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DER BEFUND

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Wir befinden uns in einer beispiellosen Lage. Die Zukunft ist in Gefahr. In der ganzen Erdgeschichte hat sich keine Spezies von Lebewesen jemals so verhalten wie die Menschen. Uns stellt sich heute die Frage, ob eine Zukunft überhaupt noch möglich ist. Wir stehen vor einer gewaltigen, vielschichtigen Herausforderung; sie betrifft alle Lebewesen und muss sowohl unter dem Gesichtspunkt der Spezies als auch unter dem der Individuen betrachtet werden.

Die Erde ist fast halb so alt wie das Universum, sie ist ein alter Planet, der eine bewegte, ereignisreiche Geschichte hinter sich hat. Von der Gravitationskondensation von Staubteilchen bis zum großen Meteoritenbombardement waren ihre Anfänge stürmisch. Doch das Leben erschien ziemlich schnell, vor fast 4 Milliarden Jahren. Inmitten von heißen Quellen erkundete die Materie diesen unverwechselbaren, vielleicht einzigartigen Zustand, der so schwer zu definieren und doch so offensichtlich zu erkennen ist. Man weiß nicht so genau, was das Leben ist. Man kann Definitionen aufstellen. Aber würde außerirdisches Leben diesen Definitionen entsprechen? Und wenn das nicht der Fall wäre, wie könnten wir dann wissen, ob es sich tatsächlich um Leben handelt?

Das Leben (oder eigentlich: die Lebewesen) birgt immer noch großen Zauber und viele Geheimnisse. Das Leben schlägt so viele völlig unterschiedliche Wege ein, und diese sind so erfinderisch und unvorhersehbar, dass sie diejenigen, die sie erforschen, immer wieder überraschen und berühren. Jeden Tag werden wahre Schätze an Einfallsreichtum und Schönheit entdeckt, die uns in Erstaunen und Bewunderung versetzen. Man muss nicht bis in die Antarktis fahren und dort Pinguine beobachten: In jedem Quadratmeter Wiese verbergen sich Dutzende von Insekten, deren komplexe Struktur und vielschichtiges Verhalten sich mit einer einfachen Lupe betrachten lassen. Jeder von uns ist ein Teil dieses gewaltigen Gefüges, das aus einer langen, sehr langsamen Evolution hervorgegangen ist. Es ist äußerst zerbrechlich und heute stark gefährdet. Sein Zusammenbruch ist sogar schon im Gange.

Auch die Menschheit treffen die verheerenden Schäden, die sie doch selbst verursacht hat, mit voller Wucht. Auf über der Hälfte der Erdoberfläche (die von mehr als zwei Dritteln der Erdbevölkerung bewohnt wird) ist der Verlust der Biodiversität schon derart massiv, dass sie die lebensnotwendigen Bedürfnisse der Menschen möglicherweise nicht mehr sichern kann. Und das ist ja nun auch nicht ihr einziger Sinn und Zweck.

Sehen wir uns einmal rasch einige ungeordnete Bruchstücke an. Schauen wir uns zunächst einmal ein wenig um, um herauszufinden, wo wir heute stehen.

Auf der Erde leben etwa 10 Millionen Arten von Lebewesen. Jede von ihnen ist aus einer einzigartigen Geschichte voller überraschender Wendungen hervorgegangen.

Das sechste große Artensterben in der Erdgeschichte ist im Gange, daran besteht kein Zweifel mehr. Kürzlich haben zwei Forscher des Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung (CNRS) in Frankreich 13.000 Artikel aus den wichtigsten Fachzeitschriften der Naturschutzbiologie analysiert (dies umfasst die Arbeiten von mehr als 100.000 Wissenschaftlern). Das Ergebnis ist völlig eindeutig, es lässt keinen Zweifel daran zu, dass eine Katastrophe im Gange ist: Das Leben liegt im Sterben, und dieser an und für sich schon erstaunlich schnelle Prozess beschleunigt sich aktuell noch. Von den Vögeln über die Säugetiere und Fische bis zu den Insekten sind alle Klassen betroffen.

Innerhalb von 40 Jahren sind in Europa mehr als 400 Millionen Vögel verschwunden, in den Vereinigten Staaten sind es über 3 Milliarden.1 Weltweit ist etwa die Hälfte der Populationen der wild lebenden Arten drastisch geschrumpft. Wenn auch einige Gebiete stärker betroffen sind, zeigt sich doch überall die Tendenz zu einer drastischen Abnahme der Populationen.

Den Berichten des Weltklimarats zur Biodiversität zufolge hat sich das Artensterben seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts verhundertfacht. Und gleichzeitig mit diesem alarmierenden Schwinden der Vielfalt der Lebewesen zeigt sich ein drastisches Einbrechen der Populationen. Selbst wenn eine Tierart noch nicht ganz ausgestorben ist, sterben zahllose Tiere. Seit 1990 ist die Anzahl der Fluginsekten in Deutschland um 80% gefallen. Es gibt nur noch ein paar Tausend Geparde, die Anzahl der Löwen hat sich in 30 Jahren halbiert, die Orang-Utans sind vom Aussterben bedroht. In nur 11 Jahren ist mehr als ein Drittel der Fledermäuse verschwunden.

Das Massensterben hat erschreckende Ausmaße angenommen.

Streng genommen bedeutet das Aussterben einer Art, dass kein Einziger ihrer Vertreter mehr am Leben ist, nicht einmal in einem Zoo. Auch unter dieser sehr engen Definition sterben zahlreiche Arten aus, und das Tempo des Aussterbens beschleunigt sich laufend. Aber das ist in diesem Stadium nicht einmal das aussagekräftigste Kriterium: Vor allem gibt es immer weniger Lebewesen auf der Erde. Dieses „Verschwinden des Lebens“ wird von den Fachleuten zuweilen als „biologische Vernichtung“ bezeichnet. Die Populationen brechen ein. Einige Studien kommen zu dem Schluss, dass die Anzahl der Wirbeltiere seit 1970 um 60% zurückgegangen ist. Bei vielen Wirbellosen ist die Situation noch schlimmer. In der Tat findet hier ein weltweites Massenverbrechen statt, das völlig ungestraft bleibt.

Jedes Jahr wachsen die Städte um etwa 400 Millionen Quadratmeter, und die Zerstörung der Wälder für die Landwirtschaft ist noch besorgniserregender. Weltweit bleibt nur ein Viertel der Landflächen von größeren menschlichen Eingriffen verschont. In 30 Jahren werden nur noch 10% übrig sein, größtenteils in den Wüsten, Berggebieten und Polarregionen.

Durch Umweltverschmutzung kommen wahrscheinlich etwa dreimal mehr Menschen ums Leben als durch AIDS. Sie verursacht jährlich etwa 6 Millionen Tote und nimmt erheblich zu, insbesondere in armen Ländern und in Gebieten, in denen sich die Industrie rasch entwickelt.

Heute herrscht in 17 Ländern „Wassernotstand“ und in 27 weiteren (einige davon liegen in Europa) „große Wasserknappheit“. Für mindestens ein Viertel der Weltbevölkerung könnte bald das Wasser knapp werden.

An einem einzigen Tag sind im Sommer 2019 in Grönland mehr als 11 Milliarden Tonnen Eis geschmolzen. Im gleichen Sommer nahmen die verheerenden Brände in Amazonien um 83% zu.

In den Schelfmeeren sind in 100 bis 200 Metern Wassertiefe nur noch 1 bis 2% der einstigen Fischpopulationen übrig.

Die Zerstörung eines Gutteils des Great-Barrier-Korallenriffs – ein Ort, der zu Recht als Sinnbild der Biodiversität gilt – ist schon weit fortgeschritten. Die Mangroven gehen rapide zurück. Riesige Flächen am Meeresgrund sind durch Förderaktivitäten völlig verwüstet.

Durch das Abschmelzen der Gebirgsgletscher wird zunächst zu viel Süßwasser freigesetzt, anschließend wird das Wasser dann für die etwa 2 Milliarden Menschen, die direkt davon abhängen, schnell knapp werden.

Die Phänologie2 der Pflanzen verändert sich rasch und trägt zum Zusammenbruch der Artenvielfalt in der Pflanzenwelt bei. Dadurch verstärkt sich wiederum die Erderwärmung: Wenn die Anzahl der Arten abnimmt, steigen der Stickstoffgehalt und die Temperatur der Böden. So kommt es zu immer neuen Kettenreaktionen.

Die Pflanzen verschwinden mit einer Geschwindigkeit, die 350-mal über der historischen Norm liegt.

Mehr als 15 Milliarden Bäume werden jedes Jahr vernichtet, nur 46% des vor dem Beginn der Landwirtschaft vorhandenen Baumbestands sind heute noch übrig.3

Ungefähr 1000 Milliarden Meerestiere werden jedes Jahr vom Menschen getötet. Wenn die Fischernetze eingeholt werden, platzt durch die Dekompression die Schwimmblase, die Augen treten aus den Augenhöhlen, oftmals tritt der Magen durch das Maul aus. Die Überlebenden sterben langsam, sie ersticken oder werden erdrückt, dabei kann angesichts der kognitiven und sensorischen Fähigkeiten der Fische kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sie Schmerz empfinden. Zahlreiche Arten sind bedroht. 30 Millionen Quadratkilometer Meerwasser werden heute von Fischernetzen durchsiebt: Es handelt sich um eine kontinuierliche, undifferenzierte, gnadenlose Zerstörung.

Allein 2016 summierte sich die industrielle Fischerei auf mehr als 40 Millionen Stunden Arbeitszeit, die Schiffe haben 19 Milliarden kWh Energie verbraucht und 460 Millionen Kilometer zurückgelegt (das ist mehr als das 35 000fache des Durchmessers der Erde). Drei Viertel der Meeresoberflächen sind betroffen.

Die Süßwasserfische verschwinden noch schneller, der drastische Rückgang der Populationen wird auf etwa 4% pro Jahr geschätzt. In den letzten 40 Jahren sind die Populationen der großen Arten wahrscheinlich um 88% geschrumpft. Und aktuell sind 3700 Stauwerke im Bau oder in Planung. Sie sind einer der Hauptgründe für diesen dramatischen Schwund.

Auch die Biomasse des Zooplanktons scheint rasch abzunehmen, was erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Nahrungskette hat.

Vor Kurzem haben Untersuchungen, die in Belgien an toten Meisenküken durchgeführt wurden ergeben, dass 95% der entnommenen Proben Pestizide enthielten. Mehr als 36 verschiedene Typen wurden dabei nachgewiesen, darunter DDT, das doch schon seit Jahrzehnten verboten ist.

Das Leben auf der Erde ist also in Gefahr, sowohl auf der Ebene der Arten als auch auf der der Individuen. Die Menschen stellen 0,01% der Lebewesen auf der Erde, haben aber seit Anbeginn der Zivilisation 83% der Verluste in der Tierwelt verursacht – eine beispiellose Massenvernichtung, die nun auch zunehmend den Menschen selbst großen Schaden zufügt.

Der Hauptgrund für diese Vernichtung des Lebens (denn es geht nicht nur um rein zahlenmäßige Biodiversität) ist mit Sicherheit das Verschwinden der Lebensräume für andere Arten als den Menschen sowie die Zerstückelung der Lebensräume. Mehr als 75% der Landflächen auf der Erde sind heute vom Menschen geschädigt. Die Tiere haben nirgendwo mehr Platz zum Leben. Die Allgegenwart des Menschen und seiner Infrastrukturen hat derartige Ausmaße angenommen, dass einige tagaktive Arten nun nachts aktiv sind, um sich wieder ein wenig Freiraum zu verschaffen. Der maßlose Expansionsdrang des Menschen ist der Hauptgrund für den Niedergang der anderen Lebensformen. Beispielsweise sind 95% der Hochgrasprärien in Nordamerika und 50% der tropischen Savannen völlig vom Menschen vereinnahmt worden. Diese Tendenz beschleunigt sich und verbreitet sich fast überall.

Die anderen Gründe für das Zusammenbrechen des Lebens sind ebenfalls bekannt: Das Einführen invasiver Arten kann für andere Tiere tödlich sein, der Raubbau an den Ressourcen hat dramatische Folgen und die Umweltverschmutzung hat sowohl auf kürzere als auch auf lange Sicht verheerende Konsequenzen. Dazu kommen noch die „Kettenreaktionen“ (die Auslöschung einer Art führt zur Auslöschung der Arten, die ohne sie nicht überleben können). Auch die intensive Landwirtschaft und die Pestizide spielen beim rasanten Niedergang der Artenvielfalt eine zentrale Rolle.

Der Klimawandel ist also ganz und gar nicht der einzige alarmierende Grund zur Sorge. Nichtsdestoweniger bleibt er selbstverständlich ein wesentlicher Aspekt der ökologischen Katastrophe, die im Gange ist, und er wird eine immer wichtigere Rolle spielen. Die neuesten publizierten Studien bestätigen, was schon lange bekannt ist: Es gibt sehr wohl ein Phänomen der Erderwärmung, und es ist vom Menschen verursacht (statistisch gesehen liegt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Aussage falsch ist, bei unter 0,0005%). Dieser Temperaturanstieg ist alarmierend, weil er in einer viel zu kurzen Zeitspanne stattfindet, so dass sich die Lebewesen nicht anpassen können, wie es ihnen zuweilen in der Vergangenheit gelang. Wir befinden uns in einer beispiellosen, einzigartigen Situation.

Es ist heute schwierig, das Ausmaß der bevorstehenden Erderwärmung genau zu beziffern. Aber die immer neuen Aktualisierungen der Vorhersagen deuten darauf hin, dass ein Kippeffekt nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Unkontrollierbare Kettenreaktionen werden in Gang kommen und das zerbrechliche Gleichgewicht auf unserem Planeten zum Zusammenbruch bringen. Dies wird auf alle Fälle Konsequenzen haben: Der Meeresspiegel wird ansteigen, das Packeis und die Polkappen werden in großem Maße abschmelzen, Inseln und Küstenstädte werden untergehen, es wird häufig verheerende Brände geben, in allen Bereichen des Lebens werden massiv Arten aussterben, schwere Krankheiten werden beträchtlich zunehmen, es wird immer mehr Zyklone, Stürme und Überschwemmungen geben, katastrophale Hitzewellen werden mit einem erheblichen Voranschreiten der Wüsten und einem starken Einbruch der Tierpopulationen einhergehen.

Die neuesten Berechnungen, die von französischen Klimatologen veröffentlicht wurden, deuten darauf hin, dass der Temperaturanstieg am Ende des 21. Jahrhunderts, wenn sich nichts ändert, wahrscheinlich eher 7 Grad betragen wird.

Einer kürzlich erschienenen Studie zufolge wird der Anteil der Menschen, die am Ende dieses Jahrhunderts potenziell tödlichen Hitzewellen ausgesetzt sein werden, die mehr als 20 Tage dauern, bei mehr als 74% liegen. In der Sahelzone gab es kürzlich eine Dürreperiode, wie es sie dort seit mindestens 1600 Jahren nicht gegeben hat. In wenigen Jahrzehnten hat die Anzahl der Waldbrände um den Faktor 4,5 zugenommen; allein in den Vereinigten Staaten belaufen sich die Kosten der letzten Wetterkatastrophen auf geschätzte 300 Milliarden Dollar. Auf der ganzen Welt wird es zwangsläufig zahlreiche Flüchtlinge geben.

Wenn man nur das Beispiel dieser Klimaflüchtlinge betrachtet, deren Anzahl man in den nächsten 30 Jahren auf ungefähr 200 bis 500 Millionen (vielleicht auch mehr) schätzt, kann man die Ausmaße dieses Problems leicht erkennen: Ohne jeden Zweifel wird diese Situation auf der ganzen Welt zu Kriegen und erheblichen Konflikten führen. Ein Blick auf die Geschichte lässt kaum andere Vorhersagen zu. Den Vereinten Nationen zufolge hat die Dürre in Afghanistan 2018 mehr Menschen dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, als Gewaltakte.

Im Sommer 2018 überstieg die Temperatur in Algerien 51 Grad (im Schatten); in Oman fiel die Temperatur nachts innerhalb eines kompletten 24-Stunden-Zyklus nicht unter 42 Grad. Zwei Jahre zuvor maß man in Kuwait 54 Grad. Bei solchen Temperaturen läuft der menschliche Körper aus dem Ruder. Das Blut fließt in die Kapillargefäße der Haut, die Durchblutung lebenswichtiger Organe wird eingeschränkt, das Gehirn nicht mehr versorgt. Das Herz pumpt Blut bis zur Erschöpfung.

Viele einwohnerreiche Länder sind dabei, für Menschen unbewohnbar zu werden. Bis 2070 hochgerechnet betrifft dies insbesondere große Teile von China.

Auch die Tiere müssen diese unerträglichen Temperaturen erdulden, trotz erheblicher Wanderbewegungen werden sie immens dezimiert. Wenn die Temperatur zu stark ansteigt, werden einige normalerweise „kooperative“ Arten „aggressiv“, sie verhalten sich nicht mehr der Situation angemessen. Viele Vögel, Säugetiere und Wirbeltiere haben nur noch ein paar Jahrzehnte zu leben. Und auch die Pflanzenwelt trifft es mit voller Wucht: Ein Viertel der Arten ist auf kurze Sicht bedroht.

Namibia wurde kürzlich von einer historischen Dürre heimgesucht. Die dort lebenden Menschen und Tiere sterben massenhaft an Durst und Hunger. 2 Jahre lang gab es keinen Tropfen Regen: Auf riesigen, nicht mehr bewohnbaren Landflächen liegen Kadaver und Skelette verstreut.

Das Artensterben wird in 30 Jahren hundert- bis tausendmal schneller voranschreiten als gewöhnlich. Nach Einschätzung der UNO werden wir einer „direkten existenziellen Bedrohung“ gegenüberstehen, wenn wir nicht in den nächsten zwei Jahren eine radikale Wende vollziehen. Diese Worte haben eine schwerwiegende Bedeutung. Da das System „Planet Erde“ nicht linear funktioniert, gibt es eine gewisse Anzahl von Stadien: Wenn das nächste Stadium erreicht ist, können selbst radikale Entbehrungen den Verlauf nicht mehr aufhalten, dafür braucht es lange Zeit, und die Schäden sind im Wesentlichen irreversibel. Außerdem unterstreicht die UNO, dass die angestrebten Ziele völlig unzureichend sind. Und doch werden selbst diese Ziele heute überhaupt nicht erreicht. Die Kluft zwischen der tatsächlichen und der eigentlich notwendigen Entwicklung wird ständig größer.

Wenn man die letzten 50 Jahre betrachtet, stellt man fest, dass die CO2-Konzentration in der Luft nicht nur zunimmt: Die Zunahme beschleunigt sich sogar in einem Ausmaß, das mit den natürlichen Schwankungen, die man über die letzten 800 000 Jahre zurückverfolgen kann, nicht vergleichbar ist.

Das Schmelzen der Permafrostböden setzt Methan (und auch besorgniserregende Krankheitserreger) frei, welches eine noch viel stärkere Erderwärmung bewirkt als das CO2. Permafrostböden und Gletscher sollen zusammen etwa 800.000 Tonnen Quecksilber enthalten, die bei ihrem Abschmelzen ins Trinkwasser gelangen werden.

Zugleich beträgt die Fläche des „Kontinents aus Plastikmüll“ im Pazifik inzwischen das Dreifache des kontinentalen Frankreichs, und der letzten erschienenen Studie zufolge nimmt die Masse dieser 1,6 Millionen Quadratkilometer Müll exponentiell zu. Man schätzt, dass das Plastik in den Meeren jedes Jahr etwa eine Million Vögel und 100 000 Meeressäuger das Leben kostet. Wenn sich die aktuelle Tendenz fortsetzt, wird die Produktion von Müll in den nächsten 30 Jahren um 70% zunehmen und dann bei mehr als 3 Milliarden Tonnen liegen. Dies hat dramatische Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und auf die Umwelt, und diese verursachen paradoxerweise viel mehr Kosten als eine drastische Verringerung dieser Schadstoffe. Wir produzieren heute jedes Jahr etwa 250 Millionen Tonnen Plastikmüll. Um von einem anderen Gebiet zu sprechen: Ungeheure Mengen von Felsgestein und Sand werden zur Herstellung von Beton verwendet. Mehr als 81% des Mülls werden weder recycelt noch kompostiert. Eine Plastikflasche braucht fast 1000 Jahre, um sich zu zersetzen.

In den urbanisierten Gebieten sind 80% der Bevölkerung Verschmutzungswerten ausgesetzt, die die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation nicht einhalten, und man stellt fest, dass diese Werte zwischen 2008 und 2013 um 8% angestiegen sind.

Weltweit sterben jährlich etwa 5 Millionen Menschen durch verschmutztes Wasser, und dessen tödliche Auswirkungen auf verschiedene Tierarten und -populationen nehmen rapide zu.

Erst kürzlich hat die französische Regierung eine Genehmigung für die Fangjagd auf 150 000 Vögel erteilt, das sind mehr als im Vorjahr; hierbei kommen grausame Methoden zur Anwendung, die keine Selektierung ermöglichen (insbesondere der Gebrauch von Leimruten).4

Jedes Jahr verschwinden 80 000 Quadratkilometer Wald. Diese Zahl nimmt ständig zu (die Zerstörung des Waldes geht nicht einfach nur weiter, sondern auch sie beschleunigt sich). Beim aktuellen Tempo werden die Primärwälder in Paraguay, Laos und Äquatorialguinea in den nächsten zehn Jahren verschwinden. Im darauffolgenden Jahrzehnt werden dann wohl mehrere andere Länder in Afrika und Asien betroffen sein.

Dabei waren noch vor vierhundert Jahren zwei Drittel der Erdoberfläche (ohne die Ozeane) bewaldet.

In 70% der Wälder auf der Erde ist der Waldrand von jedem beliebigen Punkt aus weniger als einen Kilometer entfernt. Seit 2017 steigen die CO2-Emissionen weltweit wieder an. Nur der „Coronavirus-Effekt“ scheint diese Tendenz – vorübergehend – ein wenig aufgehalten zu haben. Die Emissionen liegen heute bei 41 Milliarden Tonnen pro Jahr – das ist ein neuer historischer Rekord. Die Hypothese, dass die Erderwärmung die Vorhersagen weit übertreffen könnte und durch den Dominoeffekt unkontrollierbare Kettenreaktionen in Gang kommen werden, wird heute sehr ernst genommen. Im Jahr 2018 schien sich die Zunahme der Emissionen tatsächlich noch zu beschleunigen – dabei wäre eine Senkung der Emissionen um 40% innerhalb der nächsten 10 Jahre erforderlich, um die Erhöhung der Temperatur auf ein Ausmaß zu begrenzen, das noch bewältigt werden kann. Wenn wir weitermachen wie bisher, wird die Erhöhung der Temperatur in hundert Jahren bei etwa 6 Grad liegen, vielleicht auch mehr, und zu einer Katastrophe führen, deren Ausmaß völlig unvorhersehbar ist.

Die sehr zaghafte „Nationale Klimaneutralitätsstrategie“ (SNBC), die 2015 in Frankreich verkündet wurde, wurde seit 2016 nicht eingehalten, weder im Transport- noch im Bauwesen.

Die Ergebnisse der Simulationen sind eindeutig: Die (zumeist armen) Länder, die am schlimmsten unter der Erderwärmung leiden werden, sind nicht diejenigen, die sie verursacht haben (die zumeist reichen Länder) – dies macht die nötigen Anstrengungen noch heikler.

Russland stellt ein schwimmendes Atomkraftwerk in Dienst, um den Bergbau im Untergrund der Arktis voranzutreiben.

Mehr als 40% der Amphibienarten, fast 33% der Korallenriffe und mehr als ein Drittel aller Säugetiere sind bedroht.

Die Gliederfüßler stellen unter den Lebewesen die meisten Arten und die meisten Individuen und sie zeigen die größte Vielfalt im Verhalten – ihre Biomasse hat in nur einem Jahrzehnt um 67% abgenommen.

Dennis Meadows, der Autor des berühmten Berichts des MIT von 1972, ist in vielerlei Hinsicht ein Pionier. Er ist heute der Ansicht, dass „der Zusammenbruch das wahrscheinlichste Szenario ist“. Er befürchtet eine starke Zunahme von autoritären Regimes (als indirekte Folge der Erderwärmung – natürlich geht es nicht um „grüne Diktaturen“, das ist ein schlechter Scherz).

In den Weltmeeren gibt es etwa 500 tote, umgekippte Zonen; es gibt dort zu wenig Sauerstoff, als dass Lebewesen noch überleben könnten. Die Studien zu einer dieser Zonen, die im Golf von Mexiko liegt, zeigten unlängst, dass sie sich wegen der verschmutzten Flüsse, die dort ins Meer münden, schnell vergrößert.

Haie gibt es seit über 400 Millionen Jahren, doch heute sind 80% von ihnen ausgestorben und alle Arten sind stark bedroht.

Gleichzeitig kommen jedes Jahr 89 Millionen Menschen hinzu, die ernährt werden müssen.

Die Situation ist zumindest kritisch.

1In Deutschland leben heute 14 Millionen Vögel weniger als vor 25 Jahren; vgl. Thomas Krumenacker, Das schleichende Vogelsterben, https://www.riffreporter.de/flugbegleiter-koralle/vogelschwund-deutschlandberichtkrumenacker/ (Oktober 2020). Anmerkung des Lektors, R. R.

2Gegenstand der Phänologie sind die im Jahresablauf periodisch wiederkehrenden Entwicklungserscheinungen in der Natur. Anmerkung des Lektors, R. R.

3Zwischen 2016 und 2018 sind in Deutschland rund 500 Millionen junger Bäume vertrocknet. Auch im Jahr 2019 war die Absterberate laut BMEL „überdurchschnittlich hoch“. Der Zustand älterer Bäume verschlechtere sich ebenfalls Jahr für Jahr; vgl. https://www.focus.de/perspektiven/nachhaltigkeit/duerre-feuer-schaedlinge-80-prozent-der-baeume-kaputt-wie-wir-mit-gemuesegrillen-beim-moebelkauf-das-waldsterben-2-0-verhindern_id_12180505.html (Oktober 2020). Anmerkung des Lektors, R. R.

4In Deutschland ist die Verwendung von Leimruten zum Vogelfang verboten. Anmerkung des Lektors, R. R.

Die Erde stirbt

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