberkundigen Göttin. Sie hat sie in Schweine verwandelt und im Stall eingesperrt. Willst du etwa hingehen, sie zu retten? Du würdest nur ihr Schicksal teilen und nie wieder zurückkehren! Aber ich will dir helfen!« Er beugte sich nieder und zog ein Kräutlein aus der Erde, das gerade zu seinen Füßen wuchs. Es war an der Wurzel schwarz und hatte eine milchweiße Blüte. Er reichte es Odysseus. »Wenn du das Kräutlein Moly hast, kann dir kein Zauber etwas anhaben«, sprach Hermes. »Geh nun zu Kirkes Haus und folge ihr auch unbesorgt in den Saal! Sie wird dir einen Trank bereiten, in den sie ihre verderblichen Kräuter mischt. Dir aber werden sie nicht schaden! Berührt sie dich darauf mit ihrem Stabe, so reiße dein Schwert von der Hüfte und drohe ihr, sie zu töten. Dann wird sie dich bitten, ihr das Leben zu schenken und ihr Gast zu sein. Du aber verlange von ihr, dass sie sogleich deine Gefährten von dem Zauber befreie und den mächtigen Eid der Götter schwöre, euch nichts Übles mehr zuzufügen.«

Damit kehrte der Bote der Götter zurück zum Berge Olympos. Odysseus aber steckte das Kräutlein zu sich und begab sich eilig zum Hause der Kirke.

Sie kam ans Tor, als sie ihn hörte, begrüßte ihn freundlich und führte ihn in den Saal. Alsbald saß er in einem kunstreich geschnitzten silberbeschlagenen Sessel und sah unbehaglich zu, wie sie das Gebräu mischte und in einen goldenen Becher goss, den sie lächelnd vor ihn hinstellte. Freilich hätte er ihr den Trank lieber vor die Füße geschüttet, aber er musste tun, was ihm Hermes geboten hatte, sonst gab es wohl für ihn und die Gefährten keine Rettung mehr.

So trank er. Zwar schlich es ihm dabei kalt über den Rücken und er schielte an sich hinab, ob ihm etwa schon ein Rüssel wüchse oder Borsten aus seiner Haut zu sprießen begännen und seine Hände sich in Schweinefüße verwandelten.

Aber nichts geschah.

Kirke stand vor ihm und hielt einen Stab in der Hand. Sie lächelte, aber es war ein grausames Lächeln. »Nun geh in den Stall und lege dich zu deinen Gefährten!«, sagte sie und hob den Stab.

Da riss Odysseus das Schwert von der Hüfte.

Sie schrie auf und sprang zur Seite. Ihre Augen glitzerten böse, aber zugleich schien sie Angst zu haben.

»Du … du widerstehst meinem Zauber?«, stieß sie ungläubig hervor. »Das hat noch kein Sterblicher vermocht! Du aber hast getrunken und bedrohst mich mit dem Schwert! Wer bist du und wohin führt dich dein Weg?«

Plötzlich wurde ihr Blick starr, als wäre ihr ein seltsamer Gedanken gekommen.

»Wahrhaftig – du musst Odysseus sein!«, sagte sie und musterte ihn neugierig. »Hermes hat mir einmal vor langer Zeit verkündet, eines Tages würde Odysseus in einem schwarzen Schiff von Troja kommen, nachdem er lange an fremden Küsten umhergeirrt. So stecke dein Schwert ein und sei mir willkommen! Du bist mein Gast und kannst mir vertrauen.«

Odysseus lachte zornig.

»Wie soll ich dir vertrauen? Glaubst du, ich weiß nicht, dass du mit deinen Zauberkünsten meine Gefährten in Schweine verwandelt hast? Nein, ich werde mich hüten, an deine Gastfreundschaft zu glauben, ehe du mir nicht den mächtigen Eid der Unsterblichen schwörst, dass du nichts Übles mehr im Sinn hast!«

Da schwur sie den Eid der Götter und er wusste, dass sie nicht wagen würde, ihn zu brechen.

Dann rief sie ihre Dienerinnen, die alsbald den Saal zu schmücken begannen. Sie breiteten purpurne Decken über die Sessel und stellten ein silbernes Tischlein vor jeden hin. Sie trugen goldene Körbe, Schüsseln und Becher herein und Wein in einem silbernen Kruge. Eine von ihnen fachte Feuer an unter dem großen Dreifuß mit dem Kessel aus blinkendem Erz, und als das Wasser dampfte, führte sie Odysseus zum Bade, mischte heißes und kaltes Wasser, bis es die rechte Wärme hatte, und goss es ihm über Haupt und Schultern. Da wich die Müdigkeit von ihm und Kraft und Mut kehrten zurück. Zuletzt brachte sie duftendes Öl, einen Leibrock aus feinem Linnen und einen wollenen Mantel, und als Odysseus gesalbt und gekleidet war, führte sie ihn zurück zum Saal.

Unterdessen hatte die würdige Schafferin Brot und Fleisch und viele herrliche Gerichte aufgetragen und Kirke lud Odysseus ein, sich an den Tisch zu setzen und zu essen. Aber er sah die köstlichen Speisen nicht einmal an, sondern saß stumm und finster in seinem prächtigen Sessel.

»Was bekümmert dich?«, fragte Kirke und winkte der Magd, Odysseus das silberne Wasserbecken zu reichen, in dem man vor dem Mahle die Hände zu waschen pflegte.

»Warum verschmähst du Speise und Trank?«, fuhr sie fort.

»Du weißt, dass du von mir nichts mehr zu befürchten hast: Darum iss und trink und vergiss alles Ungemach!«

»Nein«, sagte Odysseus, »ich will deine Gastfreundschaft nicht, ehe du meine Gefährten von dem Zauber erlöst und ihnen ihre frühere Gestalt wiedergegeben hast!«

Kirke zauderte einen Augenblick. Dann erhob sie sich und verließ schweigend den Saal und er sah sie draußen über den Hof gehen. Gleich darauf kam sie zurück und jagte ein Rudel Schweine vor sich her.

Sie trieb sie in den Saal und da standen sie in einer Reihe und Odysseus schossen vor Grimm und Schmerz die Tränen in die Augen, als er sie erblickte.

Kirke aber ging schnell von einem zum andern und bestrich sie mit einer Salbe.

Da begannen sie sich augenblicklich zu verwandeln, die Borsten fielen von ihnen ab, aus den hässlichen Tierkörpern kamen menschliche Gesichter hervor, die kurzen dicken Beine wurden zu Händen und Füßen und alsbald standen die Männer aufrecht da und sahen stattlicher aus als zuvor. Sie stürzten auf Odysseus zu und riefen alle durcheinander vor Freude über ihre Rettung und vor Kummer und Zorn über die erlittene Schmach.

Kirke aber wünschte, dem ein Ende zu machen. »Odysseus, Sohn des Laertes«, sagte sie schlau, »willst du nicht zum Schiff hinabgehen und die übrigen Gefährten holen? Ihr sollt auch alles Gerät und eure Güter in die Felsenhöhle schaffen: Dort liegen sie sicher.«

Denn Kirke hatte beschlossen, Odysseus nicht so bald wieder ziehen zu lassen. Sie wusste, er war tapfer und klug, und er gefiel ihr sehr.

Odysseus machte sich eilig auf den Weg nach dem Strand. Kirke hatte recht: Gewiss waren die Gefährten längst in großer Sorge um ihn!

Sie liefen ihm auch sogleich erleichtert entgegen, als sie ihn kommen sahen, und fragten, was für ein Unheil die anderen getroffen habe.

Odysseus lachte. »Kommt mit mir, so könnt ihr selbst sehen, wie sie trinken und schmausen und es sich wohl sein lassen in Kirkes herrlichem Hause!«

Und er erzählte, was sich zugetragen hatte. »Aber fürchtet euch nicht!«, fügte er hinzu. »Sie hat mir den mächtigen Eid der Götter geschworen, uns in Zukunft nichts Übles mehr zuzufügen. Nun schafft alles, was auf dem Schiff ist, in die Höhlen droben in den Felsen. Und dann wollen wir eilends zu Kirkes Haus zurückkehren!« Sie machten sich auch flink an die Arbeit, nur Eurylochos stand da und rührte keinen Finger. »Seid ihr närrisch geworden?«, sagte er wütend zu den anderen. »Warum wollt ihr in euer Verderben rennen? Habt ihr schon vergessen, wie der tapfere Odysseus euch zwang, mit ihm in der Höhle des Kyklopen zu bleiben, und wie unsere Freunde seine Tollheit mit dem Leben bezahlten? Ich sage euch, Kirke wird uns alle in Schweine, Wölfe oder Löwen verwandeln und wir werden dann ihr Haus bewachen müssen!«

Odysseus hörte es und seine Hand zuckte nach dem Schwert. Zwar war Eurylochos sein Verwandter, aber, bei den Göttern, wenn er versuchte, die Gefährten aufzustacheln, dann sollte er es büßen!

Aber die Männer redeten ihm gütlich zu und besänftigten seinen Zorn. »Wir wollen ihn hier beim Schiff zurücklassen, wenn du es befiehlst«, sagten sie. »Und nun führe uns zu Kirkes Haus, es gelüstet uns, die Freunde wiederzusehen!«

Sie gingen und Eurylochos blieb trotzig und allein beim Schiff zurück. Aber nach einer Weile folgte er ihnen langsam: Denn er wollte nicht, dass Odysseus ihm zürnte.

So fanden sie sich nach einer Weile in Kirkes Haus und Kirke war so freundlich gegen ihre Gäste und bewirtete sie so reichlich, dass es ihnen über die Maßen gefiel.

Tag um Tag verging, sie merkten es kaum.

Odysseus dachte zuweilen: »Ich will heimfahren nach Ithaka!«

Aber dann vergaß er es wieder.

Ithaka schien ferner denn je und er wusste nicht einmal, wo es lag. Wie sollte er da den Weg finden?

Kirke aber ging unter ihnen umher und lächelte und sah sehr lieblich aus.

So kam es, dass ein Jahr verstrich, ehe sie es gewahr wurden. Als die langen Tage wieder heraufzogen, begannen aber die Männer, ungeduldig zu werden. Und eines Tages sprachen sie zu Odysseus: »Wann gedenkst du endlich heimzukehren in das Land deiner Väter?«

Odysseus war es, als erwache er aus einem Traum. Zugleich überkam ihn eine große Traurigkeit, weil er so lange die Heimat und die Seinen vergessen hatte.

Mit einem tiefen Atemzug richtete er sich auf. »Wir fahren, Freunde!«, sprach er entschlossen. »Geht hinab an den Strand und bringt alles aus den Höhlen auf das Schiff! Ich will indessen mit Kirke reden.«

Kirke empfing ihn so freundlich wie stets. »Nun musst du uns ziehen lassen!«, sagte er schnell: Denn es fiel ihm schwer, dies zu sagen.

Ihr Gesicht verdüsterte sich jäh. Einen Augenblick saß sie regungslos da, dann stand sie auf und ging schweigend ein paar Schritte von ihm fort.

»Ich kann dich nicht zwingen zu bleiben, wenn du gehen willst«, begann sie nach einer Weile zu reden und ihre Stimme klang traurig. »Ich habe geschworen, dir und deinen Gefährten kein Leid mehr zuzufügen: Das muss ich halten. So fahre heim nach Ithaka, wenn du dich danach sehnst – und wenn dies dein Schicksal ist«, fügte sie ungewiss hinzu.

Plötzlich wandte sie sich zu ihm zurück. »Aber du kennst ja weder die Himmelsrichtung noch die Pfade des Meeres, denen du folgen musst. Dieses Eiland liegt weit von allen bewohnten Küsten entfernt und andere Schiffe kommen hier niemals vorüber. Es gibt einen einzigen Ausweg für dich, wenn du nicht von Neuem in die Irre fahren willst: Du musst zum Reich des Hades hinabsteigen! Dort wirst du unter den anderen Toten die Seele des blinden Sehers Teiresias finden. Er ist der Einzige unter den Abgeschiedenen, dem die schreckliche Persephoneia die Sinne der Lebenden nicht genommen hat: Alle anderen sind dort drunten nichts mehr als flatternde Schatten.«

Odysseus hatte mit Grausen zugehört. »Wie soll ich als Lebender zu den Toten hinabsteigen?«, stöhnte er. »Kein Mensch ist je in einem Schiff zum Reiche des Hades gefahren! Und wer vermöchte mir wohl, den Weg zu weisen?«

»Sorge dich nicht darum!«, sagte Kirke. »Richte den Mast auf und setze die Segel und dann lass das Schiff steuerlos treiben, wohin der Nordwind es treibt. So wirst du an die Grenzen des Okeanos kommen, wo an einem öden Strande Persephoneias Hain sich hinzieht: Nur hohe schwarze Pappeln wachsen dort und Erlen und Weiden, die keine Frucht tragen. Dort lege dein Schiff an und begib dich zum Haus des Hades. Du wirst an einen Felsen kommen, wo der Kokytos und der Pyriphlegeton, die Ströme des Totenreiches, sich in den Acheron ergießen. Geh ganz nahe heran, höhle am Fuße des Felsens eine Grube aus, eine Elle im Geviert, und gieße ringsum das Opfer für die Toten: Honig, Wein und Wasser, bestreut mit weißem Mehl. Auch musst du den Schatten geloben, daheim in Ithaka ein junges Rind für sie alle zu opfern und der Seele des Teiresias noch ein Schaf gesondert.

Wenn du dies alles versprochen hast, so schlachte einen Widder und ein Schaf, beide fleckenlos schwarz, und lass ihr Blut in die Grube fließen: Dann werden alsbald die Schatten der Toten herbeikommen und von dem Blut zu trinken begehren: Denn dies verleiht ihnen für eine kurze Frist wieder menschliche Sinne. Aber erlaube es ihnen nicht, ehe du nicht Teiresias gesehen und befragt hast. Er wird dir sogleich erscheinen und dir verkünden, ob die Götter dir die Heimkehr vergönnen, welchen Weg du wählen sollst in der endlosen Weite des Meeres und welches Geschick in deinem Hause auf dich wartet.«

So sprach Kirke und Odysseus fragte sich bekümmert, ob es ihm wohl gelingen mochte, alles richtig zu vollbringen, was sie ihm riet.

Als das Schiff zur Fahrt gerüstet war, nahmen sie Abschied.

Kirke stand am Tor; sie trug ein schimmerndes Gewand mit einem gestickten Gürtel und ein silberner Schleier verhüllte ihr Haupt.

Sie schien den Männern schöner denn je. Aber sie sah sehr traurig aus.

Während Odysseus mit den anderen zum Strand hinabging, dachte er sorgenvoll an die vielen Dinge, die ihm aufgetragen waren, damit er nichts davon vergäße. »Das Blut eines Widders und eines Schafes, beide fleckenlos schwarz«, fiel ihm plötzlich ein. Ja, aber er besaß weder Widder noch Schaf! Woher sollte er sie nehmen? Aber als sie zum Schiff kamen, waren da ein Widder und ein Schaf angebunden, beide fleckenlos schwarz. Kirke hatte die Tiere gebracht, ohne dass es jemand gewahr wurde.

Unsichtbar glitt sie jetzt an den Männern vorüber. Denn auch dies vermögen die Unsterblichen: zu kommen und zu gehen, ohne dass Menschen sie sehen.

Odysseus blickte sich um. »Es ist ein Glück, dass ich diesmal keinen meiner Gefährten verloren habe«, sagte er zu sich. Aber er irrte sich.

Einer fehlte: und das war Elpenor.

Elpenor war der jüngste unter den Männern, weder sonderlich tapfer im Kampf noch allzu reich mit Verstand gesegnet.

Er hatte beim Mahl viel Wein getrunken und davon war er müde geworden. So stieg er auf das Dach des Hauses, wo es kühl war, und schlief alsbald ein. Niemand vermisste ihn. Nach langer Zeit weckte ihn der Lärm des Aufbruches. Er schrak empor, und von Wein und Schlaf benommen, vergaß er, die breite Treppe hinabzusteigen, sondern rannte geradewegs über den Rand des Daches hinaus und stürzte in die Tiefe. Da brach sich der Arme das Genick und seine Seele fuhr zum Hades. –

Ehe sie zu Schiff gingen, rief Odysseus noch einmal die Gefährten zu sich. Fast hatte er Angst davor, ihnen zu sagen, was sie doch wissen mussten.

»Freunde«, sprach er, »ihr glaubt, wir fahren jetzt heim nach Achaia! Aber es ist nicht wahr. Wir müssen hinab zum Reich des Hades, um den Seher Teiresias über die Reise und unser künftiges Schicksal zu befragen. Sonst werden wir abermals in die Irre fahren und die Heimat nie wiedersehen!«

Da begannen sie, zu jammern und zu wehklagen, setzten sich in den Staub und rauften ihre Haare; denn es graute ihnen vor dem Totenreich, das noch nie ein Mensch im Leben gesehen hatte. Aber sie wussten, da half kein Weinen und Klagen, da es ihnen nun einmal bestimmt war. So zogen sie das Schiff ins Wasser, richteten den Mastbaum auf und setzten die Segel. Dann saßen sie schweigend und bekümmert auf dem Deck und warteten und alsbald erhob sich ein starker, stetiger Nordwind und trieb das Schiff schnell vor sich her.

Den ganzen Tag lief es so durch die graue Salzflut. Als die Sonne unterging, kamen sie an die Grenze des Okeanos. Vor ihnen am Strand lag die Stadt der Kimmerier in düsterem Schatten. Niemals besuchte Helios, der leuchtende Gott, dieses Land, stets umhüllen es Nebel und schreckliche Nacht.

Da legten sie am Ufer an, nahmen die Schafe mit sich und gingen am Hain der Persephoneia entlang bis zu dem Felsen, den Kirke beschrieben hatte.

Odysseus zog sein Schwert und höhlte eine Grube aus, und während sie die Götter des Totenreiches anriefen, gossen sie ringsum das Opfer für die Abgeschiedenen aus: Honig, Wein und Wasser, mit weißem Mehl bestreut.

»Und wenn ich glücklich heimgekehrt bin nach Ithaka, will ich das schönste junge Rind meiner Herden opfern und der Seele des Teiresias noch ein Schaf gesondert«, beendete Odysseus seine Gebete.

Dann schnitt er den Schafen die Kehle durch und ließ das Blut in die Grube fließen.

Da begann es, ringsum aus der Tiefe aufzusteigen, ein schauriges Gewimmel von Schatten drängte sich laut heulend und schreiend heran: Krieger, Frauen, Greise und Jünglinge …

Den Männern stockte das Herz vor Entsetzen. »Oh, ihr Götter, was ist das?«, murmelte Odysseus mit zusammengebissenen Zähnen und streckte hastig sein Schwert über die Grube: Denn schon beugten sich die Schatten der Toten begierig hinab, um zu trinken. Davor aber hatte ihn Kirke gewarnt.

Sie wichen auch alsbald wieder mit Geheul zurück. Nur einer blieb jenseits der Grube stehen und blickte traurig herüber.

Odysseus fuhr in die Höhe. »Elpenor!«, schrie er. »Wie kommst du hier herab zu den schrecklichen Schatten? Warst du schneller zu Fuß als wir mit dem Schiff?«

Da erzählte Elpenor schluchzend, wie der Wein sein Verderben gewesen war, wie er vom Dach gestürzt und gestorben war und wie sein Leichnam unbegraben und unbeweint im Haus der Kirke liege. »Und nun bitte ich dich«, fuhr er betrübt fort, »lasst mich nicht so liegen, sondern wenn ihr zurückkehrt nach Aia, verbrennt mich samt allen meinen Waffen. Errichtet mir auch ein Grabmal am Gestade und pflanzt das Ruder darauf, das ich im Leben geführt habe, damit späte Enkel noch von mir Unglückseligem Kunde erhalten!«

Mitleidig versprach ihm Odysseus alles, was er begehrte, und Elpenor begab sich getröstet zurück zu den anderen Schatten.

Jetzt trat lautlosen Schrittes eine Frau an die Grube heran. Sie blickte Odysseus nicht an und wollte trinken, doch das Schwert hinderte sie.

Da wandte sie sich traurig ab.

Odysseus starrte sie an und etwas erschien ihm schrecklich vertraut an der schattenhaften Gestalt. Und dann ergriff ihn ein jäher Schmerz: Er erkannte, dass es seine Mutter war.

Er wollte sie rufen, aber in diesem Augenblick stieg die Seele des thebanischen Sehers Teiresias aus der Tiefe empor.

Er redete Odysseus sogleich an. »Unglücklicher, warum hast du das Licht der Sonne verlassen und was suchst du hier lebend unter den Toten? Gib die Grube frei und stecke dein Schwert ein, edler Odysseus, damit ich vom Blut trinke und dir dein und deiner Gefährten Schicksal verkünde!« Odysseus gehorchte. Der Greis beugte sich nieder und trank. Dann sah er Odysseus lange und ernsthaft an.

»Du ersehnst eine glückliche Heimkehr«, begann er endlich. »Aber die wird dir ein Gott erschweren: Denn Poseidon grollt dir noch immer, weil du Polyphem, seinen Sohn, des Augenlichtes beraubt hast. Dennoch könnt ihr vielleicht nach mancher Drangsal die Heimat erreichen, wenn es dir gelingt, die Begierde deiner Gefährten und deine eigene zu bezähmen. Ihr werdet nämlich nach langer Reise und vielen Gefahren zur Insel Thrinakia kommen, wo die heiligen Rinder und Schafe des Sonnengottes Helios weiden, dem nichts verborgen bleibt. Verschont ihr die Tiere, so werdet ihr eines Tages Ithaka wiedersehen. Raubt und tötet ihr sie aber, so künde ich Verderben für deine Freunde und für dein Schiff. Du selbst magst vielleicht entrinnen! Aber du wirst spät und ohne einen Gefährten auf fremdem Schiff heimkommen und in deinem Haus wird Unheil herrschen. Übermütige Männer werden um deine Gattin werben und deine Güter verprassen. So wirst du noch einmal kämpfen müssen, ehe dir Ruhe und Glück beschieden sind. Nun habe ich dir dein Schicksal verkündet!«

»Ich danke dir!«, sprach Odysseus. »Und es mag alles geschehen, wie es die Götter bestimmen! Aber du sollst mir noch etwas sagen. Teiresias: Ich sehe dort drüben den Schatten meiner Mutter und sie blickt mich nicht an und spricht nicht zu mir, ganz als wäre ich ein Fremder. Was soll ich tun, damit sie mich erkennt?«

»Ich will dir einen Rat geben«, antwortete Teiresias. »Wem von den Schatten du von dem Blute zu trinken erlaubst, der wird dich erkennen und zu dir reden. Wem du es aber verwehrst, der wird schweigend ins Dunkel zurückkehren.«

Als er dies gesagt hatte, stieg er wieder hinab in die Tiefe, zum Hause des Hades.

Odysseus aber wartete sehnsüchtig, dass seine Mutter näher käme und trinke: Denn er wollte sie über vieles befragen.

Sie glitt heran, neigte sich schnell über die Grube und trank. Als sie sich aufrichtete, erkannte sie ihn sogleich. »Oh, mein Sohn«, sagte sie traurig, »wie kommst du als Lebender herab in das Reich der Schatten? Es gibt keinen Weg hierher, den ein Sterblicher gehen könnte, und nur ein starkes Schiff darf es wagen, die gewaltige Flut des Okeanos zu durchqueren! Sage mir, bist du etwa immer noch zu Schiff unterwegs mit deinen Gefährten? Irrst du auf dem Meer und an fremden Küsten umher, seit du von Troja ausgefahren bist? Hast du Ithaka noch nicht wiedergesehen und deine Gattin und deinen Sohn?«

»Nein, Mutter«, antwortete Odysseus, »seit ich mit Agamemnon auszog nach Troja, bin ich nicht wieder heim nach Achaia gekommen. Und ich weiß nichts von Penelope und meinem Sohn noch auch von meinem Vater Laertes! Ich bitte dich, gib mir Kunde von ihnen allen! Sage mir auch: Wie hat dich selbst der Tod ereilt, da ich dich doch gesund zu Hause zurückgelassen habe? Ist Krankheit über dich gekommen oder hat dich Artemis mit ihren nie fehlenden Pfeilen unversehens getroffen? Leben mein Vater und Telemachos und verwaltet noch Penelope mein Haus? Haben die Männer von Ithaka mir die Königswürde bewahrt oder sie schon einem der Edlen Achaias verliehen, weil sie glauben, ich käme nicht wieder? Vielleicht denkt auch meine Gattin so und hat sich längst einem anderen vermählt? Nun sage mir die Wahrheit, Mutter!«

»Du sollst keinen Kummer haben, mein Sohn!«, sprach sie tröstend. »Noch steht Penelope getreulich deinem Hause vor und dein Königserbe ruht unangetastet bei deinem Sohne. Dein Vater aber kommt nicht mehr in die Stadt, er fühlt die Beschwerden des Alters und die Sorge um dich nimmt ihm alle Freude an festlichem Getriebe und an der Gesellschaft der Menschen. Er schläft draußen auf seinen Gütern wie sein Gesinde, im Winter neben dem Feuer und sommers in den Weinbergen auf dürrem Gras und Laub. Er trägt auch kein fürstliches Gewand mehr, sondern geht ärmlich gekleidet wie ein Knecht: So sehr bedrückt ihn die Ungewissheit über dein Schicksal. Mich aber hat weder die Göttin mit den nie fehlenden Pfeilen unversehens getroffen, noch hat mich langes Siechtum befallen. Angst und Sorge um dich, mein Sohn, haben meine Kräfte verzehrt und mir das Leben genommen.«

Da wurde Odysseus das Herz schwer vor Mitleid und er ging schnell hinüber zu ihr und wollte sie zärtlich umarmen. Aber sie entschwand ihm unter den Händen wie ein Schatten oder ein Traumbild und er streckte die Arme ins Leere. Dreimal geschah es ihm so und er vermochte es nicht zu begreifen. Da fassten ihn Schmerz und Zorn. »Warum weichst du vor mir zurück, Mutter?«, sagte er. »Oder bist du nur ein trügerisches Gebilde, das Persephoneia mir sendet zu meiner Pein?«

»Oh, mein geliebter Sohn«, sprach sie und ihm schien, dass sie jetzt weinte, »du Unseligster unter den Lebenden, nein, ich bin kein Trugbild! Denn das ist das Schicksal der Menschen nach ihrem Tode: Fleisch, Gebein und Sehnen vernichtet die Gewalt der lodernden Flamme, wenn der Geist vom Leibe geschieden ist. Körperlos fliegt die Seele zu den Schatten der Tiefe und Menschenhände vermögen sie nicht mehr zu erreichen und zu halten. Aber nun eile zurück zum Licht, mein Kind!«

Im nächsten Augenblick war sie verschwunden, er wusste nicht, wie. Odysseus wandte sich zurück zu den Gefährten, die ihn mit aufgerissenen Augen und bleichen Gesichtern umstanden.

Da taten sie ihm leid und er öffnete schon den Mund, um ihnen zu sagen: »Kommt, wir wollen schleunigst fort von hier!«

Aber jetzt näherte sich eine Schar Frauen und drängte sich um die Grube. Da lockte es ihn zu erfahren, wer sie waren, und zu hören, was sie erzählen würden, wenn sie vom Blute getrunken hatten.

Als Erste trat Tyro heran, die Geliebte Poseidons, und rühmte sich stolz ihrer vielen Söhne.

Nach ihr kam Antiope, deren Zwillingssöhne Amphion und Zethos einst das siebentorige Theben erbauten.

Alkmene erschien, die Gemahlin Amphitrions und Mutter des löwenherzigen Helden Herakles.

Zögernd nur trank Jokaste, die unselige Mutter des unseligen Ödipus, und sie vermochte vor Gram kaum zu sprechen: Denn entsetzlich war die Freveltat ihres Sohnes.

Erhobenen Hauptes schritt Iphimedeia einher. Sie hatte im Leben wenig Ehrfurcht vor den Unsterblichen. Ihre Söhne Otos und Ephialtes waren nach Orion die Stärksten und Schönsten unter den Menschen. Sie drohten den Göttern schon, als sie noch Knaben waren: Eines Tages würden sie auf den hohen Olympos den Berg Ossa türmen und auf den Ossa den waldigen Gipfel des Pelion, um so in den Himmel zu steigen. Aber Apollo tötete sie beide mit schnellen Pfeilen, ehe noch der erste Flaum an ihren Wangen spross.

Anmutig neigte sich jetzt die schöne Ariadne, die Tochter des Königs Minos von Kreta. Sie erzählte, wie Theseus sie nach Athen führen wollte, wie aber Artemis es verwehrte und sie hinab zum Reich der Schatten sandte, ohne Erbarmen mit ihrer blühenden Jugend.

Noch andere Frauen kamen, die Gemahlinnen der alten Helden und ihre Mütter und Töchter.

Aber plötzlich schienen sie zu erschrecken, als habe aus der Tiefe Persephoneia sie gerufen. Sie flohen nach allen Seiten auseinander und verschwanden im Dunkel.

Verwundert starrten Odysseus und die Gefährten in den verödeten Raum. »Wehe uns!«, stieß einer hervor. »Ich wollte, wir…« Er brach ab, weil ihm seine eigene Stimme schauerlich fremd erschien in der sausenden Stille. So schwiegen sie wieder und warteten, was nun wohl geschehen mochte.

Alsbald bevölkerte sich auch die graue Öde vor ihnen abermals mit schattenhaften Gestalten, die wie aus weiter Ferne herankamen.

Es war eine Schar von Kriegern, unterschieden sie allmählich, und ihnen voran schritt ein Held mit königlicher Würde, aber gebeugt von Gram oder Wunden.

Die Achaier schrien laut auf, als sie ihn erkannten: Denn es war Agamemnon, der König von Argos, in dessen Gefolge sie einst gegen Troja gezogen waren.

Odysseus sprang vor: Er mochte es nicht glauben.

»Agamemnon!«, sagte er stockend. »Bist du es wirklich, Agamemnon, Sohn des Atreus?« Der Schatten des Königs hatte sich zur Grube hinabgebeugt und getrunken. Jetzt streckte er Odysseus die Hände entgegen und Tränen traten in seine Augen. Aber sie vermochten einander nicht zu erreichen, der Lebende und der Abgeschiedene.

»Sag mir«, begann Odysseus wieder, »wie hat der Tod dich bezwungen, seit uns der Sturm vor Trojas Küste nach allen vier Winden auseinandertrieb? Hat dich Poseidon auf dem Meere getötet oder fremde Männer auf dem Land, denen du die Herden wegtriebst und die Frauen raubtest? Oder bist du beim Kampf um eine Festung gefallen?«

Agamemnon schüttelte gramvoll das Haupt. »Nein, nichts von all-diesem ist mir geschehen! Aber als ich heimkehrte, erschlug mich Aigisthos, der meine Gattin Klytaimnestra zur Frau genommen und mein Erbe in der Herrschaft angetreten hatte. Und während ich ahnungslos und voll Freude mich dem heimischen Gestade näherte, hatten der Verräter Aigisthos und das arglistige Weib schon meinen Tod beschlossen!«

»Wehe!«, sprach Odysseus voll Entsetzen. »Wahrhaftig, Zeus hat die Atriden mit ränkesüchtigen Frauen heimgesucht! Um Helenas willen sind viele Männer vor den Mauern Trojas gestorben und Klytaimnestra scheute sich nicht, den eigenen Gatten zu töten!« »Niemand sollte einer Frau trauen!«, sagte Agamemnon düster. »Zwar du, Odysseus, magst ruhig sein: Denn Penelope ist rechtschaffen und klug. Und wenn du eines Tages heimkehrst, wird sie dich mit deinem Sohne erwarten. Mir aber vergönnte Klytaimnestra nicht, Orestes zu sehen, der indessen zum Jüngling herangewachsen war. Sage mir«, fuhr er fort, »hast du etwas über meinen Sohn gehört? Ich weiß, er muss am Leben sein, denn noch weilt er nicht hier unter den Schatten. Vielleicht hat ihn Menelaos, mein Bruder, in sein Haus nach Sparta genommen! Oder er lebt in Orchomenos oder Pylos!«

»Ich weiß nichts von Orestes«, antwortete Odysseus bedrückt, »denn ich habe das Gestade Achaias nicht betreten, seit ich von Troja ausfuhr.«

Da ging der Schatten Agamemnons traurig von dannen und seine Krieger folgten ihm.

Währenddessen war Achilleus, der Pelide, aus dem Dunkel getreten. »Odysseus!«, rief er sogleich, nachdem er getrunken hatte. »Wagst du es sogar, herab zur Tiefe zu steigen, wo sonst nur die Schatten der Toten sinnlos taumeln? Bei den Göttern, eine größere Kühnheit kann es nicht geben!«

»Ich bin nicht aus freiem Willen gekommen«, sagte Odysseus. »Ich musste Teiresias um Heimkehr und Schicksal befragen: Denn seit wir Troja verließen, irren wir elend umher! Du aber, Achilleus, bist glücklich zu preisen unter den Männern aller Zeiten! Früher, als du noch lebtest, ehrten dich die Achaier wie einen der Götter und nun bist du ein mächtiger Herrscher hier unter den Schatten!«

»Versuche nicht, mich über meinen Tod zu trösten!«, fuhr Achilleus auf. »Ich sage dir, lieber möchte ich als armer Knecht im Licht der Sonne leben und schwere Arbeit tun als hier die ganze Schar verblichener Toter beherrschen! Aber nun gib mir Kunde von den Lebenden droben! Was weißt du von Neoptolemos, meinem Sohn, der nun wohl längst im Rat der Männer sitzt und das Schwert führt? Hast du auch von meinem Vater Peleus gehört? Ist er noch geehrt als König der Myrmidonen oder wagt man es, ihn zu missachten, weil das Alter ihn überkommen hat und ich nicht mehr da bin ihn zu schützen?«

Odysseus seufzte. Wie sollte er dies alles wissen? Aber die Toten warteten so sehnsüchtig auf Kunde von den Lebenden!

»Ich habe nichts von Peleus gehört«, entgegnete er geduldig. »Von deinem Sohne aber kann ich dir vieles sagen. Als du nicht mehr da warst, habe ich Neoptolemos selbst in meinem Schiff von Skyros geholt und er kämpfte mit uns gegen die Troer und war einer der Tapfersten. Er saß auch mit den Besten von uns im hölzernen Pferd und ich hatte alle Mühe, ihn zurückzuhalten, dass er in seinem stürmischen Mut nicht zu früh das Versteck verließ, ehe unsere Gefährten draußen vor den Mauern bereit waren. Dann fiel Troja und Neoptolemos fuhr wie die andern mit reicher Beute heimwärts, unverwundet und gerühmt wie wenige unserer Krieger!«

Als Achilleus dies gehört hatte, eilte er freudenvoll fort, mit großen Schritten hinab zur Asphodeloswiese, wo die bleichen Blumen des Totenreiches blühen.

Andere Schatten kamen und tranken und bestürmten Odysseus mit Fragen. Aber er wusste nicht viel und so gingen sie traurig wieder fort.

Zuletzt trat ein stattlicher Krieger an die Grube heran: Seine Haltung war stolz und in seinem schönen Gesicht lag düsterer Zorn.

»Ajax der Große!«, murmelten die Männer. Nach Achilleus gab es keinen gewaltigeren Kämpfer unter den Achaiern als ihn.

Odysseus hatte Ajax längst erkannt. Einmal, vor Troja, hatten sie Streit miteinander um die berühmten Waffen des toten Achilleus. Sie wurden zuletzt Odysseus zugesprochen und Ajax stürzte sich vor wahnsinniger Wut in sein Schwert. So fuhr seine Seele zum Hades.

Ajax hob den Kopf, als er getrunken hatte. Er erblickte Odysseus und in seinen Augen loderte es auf.

Aber Odysseus sagte schnell: »Grollst du mir immer noch, Ajax, wegen dieser Waffen, die doch nur mit dem Fluch der Götter behaftet waren? Denn Achilleus fiel und auch du bist ihretwegen gestorben. Tritt näher und höre mich an! Es war nicht meine Schuld, dass ich die Waffen erhielt!«

Aber Ajax sprach kein Wort. Finster wandte er sich ab und war alsbald im Gewimmel der Schatten verschwunden.

Jetzt begannen die Gefährten, Odysseus zu bedrängen.

Eurylochos packte ihn am Arm und schüttelte ihn. »Ich bleibe keinen Augenblick länger hier!«, sagte er heiser. »Ich habe es satt, verstehst du? Allenthalben streicht und huscht es vorüber, da weint es, dort seufzt es, und wo ich die Augen hinwende, wimmelt es von Schatten! Ich sage dir, mir schwindelt schon davon! Wenn du noch nicht genug Schatten gesehen hast, so bleibe meinetwegen hier! Wir gehen zum Schiff und fahren schleunigst über den Okeanos zurück. Und, bei allen Göttern, ich will froh sein, wenn ich wieder Sonnenlicht sehe statt dieser grausigen grauen Nacht!«

»Ja, wahrhaftig!«, murrten die anderen. »Kommt, wir wollen fort!

Wir werden noch lange genug hier sein, wenn wir erst gestorben sind!« Und sie begannen, eilig den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren.

Odysseus folgte ihnen langsam: Er wäre gern noch geblieben, um die alten Helden zu sehen und von ihren Schicksalen zu hören.

Zur Linken tat sich jetzt das Tor zu einem düsteren Saale auf, darin saß ein Mann mit einem goldenen Stab in der Hand und hielt Gericht über die Schatten der Toten, die seinen Thron umdrängten. Das war Minos, der Totenrichter, der im Leben über die Insel Kreta geherrscht hatte.

Nun lag die Asphodeloswiese vor ihnen. Da trieb ein Riese mit einer ehernen Keule ein Rudel Wild vor sich her: Orion, der gewaltige Jäger, der es gewagt hatte, sich mit Artemis in den Künsten der Jagd zu messen. Die Göttin aber hatte ihn mit ihren nie fehlenden Pfeilen getötet.

Nach einer Weile sahen sie ein wenig seitwärts einen Teich. Ein Mann stand darin und das Wasser reichte ihm bis ans Kinn. Er lechzte vor Durst, aber er konnte nicht trinken: Denn sooft er sich bückte, wich das Wasser zurück und versiegte und um seine Füße breitete sich trockene schwarze Erde aus. Über seinem Haupte aber hingen die Zweige der herrlichsten Obstbäume herab. Sie waren voll von Früchten: Äpfeln, Birnen, Feigen und saftigen grünen Oliven. Streckte der Greis aber die Hand danach aus, so kam augenblicklich ein Windstoß und schnellte die Zweige hoch in die Luft. Der Greis war Tantalos, der eine furchtbare Freveltat begangen hatte, um die Allwissenheit der Götter zu prüfen. Dafür büßte er ewig und der Fluch der Götter lag auf seinem ganzen Geschlecht, dem auch die Atriden Menelaos und Agamemnon entstammten.

Die Achaier eilten an ihm vorüber, abgewandten Gesichts: Denn es war schrecklich, seine Qual anzusehen, und niemand vermochte, ihm zu helfen.

Sie kamen jetzt an einem Berg vorüber, da sahen sie Sisyphos. Er wälzte einen Felsblock vor sich den Hang hinauf, sein Körper troff vor Schweiß und er arbeitete keuchend mit Händen und Füßen, bis er fast auf dem Gipfel war. Aber jedes Mal, wenn er meinte, nun brauche er den Stein nur noch über den Grat zu wälzen, überschlug sich der tückische Felsen und rollte wieder den Hang hinab zur Wiese. Und Sisyphos begann, stöhnend vor Verzweiflung, von Neuem sein vergebliches Bemühen. Er war im Leben schlau und gewinnsüchtig und gründete die reiche Stadt Korinth, die aber kein Wasser hatte. So verriet Sisyphos, als Zeus die Tochter des Flussgottes Asopos entführte, dem Vater ihr Versteck und erhielt zum Dank dafür eine starke Quelle. Der grimmige Zeus aber sandte ihm Thanatos, den Tod. Doch Sisyphos überwand und fesselte ihn, sodass auf der Welt niemand mehr starb, bis Ares, der Kriegsgott, den Tod befreite. Nun musste Sisyphos zum Hades hinab. Aber er überlistete selbst den Totengott, kehrte wieder auf die Erde zurück und starb erst im hohen Alter. Da ereilte ihn die Strafe der Götter.

Allmählich näherten sich die Achaier der Grenze des Totenreiches. Dort kam ihnen Herakles entgegen, der gewaltigste Held der Vorzeit. Sie wussten, es war nur sein Schattenbild: Denn er selbst wohnte bei den Unsterblichen auf dem Olympos, da er ein Sohn des Zeus war und der Gatte der zierlichen Hebe, die den Göttern Nektar und Ambrosia kredenzt.

Neugierig starrten die Männer den berühmten Helden an, von dessen kühnen Taten die alten Gesänge berichteten. Rings um ihn war ein Geschwirr von flatternden Schatten, schreiend wie aufgescheuchte Vögel. Er aber stand da, düster wie die Nacht, blickte wild um sich und hielt den Bogen gespannt und den Pfeil auf der Sehne, als käme eines der Ungeheuer auf ihn zu, die er im Leben erlegte. Sie wussten es alle: Herakles musste ehemals seinem Vetter Eurystheus dienen, der über das Geschlecht der Perseiden herrschte. Eurystheus war ein schwächlicher Mann, der aus Neid den starken Herakles die gefährlichsten Abenteuer bestehen hieß. So erwürgte der Held den Löwen von Nemea, der unverwundbar war, mit den bloßen Armen. Von da an trug er statt eines Helmes den Schädel des Löwen auf seinem Haupte und das Fell diente ihm als Mantel. Er schlug die Hydra, eine riesige Schlange mit unzähligen Köpfen, die im Sumpfe von Lerna hauste. Er fing die menschenfressenden Rosse des Diomedes und befreite die Welt von anderen schrecklichen Ungeheuern. Zuletzt holte er auf Befehl seines Vetters den Kerberos, den dreiköpfigen Hund des Totenreiches, schleppte ihn vor Eurystheus und brachte ihn wieder zurück in die Unterwelt.

Jetzt erblickte er Odysseus und redete ihn sogleich an. »Unglückseliger, mich dünkt, dich verfolgt ein böses Geschick wie mich, als ich noch droben im Sonnenlicht lebte! Immer musste ich dem geringeren Manne dienen und die gefährlichsten Taten für ihn verrichten! Aber ich habe alles vollbracht: Selbst den schrecklichen Kerberos schleppte ich fort aus dem Haus des Hades mithilfe des Hermes und der helläugigen Göttin.«

Die Männer lauschten begierig und warteten, dass er noch mehr erzähle. Aber da schwirrten mit entsetzlichem Geschrei neue Scharen von Toten heran. Jetzt ergriff selbst den tapferen Odysseus Angst. Wer weiß, vielleicht sendet mir Persephoneia zuletzt noch die Gorgo herauf, das grässliche Scheusal, bei dessen Anblick die Menschen versteinern, dachte er schaudernd und mahnte die Gefährten, eilig zu Schiff zu gehen.

Alsbald ruderten sie zurück über den Okeanos und dann füllte günstiger Wind die Segel und trieb sie schnell zur Insel Aia, wo Kirke auf sie wartete.

Die Sonne war schon untergegangen, als sie am Gestade anlegten. So streckten sich die Männer im Sande aus, um zu schlafen, müde und froh, den Schrecken des Totenreiches entronnen zu sein.

Die Abenteuer des Odysseus

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