Читать книгу Smartphone Sweetheart - Ava Patell - Страница 4
2 – John Doe und Mr. M
ОглавлениеAn diesem Abend erhielt Emmett keine Nachricht mehr und er versuchte sich in das Fernsehprogramm zu vertiefen, aber da hätte er sich auch freiwillig einer Lobotomie unterziehen können, das Ergebnis wäre in etwa das Gleiche gewesen. Zerstörung des Gehirns. Zurück blieb in beiden Fällen nur ein sabbernder, apathischer Haufen Mensch. Und für Watch-It fehlte ihm momentan das Geld. Frustriert schaltete er das Fernsehen wieder aus und tingelte zurück zum Laptop. Der Bildschirmschoner hatte sich eingeschaltet und eine Weile betrachtete er die vorbeifliegenden Sterne, während er die letzten Pommes vertilgte. Keine Antwort. Nun. Damit wäre diese Konversation wohl endgültig passé. Ein kleines, spannendes Intermezzo wie er es schon beim letzten Mal festgestellt hatte. Doch nur eine Woche später sollte er wieder eine Nachricht an diese Nummer schicken. Eher aus der Not heraus und er fragte sich, ob es dennoch als Spontaneität zählen würde. Ob Hanni ihm das anrechnen würde, dass er von sich aus erneut an diesen Fremden Menschen schrieb.
Es war kalt, der Wind fegte durch die Straßen und man spürte jetzt deutlich die Einflüsse des Herbstes. Nur noch ein paar Monate und der Winter würde Einzug halten. Schnee. Eis. Straßenchaos. Er zog den Kragen seines Mantels höher und beeilte sich, zur U-Bahn zu kommen. Der U-Bahnhof versprach immerhin Schutz vor dem beißenden, kalten Wind.
Und dann hieß es warten. Die Anzeige für die nächste Bahn zeigte 15 Minuten Wartezeit. Es war kurz vor 24 Uhr. Hanni war noch mit den anderen zusammen und feierte. Sie hatte offenbar keine Probleme damit, sich den gesellschaftlichen Normen anzupassen. An einem Freitagabend feiern gehen, Alkohol trinken, Spaß haben, Sex haben. Sich betrinken und dabei über die Stränge schlagen. Zu viel trinken, mit einem Rausch im Bett landen, zusammen mit einer anderen Person, wilden Sex, an den man sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnerte und dann der Walk of Shame nach Hause in den frühen Morgenstunden, gerne ohne den Sexualpartner dabei zu wecken und es so bei einem namenlosen Abenteuer zu belassen. Das waren alles Dinge, die normal waren, die erstrebenswert schienen, zumindest für einen Großteil der Bevölkerung. Aber Emmett selbst fehlte jegliches Interesse daran. Ja. Mit ihm stimmte tatsächlich etwas nicht. Für ihn sah ein perfekter Abend ganz anders aus. Ein weicher Sessel, ein Raum voller Bücher, leise Musik. Ein heißer Tee und vielleicht noch ein prasselndes Kaminfeuer, während draußen vor dem Fenster der Schnee fiel. Er schauderte. Er war ein Mann. Er sollte darauf aus sein, selbst flachgelegt zu werden. Sexy Typen anzuflirten. Hemmungslosen Sex zu haben. Sich zu betrinken oder rumzupöbeln. Das alles ging ihm ab und er fragte sich, ob es daran lag, dass er schwul war. Der U-Bahnhof lag beinahe verlassen da und wirkte unheimlich und auch wenn hier unten der Wind nicht wehte, so war es dennoch kalt. Er tippte sich durch die Apps auf seinem Smartphone in der Hoffnung auf Zerstreuung bis die Bahn eintraf, aber nichts fesselte ihn. Nichts lenkte ihn von der leichten Furcht ab, die in seinem Bauch nistete und dort leise an ihm nagte. War das auch so ein Schwulending? Angst zu haben war für einen Mann in dieser Gesellschaft ebenso unangebracht wie Nagellack zu tragen. Nun, er trug zwar keinen Nagellack, aber das Gefühl der Angst konnte er nicht abstreiten. Aber konnte ein Mann nicht genauso Furcht empfinden wie eine Frau? War es nicht einfach nur der Gesellschaft geschuldet, dass Angst als Schwäche bei Männern angesehen wurde? Einfach nur ein kulturelles Maß, das ihm hier aufgedrückt und dessen Opfer er wurde? Dann stutzte er. Und schüttelte den Kopf. Beinahe ohne sein Zutun hatte er das Nachrichtenfenster geöffnet und die Nummer des fremden Gesprächspartners angewählt und tippte jetzt die Worte in das kleine Fenster.
› Halten Sie Furcht für ein reales Gefühl oder eine Einbildung? Ein Gespinst unseres Verstandes?‹ Vielleicht würde er keine Antwort bekommen, aber allein der Akt des Tippens und die Gedanken daran, ob Angst real oder nur Einbildung war, lenkte ihn bereits von seiner düsteren und gruseligen Umgebung ab.
Er schickte die Nachricht an diesen unbekannten Menschen, dem er damit schon wieder auf die Nerven ging. Doch diesen Menschen kannte er nicht, was es einfach machte, diese Frage zu stellen. Vielleicht lagen sogar mehrere tausend Meilen zwischen ihnen und das machte es leicht. Anonymität war nicht immer nur ein Fluch. Manchmal konnte sie auch ein Segen sein. Eine Last, die einem von den Schultern genommen wurde, da gerade hier und jetzt in diesem Moment keine Konsequenzen zu fürchten waren. Emmett konnte im Grunde schreiben, was er wollte. Es war absolut unerheblich. Es war egal, ob der- oder diejenige ihn für verrückt hielt. Er würde ihn oder sie niemals treffen. Und darum würde er auch nie erfahren was dieser Mensch von ihm hielt. Sofern er es ihm nicht in einer Nachricht mitteilte.
Die Umgebung, in der sich Matthew in diesem Moment befand, hätte unterschiedlicher zu der von Emmett nicht sein können. Es war warm, es war windstill und er war alleine. In einer kreisenden Bewegung ließ Matthew den Scotch im Glas kreisen. Immer und immer wieder, unbewusst, während er durchs Fenster auf die nächtliche Stadt unter sich sah. In seiner Hosentasche vibrierte sein Handy und er stutzte, als er ›Nachricht von Mrs./Mr. Unbekannt ‹ auf dem Display las. Sie hatten seit etwa einer Woche nicht mehr miteinander geschrieben und Matthew hatte auch nicht mehr mit einer Nachricht gerechnet. Allerdings hatte er es auch vergessen oder vermieden, wer wusste das schon, den Kontakt aus dem Blackberry zu löschen.
»Verrückt...«, murmelte er und bezog sich dabei auf das Thema der Nachricht. Denn das traf so genau auf den Kopf des Nagels, der sich über den Abend in sein Hirn gebohrt hatte.
› Eine schwierige Frage. Ich denke es gibt sehr reale Furcht. Die Furcht, am nächsten Tag nichts zu essen oder zu trinken zu haben. Nicht zu wissen, wo man schlafen soll. Daran finde ich nichts Eingebildetes. Aber es gibt auch diese implizierte Furcht, von Horrorfilmen oder Gruselgeschichten eingegeben. Ein Knacken hier, ein Knistern dort, ein Luftzug, ein plötzlicher Lichtstrahl...‹ , schrieb er nachdenklich und setzte nach einigem Überlegen hinzu: › Allerdings überlege ich gerade selbst, zu welcher Kategorie meine persönlichen Zukunftsängste gehören könnten .‹ Denn in Matts Kopf herrschte ein Durcheinander aus Erinnerungen an einen unschönen Streit, aus Gedanken, die er sich um seine Zukunft machte und aus der Frage, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es gab ja Menschen, die verurteilten die Unterteilung in richtig und falsch und sagten, alles sollte so sein wie es in diesem Moment war. Die nicht unterteilten in schwarz und weiß, sondern in alle Graustufen, die es gab. Matthew konnte nur hoffen, dass sie Recht hatten.
Es war diese Art von Antwort, mit der Emmett nicht gerechnet hatte und sie brachte ihn zum Lächeln. Er hatte im Grunde mit überhaupt keiner Reaktion gerechnet. Aber das hier war...bemerkenswert. Durchdacht und nicht einfach in den Raum geworfen. Und es schien als wäre sein Gegenüber, nun, sein hypothetisches Gegenüber, bereit, sich mitzuteilen und ein echtes Gespräch zu führen. Sofern man eine Unterhaltung über einen Nachrichtendienst als Gespräch bezeichnen konnte, doch der Einfachheit halber würde Emmett es bei dieser Bezeichnung lassen.
› Nun, in meinem Fall ist es eher etwas aktuelleres, etwas greifbares: Ein Bahnhof, es ist hier bereits 12 Uhr nachts.‹ Amerika war groß. Der Fremde konnte also in einer ganz anderen Zeitzone leben. Da war es besser, die Gegebenheiten klar zu stellen. › Eine Lampe an der Decke ist kaputt und wirft ein flackerndes Licht auf den Boden. Es sind kaum Menschen hier. Eine Frau, die eine Edelprostituierte oder eine Bankangestellte sein könnte, ein Mann, der nervös an seiner Jacke herumzupft. Eine Jacke, unter die locker eine Pistole passt und die Bankprostituierte könnte sicherlich ein Messer in der Tasche haben. Also so gesehen...eher eine eingebildete Furcht. Dennoch fühlt sie sich real an. Worum geht es bei Ihren Zukunftsängsten?‹ Erneut hoffte Emmett auf eine Ablenkung, auf eine Zerstreuung, denn die Wartezeit an der Anzeige schien nur sehr langsam zu schrumpfen. Es waren noch immer 10 Minuten und er begann von einem Fuß auf den anderen zu steigen, um die Kälte zu verscheuchen, die ihm die Beine hinaufkroch. Darum schrieb er die Nachricht auch sofort, die bei dem fremden Menschen nur ein paar Sekunden später eintraf, nachdem dieser seine eigene abgeschickt hatte.
Matthew las die Nachricht und legte leicht den Kopf schief, goss sich nach. Währenddessen dachte er über seine Antwort nach.
› Auch eine eingebildete Furcht kann real werden, vor allem, da jeder Mensch individuell empfindet. Insofern ist meiner Meinung nach auch jede eingebildete Furcht real .‹, schrieb er zunächst. › Bei mir ist es so: Ich denke darüber nach, ob es richtig war, die Entscheidung zu treffen, mich selbständig zu machen .‹
Über die Antwort, die ihren Weg auf Emmetts Handy fand, konnte dieser nur lächeln. Ihn selbst hatten diese Probleme und Gedanken vor einigen Jahren gequält. Die Selbstständigkeit war ein Risiko und ganz sicher kein leichter Schritt, den man unbedacht tätigte.
› Gibt es denn Probleme? Eine Selbstständigkeit ist immer ein großer Schritt, der Angst machen kann. Aber die Frage ist, ob er das sollte. Solange man am Ende des Monats seine Miete zahlen kann und vielleicht noch eine Kleinigkeit über bleibt, um mal eine Pizza bestellen zu können, hat man alles richtig gemacht .‹ Auch wenn er Watch-It, das bekannte Video-on-Demand Portal, vermisste. Aber das würde sich auch bald wieder ändern. Überrascht sah Emmett auf, als er das leise Rumpeln hörte und dann den Luftzug spürte, der sich durch den U-Bahn-Tunnel schob. Der Zug fuhr ein und im Inneren war es bedeutend heller, aber genau so leer. 24 Uhr an einem Freitagabend war das Äquivalent zu den Vormittagen in der Woche. Die richtigen Party-Gänger waren bereits auf den Partys, aber noch lange nicht fertig mit dem Feiern. Die Züge würden sich erst wieder ab 2 oder 3 Uhr füllen, um die Tanzwütigen nach Hause zu bringen. Emmett suchte sich einen Platz am Fenster, öffnete seinen Mantel und seufzte leise auf, bevor er wieder nach seinem Handy griff und die Nachricht beantwortete.
› Wie soll ich Sie eigentlich anreden? John oder Jane Doe?‹ Es war vielleicht ein etwas plumper Versuch mit der Anspielung auf den Polizeijargon für nicht identifizierte Personen herauszufinden, welchen Geschlechts sein Gegenüber war, aber es kam ihm in diesem Moment ganz passend vor. Und er war neugierig.
Matthew hingegen musste lachen, als er nach dem leichten Vibrieren die Nachricht las und einen Moment fragte er sich, ob es schon an der Zeit war für ein Outing dieser Art.
› Sind wir schon soweit?‹ , schrieb er dann einfach, um die Entscheidung dem oder der Fremden zu überlassen.
›Nun, obwohl Sie inzwischen zweifellos gemerkt haben, dass ich verrückt bin, macht es mir die Offenbarung ihres Geschlechtes immer noch nicht möglich, Sie zu finden. 50% der Menschheit sind noch immer ein weites Feld. Obwohl ich der Meinung bin, dieses Feld auf Amerika verkleinern zu können. Immerhin stand diese Nummer in einem amerikanischen Telefonbuch. Welches genau das war, weiß ich jedoch nicht. Aber es war alt.‹ , war die Antwort, die er nur kurz darauf bekam. Sie war entschieden länger als viele ihrer bisherigen Mitteilungen und so schloss Matthew daraus, dass sein Gegenüber offensichtlich in der Lage war, sich auszudrücken. Ein Umstand, dachte er, der heutzutage gar nicht mehr so selbstverständlich war. Er hatte sich inzwischen auf die Couch gesetzt und stellte nun sein Glas auf dem Tisch ab.
› Ich bin definitiv ein John Doe, aber Sie dürfen mich M. Doe nennen.‹ , schrieb er schmunzelnd zurück. › Um auf Ihre Frage einzugehen: Ich bin erst seit ein paar Stunden selbständig, daher weiß ich noch nicht, ob es Probleme geben wird. Momentan gibt es nur jede Menge Arbeit .‹ Und auch dieses Mal kam die Antwort beinahe sofort. Der oder die Fremde schien also gerade Zeit zum Schreiben zu haben. Kein Wunder, dachte er. Immerhin befand sich diese Person auf einem Bahnhof oder in einer Bahn und da gab es nur selten viel anderes zu tun.
› Ich würde Ihnen gerne sagen, dass es besser wird mit der Zeit. Aber in der Regel wird es schlimmer und sogar noch sehr viel mehr Arbeit. Sie sollten sich weniger Gedanken machen und mehr schlafen. Oder es zumindest versuchen. In jeder Minute, die sie erübrigen können. Ein klarer Kopf kann helfen und es werden Zeiten kommen, da werden Sie einfach keine Zeit haben zum Schlafen.‹ Es folgte eine kurze Pause, bevor noch ein Nachsatz kam. › Und sinnvoller als mit einem Fremden zu schreiben wäre es allemal. ;)‹
Matthew lächelte, während er nun ebenfalls seine Antwort ohne Verzögerung in das Blackberry tippte. › Es klingt, als hätte dieser Fremde (also auch ein John Doe?) eine genaue Vorstellung davon wie es ist, selbständig zu sein.‹ Tief seufzte er. Vermutlich hatte dieser Unbekannte auch noch Recht mit allem... Er griff nach dem Glas auf dem Tisch, leerte es in einigen Schlucken und brachte es dann in die Küche, bevor er sich ins Bett legte. Von dem Streit mit Glenda hatte er dem Fremden nichts geschrieben. Dieser beschäftigte ihn aber besonders und führte dazu, dass er im Bett liegend auch nur vor sich hin starrte, bis das Handy neben ihm erneut vibrierte und er danach griff.
› Ja, der Fremde (ja, ebenfalls ein John D.) hat sehr viel Erfahrung damit und vermisst im Moment am meisten Watch-It. Auch solche Zeiten gibt es. Ein Glück gibt es kurze Kündigungsfristen bei solchen Anbietern. ;)‹ Es dauerte dieses Mal, bis der Nachsatz auf Matthews Handy eintraf. › Schlafen Sie gut, M. Und genießen Sie jede Sekunde davon.‹
Matthew las die Nachricht noch, antwortete aber nicht mehr. Er schrieb also mit einem vermutlich selbständigen Mann, der gut mit Kindern konnte und H. G. Wells kannte, der mit der Bahn fuhr und das spät am Abend. Viel mehr wusste er nicht. Nach ein paar Minuten änderte er lächelnd den Kontakt und nannte ihn nun ›John Doe‹.
Der Streit mit Glenda ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatten sich vor Henry angeschrien, weil sie nicht verstehen hatte können, dass er nun seiner eigenen Wege gehen wollte. Sie hatte nicht verstanden, wie er sich erst dankbar für seine Ausbildung hatte zeigen und dann die Firma verlassen können. Matthew hielt das für völlig natürlich in seiner Branche. Es nagte an ihm, dass diejenige, mit der er sich am besten verstanden hatte, so verletzt von ihm war und er ärgerte sich darüber, dass er seinen Abschied von der Firma nicht früher schon einmal thematisiert hatte. Glenda war enttäuscht, das wusste er. Sie und Henry hatten ihn zum Partner machen wollen, das zumindest hatten sie ihm heute gesagt. Es hatte nichts an seiner Entscheidung geändert, aber ihn doch überrascht. Er hoffte, dass sie alle in der Zukunft darüber lächeln würden können, doch vorerst...würde er zur Konkurrenz von Welsh & Baker werden, wenn alles so verlief wie er es sich wünschte. Irgendwann gegen drei fand Matt endlich in den Schlaf und nur drei Stunden später riss ihn sein Wecker aus einem unruhigen Schlaf.
Im Spiegel sah Matthew ein unausgeschlafenes Monster entgegen. Ja, John Doe hatte definitiv Recht gehabt. Er hätte früher schlafen gehen sollen... Doch es gab so viel zu tun, selbst an diesem heutigen Samstag. Gleich nach einer erfrischenden Dusche machte er sich an die Arbeit. Als er das nächste Mal auf die Uhr sah, war es früher Nachmittag, sein Magen knurrte und seine Zunge klebte ihm am Gaumen. Na prima. Das ging ja gut los! Noch bis zum Abend arbeitete er weiter, doch heute war er so erschöpft, dass er bereits gegen 21 Uhr 30 im Bett lag. Ohne groß darüber nachzudenken, griff er nach seinem Handy und schrieb an John Doe.
›Wenn Sie sich das nächste Mal auf dem Bahnhof fürchten, stellen Sie sich doch Harry-Potter-Musik vor, dann ist es vielleicht weniger angsteinflößend. Gute Nacht, fremder Unbekannter.‹ Kaum hatte Matthew das Handy weggelegt, schlief er ein.
Emmett musste sich die Hände abtrocknen und einen Moment seinen Abwasch unterbrechen, um auf sein Handy zu sehen, dann lachte er laut los, als er die Nachricht las. › Das ist eine nette Idee, aber bei meinem Glück werde ich davon so gefangen genommen, dass ich gegen die nächste Mauer renne, nur in der Hoffnung, dahinter auf Gleis 9 3/4 zu treffen. Was eine Platzwunde nach sich ziehen würde, die wiederum ein paar Sanitäter auf den Plan riefe, welche meine Erklärung sicherlich für sehr merkwürdig hielten. Das Annehmen einer alternativen Realität gilt allgemein als ein Symptom einer psychischen Störung und ich würde mich daraufhin in einer Psychiatrie wieder finden.‹ Seine Finger flogen über die Tasten, während der Schaum in der Spüle leise knisterte. › Ein ohne Frage sicherlich interessanter Ort, aber kein Ort, an dem ich länger Zeit verbringen möchte. Aber vielleicht versuche ich es mit Musik von Alice aus dem Wunderland. Das Auftauchen eines Hasen mit einer Taschenuhr scheint mir in der heutigen Zeit weit weniger verrückt. Besonders dann nicht, wenn er eine Krawatte trägt und das Monokel weg lässt. Das wäre doch reichlich »overdressed« und vor allem nicht mehr in Mode.‹ Er schickte die Nachricht ab und lachte über sich selbst. Ja. Er hatte einen Schaden. Hanni hatte Recht. Und auch Unrecht. Er würde niemals einen Mann finden, der seine Macken verstand und ihn nicht für geisteskrank hielt. Und dann traf ihn der Schlag. Kein Hirnschlag, der ihm das Leben nahm. Nein. Ein Schlag ganz anderer Natur.
»Oh... Oh wow. Ja!« Er warf das Geschirrtuch zur Seite, das halb im Waschbecken landete, sich einen Moment vollsog und dann zu Boden fiel. Es blieb unbeachtet dort liegen, denn Emmett holte den Laptop aus dem Schlafmodus, öffnete das Schreibprogramm und versank in einer Welt aus Buchstaben und Worten, während seine Finger beinahe ohne sein Zutun über die Tastatur rasten und ihn Zeit und Raum komplett vergessen ließen.
+++
Als Matthew am nächsten Morgen die lange Nachricht des Fremden las, blinzelte er, bevor er sie erneut durchging. Und dann noch einmal. Vielleicht war er noch nicht richtig wach, aber das klang nach einer deutlich regen Fantasie. Viel reger als seine eigene und vielleicht, aber nur vielleicht, sogar reger als die seines Neffen.
› Irre ich mich, oder ist Alice dem Kaninchen durch das Loch eines Kaninchenbaus an einem Baum in eine andere Welt gefolgt? Wenn Sie das auf dem Bahnhof versuchen, dürften dieselben Konsequenzen wie bei Harry Potter-Musik auftauchen. Vom Alice im Wunderland-Soundtrack ist daher ebenfalls abzuraten.‹ , schrieb Matthew lächelnd zurück. Allerdings sollte er lange keine Antwort bekommen. Anfangs fragte sich der Braunhaarige, ob er etwas Falsches geantwortet hatte, dann rückte John Doe immer weiter in den Hintergrund und sein viel realeres Leben nahm sich seiner an. Ein Leben, das im Hier und Jetzt stattfand.
Ganz anders als das von Emmett im Augenblick. Essen, schreiben, schlafen. Die Tage verschwammen ineinander und es geschah nur zu häufig, dass Emmett jegliches Zeitgefühl verlor. Eine solche Phase hatte er schon lange nicht mehr gehabt und er ließ sich nicht aus ihr herausreißen. Das hier war gut, es war sogar sehr gut und die Figuren führten ihn. So musste es sein. Nicht gequält und gezwungen, sondern leicht. Wie von einer fremden Macht geleitet. Er schlief nur kurz, er aß noch weniger. In solchen Phasen schien sein Körper in eine Art Sparmodus zu schalten und nur Hanni war es zu verdanken, dass er überhaupt noch etwas im Kühlschrank hatte. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, was vor sich ging. Er sah in solchen Momenten nicht auf sein Handy. Er hatte gar keinen Blick dafür.
Aus den Stunden wurden Tage, aus den Tagen wurden Wochen. Und die zwei Protagonisten begannen ihn langsam aus ihren Fingern zu entlassen. Ihre Geschichte war erzählt. Auf gut 640 Seiten fand sich der seltsame Fall von Tischlermeister James Forster, der überraschend bei einer Lieferung einen Mord beobachtet, welcher auf einem von ihm gefertigten Stuhl geschieht, woraufhin er von Leuten verfolgt wird, die er nicht kennt. Hilfe erhielt er von einem kleinwüchsigen Privatermittler, dem er bei seiner überstürzten Flucht beinahe die Haare abgefackelt hätte. Es war verrückt, es war spannend, es war witzig und Emmett war so zufrieden damit wie schon lange nicht mehr mit einem Buch. Er hatte kaum etwas dazu beigetragen. Die Figuren hatten ihre Geschichte erzählt. Er hatte sie niedergeschrieben. In ihrer Rohfassung. Er wusste nicht, warum es so war, aber er hatte schon früh gelernt, sich auf dieses Vorgehen einzulassen. Früher hatte er es mit einem Storyboard versucht, mit stundenlangen Grübeleien darüber, wie er die Handlung eines Romans am besten aufbauen konnte und wie das Ende auszusehen hatte. Mit dem Ergebnis, dass es nie funktioniert hatte. Die Figuren übernahmen ab einem bestimmten Punkt die Kontrolle und enthoben ihn damit jeglicher Verantwortung, was die Handlung und ihre Konsequenzen anging. Er war nur noch ein Mittel zum Zweck, da diese imaginären Personen keine Finger besaßen, um ihre Geschichte selbst aufzuschreiben. Dazu war er jetzt da und seit er aufgegeben hatte alles planen zu wollen, lief es richtig gut mit der Schriftstellerei und er konnte davon leben.
Ein Ziel, das auch in einer anderen Stadt ein anderer Mann verfolgte. Matthew schloss die Augen und atmete tief ein und wieder aus. Es roch nach Farbe, nach Holz, nach frischer Bettwäsche. Alles war neu, nicht nur der Geruch, auch die Geräusche im Haus. Ein Knacken hier, ein Knistern da, ein Luftzug... Er runzelte die Stirn. Die Worte kamen ihm bekannt vor, auch wenn er gerade nicht sagen konnte, woher. Er dachte an den Tag zurück, an all die Gespräche und Orte. Er hatte heute viel Zeit im Taxi verbracht und vier neue Menschen kennengelernt. Investoren. Es war schon beinahe Winter und Matthew fragte sich, wann dieses eine bestimmte Gefühl vergehen würde. Er stutzte und griff dann nach seinem Handy, rief den Nachrichtenverlauf mit John Doe auf.
› Kennen Sie das Gefühl, sich nirgends Zuhause zu fühlen?‹ , schrieb er langsam. › Diese innere Unruhe, weil Geist und Körper nicht wissen, wo sie hingehören?‹ Es war dämlich, John Doe überhaupt wieder zu schreiben. Dennoch schickte Matthew die Nachricht ab und er seufzte dabei. Unruhig tippte er auf die Tasten, so leicht, dass sie keinen Buchstaben auf dem Display hinterließen. Es war Wochen her, dass er von dem Unbekannten gehört hatte und er rechnete auch jetzt nicht mit einer Antwort. Doch mit dieser Nachricht brachte er sich ohne es zu ahnen wieder in Erinnerung und bald schon zeigten ihm drei kleine Punkte, dass John schrieb.
Als Emmett die Nachricht las, war er überrascht. Er hatte Mr. M total vergessen. Über all die letzten Wochen, die mit einem Mal so voller Arbeit waren. Korrektur lesen. Lektorats-Termine. Telefonkonferenzen mit seiner Verlegerin.
› Ja und nein.‹ , schrieb er und stutzte dann, nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte. Sie kam ihm ungenügend vor. › Es gibt Tage, an denen weiß ich genau, wo ich hin gehöre. An denen ich weiß, wo mein Platz in der Welt ist. Aber das hält nur so lange an, wie ich nicht in die Zukunft denke. Wenn ich das tue, dann weiß ich genau, was Sie meinen, Mr. M. Ich weiß für den Moment wo ich hin gehöre, aber ich weiß auch, wie ich mir meine Zukunft vorstelle und wie sehr mein jetziges Leben davon abweicht. Ich weiß nicht, wie ich diese zwei losen Fäden jemals verbinden soll. Oder ob ich das überhaupt jemals kann.‹ Er sah einen Moment auf die Nachricht. Wie oft hatte er das gedacht? Doch ausgesprochen hatte er das nie. Nicht einmal Hanni gegenüber. Sie ahnte es wohl, er hatte es angedeutet. Aber niemals so konkret benannt wie jetzt Mr. M gegenüber. Und das, nachdem er so lange nichts mehr von ihm gehört hatte. Und auch selbst von sich nichts hatte hören lassen. Verrückt. Einfach verrückt.
Matthew nickte leicht und schrieb sofort zurück, schmunzelte jedoch über den Namen, den ihm John Doe verpasst hatte. › Ich bin meiner Zukunftsvorstellung in den letzten Tagen näher gekommen, dennoch fühle ich mich noch nicht Zuhause. Was daran liegen mag, dass ich umgezogen bin. Ich hoffe, dass es daran liegt und dass ich mich nach und nach hier eingewöhnen werde.‹ Matthew war sich nicht sicher, ob er dem Fremden nicht auf den Geist ging. Er hätte genauso gut mit seiner Schwester schreiben können oder mit Daniel, seinem besten Freund, doch gerade die unbekannte Entfernung zwischen ihm und John Doe machte es so reizvoll, ihm zu schreiben. Ganz so als könnte man die Glaskugel einer Wahrsagerin befragen, die zwar nicht die Zukunft voraussagte, aber einem eine andere Meinung bot. Es sollte ja Menschen geben, die Billardkugeln oder Würfel befragten, was sie wann tun sollten. Vielleicht war der Fremde ja sein Würfel. Diesmal kam die Antwort auch wieder zügig, fast ohne Verzögerung.
›Nur in eine neue Wohnung oder auch in eine neue Stadt?‹
John Doe schien neugierig zu sein, aber er war bereit, dieser Neugier zumindest ein Stück weit entgegen zu kommen.
› Auch in eine neue Stadt.‹ , schrieb Matthew deshalb zurück. Die kleine Nachttischlampe warf ein ungewohntes Licht in den Raum. Draußen war es schon längst dunkel und das Handy vibrierte in seinen Fingern, als die Antwort kam.
› Also kennen Sie noch niemanden, Mr. M? Eine wirklich sehr gute Freundin von mir würde Ihnen jetzt raten, einfach rauszugehen, in irgendeinen Club oder eine Bar und dort Leute kennenzulernen. Dann fühlen Sie sich nicht mehr so isoliert.‹
»Oh na ja...«, murmelte Matthew vor sich hin, nachdem er die Worte gelesen hatte.
› Nicht mehr heute. Ich fühle mich im Übrigen auch nicht isoliert. Meine Schwester wohnt nur noch eine halbe Stunde von mir entfernt und außerdem bin ich es gewohnt, viel umzuziehen. Das war jetzt der...‹ Kurz musste er nachrechnen. ›... fünfte Umzug in den letzten 20 Jahren.‹ , schrieb er zu Ende. › Sind Sie gerade unterwegs?‹
Emmett hob die Augenbrauen, während er die Beine auf die Couch zog, auf der er gerade saß. Er war wirklich erstaunt. Das waren eine Menge Umzüge für eine Person. Und er fragte sich prompt, wie alt Mr. M war. Sicherlich war er keine 20 mehr. Vielleicht um die 50? Oder auch 60. Aber machte man sich in einem solchen Alter noch selbstständig? Nun, warum eigentlich nicht? Man wurde heute immer älter und älter und geschenkt wurde einem nichts. Warum also nicht, wenn es die Gesundheit zuließ? Er schüttelte den Kopf, als er merkte, dass er gedanklich abschweifte und tippte eine Antwort.
› Nein. Ich gehe im Allgemeinen nicht sehr gerne aus. Nicht...im üblichen Sinne zumindest.‹ Die Frage, die als Antwort kam, hatte er beinahe erwartet.
›Was machen Sie stattdessen?‹
›Ich hab doch schon erwähnt, dass ich verrückt bin.‹ , tippte Emmett schmunzelnd. › Ich gehe schon gerne aus. Aber ich bin kein großer Freund von Clubs. Sie sind einfach nur furchtbar laut und voll... Ich mag Cafés. Die kleinen, urigen. Wo man hervorragenden Kuchen bekommt. Ich gehe gerne in Galerien und sehe mir Kunst an. Die gute Kunst. Nicht die moderne. Wobei nichts daran verkehrt ist, moderne Kunst zu mögen, aber ich kann mit einem Bild, das aussieht, als wäre der Künstler in Farbe getunkt darüber gerollt, nichts anfangen. Ich gehe gerne spazieren. Oder sitze einfach nur mit einer Decke und einem guten Buch im Park.‹ Über sich selbst schüttelte er den Kopf. Jetzt klang er beinahe als wäre er 60 Jahre alt. Oder 80. Vielleicht auch eher 100. › Sehen Sie? Das ist genau der Grund, warum meine beste Freundin sagt, ich sei niedlich, aber nicht sexy.‹
Laut lachte Matthew auf. Bis jetzt hatte er John Doe für einen jungen Erwachsenen gehalten, vielleicht Mitte 20. Wie das alles angefangen hatte, dieser Streich und dann die Freundin, die gern in Clubs und Bars ging. Dagegen sprach Matthews Meinung nach die Selbständigkeit und nun dieses Bild vom Ausgehen.
› Als ich das gelesen habe, dachte ich für einen Moment, Sie wären vielleicht doch älter als ich gedacht hätte, Johnny, aber die letzten Sätze haben das Bild wieder geradegerückt. Empfinden Sie sich selbst denn als sexy?‹ Matthew sah auf die Nachricht. Ja, das hatte er tatsächlich geschrieben. An einen Wildfremden! Andererseits...hatte der es ja auch geschrieben, oder?
›Nein. Schon lange nicht mehr .‹
»Schon lange...«, murmelte Matthew. Gut, vielleicht lag er mit seiner Alterseinschätzung auch komplett daneben. Aber sie schrieben nie über...
› Ich bin übrigens 28.‹ Matthew unterbrach seine eigenen Gedanken, als er diese nächste Nachricht las.
»Oh.« Er legte ein ausgestrecktes Bein über das andere und begann zu tippen. › Ich bin 32. Meinen Respekt zur frühen Selbständigkeit. Genügt es den Menschen nicht mehr, jemanden niedlich zu finden, um ihn näher kennenzulernen?‹ , schrieb er und die Antwort ließ nicht lang auf sich warten.
›Sagen Sie es mir, Mr. M. Sie haben mehr Lebenserfahrung als ich. Sie sind in den letzten 20 Jahren 5x umgezogen. Ich hab in den letzten 5 Jahren ungefähr 20 Körbe bekommen. Also würde ich von meinem Standpunkt aus sagen, nein. Es reicht nicht.‹
›Aber in Galerien, Cafés und Parks müssten Sie doch Gleichgesinnte treffen.‹ Matthew hob kurz den Blick. Neben ihm lag ein Buch. Ach ja... Er hatte lesen wollen. Doch wie so oft wenn er mit John Doe schrieb, blieben seine Gedanken an dem Thema hängen, das sie gerade bearbeiteten. So auch heute. 20 Körbe, dachte er. Das war eine Menge. Gut, er wusste ja nicht, wie Johnny aussah. Vielleicht war er fett und gab nur vor, selbständig zu sein. Vielleicht bekam er deshalb Körbe...im Internet. Weil er den lieben langen Tag... Moment, es gab ja noch die Freundin. Eingebildet? Ausgedacht? Schnell schüttelte Matt den Kopf. Unterstellte er Johnny gerade Unehrlichkeit? Himmel, er war schon jetzt ein analytisch denkender Workaholic, obwohl er genau das hatte nicht werden wollen. Schon lenkte ihn die Antwort des Fremden von seinen Gedanken ab.
› Kein wirklich guter Ort, um Dates kennenzulernen.‹ , kam die Antwort des fremden John Doe. Matthew runzelte die Stirn. Er wollte gern etwas Aufmunterndes schreiben, aber das schien ihm nicht gut zu gelingen. Kurz dachte Matthew nach, suchte in einer App nach der Lösung, die er benötigte.
› In diesem Augenblick leben 7.406.904.694 Menschen auf der Erde. Manchmal braucht man nur einen einzigen, um sich besser zu fühlen .‹, schrieb er dann. › Sie werden ihn schon finden.‹
Statt weiter auf das Thema einzugehen, wechselte John Doe es jetzt jedoch. › Was ist mit Ihnen, Mr. M? Sind sie verheiratet?‹
Matthew lächelte. › Nein, Johnny, bin ich nicht. Ich habe einige...‹ Leicht wog er den Kopf hin und her. › ...Bekanntschaften gehabt, aber ich bin nicht in einer Beziehung.‹ Neugierig wartete er auf die Antwort, die bereits getippt wurde, kaum dass er seine abgeschickt hatte.
›Und dabei stelle ich Sie mir als ganz netten Menschen vor. 7 Billionen Menschen auf der Erde. Wie wahrscheinlich ist es da, den einen zu finden, der zu einem passt? Ein Lottogewinn ist wahrscheinlicher. Sogar von einem Blitz getroffen zu werden ist wahrscheinlicher.‹ , kam die recht pragmatische Antwort. Matthew musste schmunzeln.
› Nun, Sie können ja einige für sich ausschließen. Rentner, Kinder...‹ , deutete er an. › Im Übrigen glaube ich nicht, dass es da nur einen gibt. Beziehungen bedeuten harte Arbeit und man verändert sich auch mit ihnen. Also wer weiß? Vielleicht gibt es mehrere und der Rest ergibt sich dann von selbst.‹ Erneut fiel Matthews Blick auf das Buch. › Was lesen Sie gerade, Johnny? Welches Genre?‹ Er wartete gespannt auf eine Nachricht des Unbekannten. Er wusste ja nicht einmal, ob John Doe überhaupt gern las, er nahm es aufgrund ihrer Anspielungen auf Wells, Harry Potter und Alice im Wunderland betreffend aber an.
›Ich kann das so genau nicht sagen. Ich lese immer eine Menge Bücher parallel. Ich mag Thriller, ich mag romantische Bücher. Ich lese gerne Sachbücher und genauso gerne recherchiere ich im Internet zu Themen, die mich interessieren.‹ John Doe hatte sich mit dieser Antwort Zeit gelassen.
»Hm.«, machte Matthew leise. › Ich kann das nicht, dieses parallel lesen. Konnte ich noch nie. Gut, ein Fachbuch oder eine Biografie nebenher, das ginge vielleicht, aber mehrere Thriller oder ein Krimi neben einem Psychothriller und ich wäre raus. Ich lese auch sehr langsam. Meine Schwester hat mich damit immer aufgezogen.‹
›Es geht nicht darum wie schnell man liest, sondern darum, wie man in das Gelesene eintaucht. Es gibt genug Menschen, die Bücher lesen, sich aber nie auf den Inhalt oder die Geschichte einlassen.‹ , kam die wieder so eloquent formulierte Antwort, die auch noch zum Nachdenken anregte. Ohne es zu merken, hob Matthew eine Augenbraue.
› Ich habe Sie schon früh als Bücherfreund identifiziert.‹
›Schuldig.‹
Matthew lächelte und rutschte tiefer, während er schrieb. › Wie ist das, sind Sie ein klassischer Papierleser?‹ , fragte er als nächstes, weil dieses Thema ihm in letzter Zeit immer wieder begegnete.
›Ja. Ich liebe echte Bücher. Kennen Sie die Bibliothek aus »Die Schöne und das Biest«? Das wäre der perfekte Ort für mich.‹ Das kleine Zeichen zeigte Matthew, dass der Andere immer noch tippte, obwohl die erste Nachricht bereits geschrieben stand, und so wartete er einen Moment auf das, was da noch kommen würde. › Wenn ich es so geschrieben sehe, dann weiß ich, warum ich ständig abserviert werde. Ich bin ein Freak . Oder ein Nerd. Was auch immer man heutzutage sagt.‹
Matthew lächelte, blinzelte dann aber. »Die Schöne und das Biest...« Oh je, den Film hatte er zuletzt mit...seiner Schwester geguckt, vor... Na ja, er war alt.
› Und ich merke, wie alt ich bin. Den Film habe ich vor etlichen Jahren das letzte Mal gesehen.‹ Aus den folgenden Worten konnte er die Überraschung, mit der sie geschrieben wurden, deutlich ausmachen.
› Ist das Ihr Ernst, Mr. M?! Das ist ein Klassiker! Kein Wunder, dass Sie nicht verheiratet sind. Sie sollten Ihre Chancen aufbessern und sich den Film so schnell wie möglich noch einmal ansehen! ;) ‹ Jetzt musste Matthew lachen.
› Sie denken also, auf mich stehen Menschen, die diesen Klassiker jedes zweite Wochenende ansehen und zu schätzen wüssten, wenn ich die Bibliothek kennen würde?‹ , schrieb er amüsiert zurück. Eigentlich hatte er sich ja extra früh ins Bett gelegt, um noch etwas zu lesen und dann früh zu schlafen. Er war auch müde, aber dieses Gespräch fesselte ihn viel zu sehr, was verrückt war, wenn man bedachte, dass es lediglich digital stattfand.
›Es geht nicht um jedes zweite Wochenende. Aber -vor Jahren- das letzte Mal ist nicht verhandelbar, Sir.‹ Lächelnd schüttelte Matthew den Kopf.
›In Ordnung. Ich werde ihn mir ansehen, wenn Sie mir versprechen, es noch einmal mit sexy Flirten zu versuchen, Johnny .‹ Schon bevor er die Antwort des Fremden bekam, war Matt sich sicher, dass dieser nicht auf den Deal eingehen würde.
›Nur wenn Sie mich dann im Gefängnis besuchen, in dem ich aufgrund von Erregung öffentlichen Ärgernisses landen werde. Ich kann so etwas nicht.‹
Matthew schnaubte. › Ich bitte Sie! Sie schließen die Lippen um einen Strohhalm und sehen ihrem Objekt der Begierde in die Augen. Sie streichen sich durchs Haar oder, wenn das geht, eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie suchen Blickkontakt, lächeln. Während Sie mit jemand anderem tanzen, sehen sie natürlich nicht auf ihn, sondern auf die Frau oder den Mann, mit dem Sie lieber tanzen würden. Es ist ganz einfach!‹ Versuchte er hier gerade wirklich, einem fremden Menschen das Flirten beizubringen?
› Das würde damit enden, dass ich mir den Strohhalm in die Nase ramme und beim Tanzen ein Bein breche. Glauben Sie mir, ich bin so talentiert.‹
› Dann sieht es schlecht aus für den Disney-Klassiker. Schade...‹
› Es ist Ihre Zukunft. Sie verbauen sich Chancen ohne Ende. Glauben Sie mir.‹
Matthew gluckste. › Na, ich -kann- immerhin sexy flirten. :P‹, tippte er. › Gute Nacht, Johnny. Bis bald.‹ Der Braunhaarige schob sein Handy auf den Nachttisch und legte das Buch dazu, bevor er das Licht ausschaltete und seufzend die Decke über sich zog. Ob er irgendwann einmal in seinem Zuhause ankommen würde? Es dauerte immer fast zwei Jahre, sich heimisch zu fühlen und noch länger, die Gegend kennenzulernen. Vielleicht sollte er aufhören, umzuziehen. Jetzt, wo er selbständig war, würde er vielleicht tatsächlich länger hier leben. New Maple schien eine schöne Stadt zu sein. Bei Weitem keine Kleinstadt, aber sie war auch nicht so groß wie New York. Der Big Apple lag ganz in der Nähe, hatte Matthew aber schon immer abgeschreckt.
Meilen entfernt stieg Emmett kopfschüttelnd unter die Dusche. Das heiße Wasser tat unheimlich gut. Und er ging das Gespräch im Kopf noch einmal durch. Auch als er im Bett lag, musste er noch lächeln. Und das sollte sich auch in den folgenden Tagen wiederholen. Immer wieder schrieb er sich kleine Nachrichten mit Mr. M. Einem Mann, den er nicht kannte und auch nie kennen lernen würde.