Читать книгу Ein Hauch von Vorsehung - Ava Patell - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеKaden wusste nicht, wie es dazu kam, aber auf einmal saß er in einem teuren Auto, das von einem Chauffeur gelenkt wurde, der den Namen Philip trug.
»Wo fahren wir denn jetzt hin?«
»Wir fahren shoppen. Sie brauchen dringend etwas mehr als diesen Anzug , Schätzchen.« In Dareas Augen war das, was ihr Gegenüber da trug, keinesfalls als Anzug zu bezeichnen. »Wer auch immer Ihnen das angetan hat, war ein Idiot.«
Kaden sah erneut an sich hinunter. »Aber was stimmt denn damit nicht?«
Darea sah ihn lange an. Das Gesicht ihres Gegenübers drückte tatsächlich blanke Unwissenheit aus. Innerlich seufzte sie. Das würde noch heiter werden. »Sie wissen das wirklich nicht?«
Kaden schüttelte den Kopf. »Ich habe mich extra beraten lassen.«
»Zunächst einmal sitzt dieser Anzug überhaupt nicht. Man sieht Ihre Körperlinie nicht, geschweige denn die Manschetten. Er ist an den Schultern und an der Taille viel zu breit.« Sie winkte ab. »Eben nichts Maßgeschneidertes. Wir finden sicher tausend andere Outfits, die Ihnen besser stehen und bedeutend besser zu Ihnen passen.«
Kaden wirkte mit einem mal sehr nervös und strich sich mit den Händen über die Anzughose. Abwartend sah sie ihn an.
»Ich kann mir aber keine tausend anderen Outfits leisten«, rückte er schließlich mit der Sprache heraus und das ließ Darea lächeln.
»Dafür haben wir ja die Firmenkreditkarte.«
»Aber das geht doch nicht einfach so.«
Sie lächelte kühl. »Glauben Sie mir. Das geht einfach so. Wenn Nikolaj so mit Ihnen bei einem Meeting auftaucht, schadet uns das mehr als die Ausgaben, die wir jetzt tätigen.«
Leise seufzte Kaden. Das war mehr als unangenehm. Da hatte er geglaubt, mit dem Anzug etwas richtig zu machen und jetzt war es ein einziger Reinfall.
»Tut mir leid«, murmelte er und zupfte an dem Jackett.
»Bringen Sie einfach diesen Anzug wieder zurück und lassen Sie sich das Geld wiedergeben. Wenn wir fertig sind, wird Ihnen der Unterschied klar sein und Sie können Ihre Finanzen weit besser anlegen als in dieses Stück Polyester, das die Bezeichnung Anzug nicht verdient.«
Kaden nickte leicht. Der Wagen hielt schließlich vor einer Boutique und er schluckte schwer. Er ging sonst nie in Boutiquen. Er ging in Kaufhäuser! Das hier war etwas ganz anderes. Eine Menge Platz, nur ein paar Kleidungsstücke, die nicht einmal aussahen als wären sie zu verkaufen und die Verkäufer und Verkäuferinnen sahen selbst aus wie aus dem Ei gepellt. Darea passte absolut in dieses Bild. Kaden leider nicht.
Eine der Verkäuferinnen kam auf sie zu, lächelte Darea an und vermutlich war auch Darea der Grund, warum die Frau sie nicht wie in Pretty Woman behandelte und sofort wieder vor die Tür setzte.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Darea bemerkte den Blick der süßlich riechenden Frau durchaus, der sich auf Kaden richtete und ihn von oben bis unten musterte.
»Nein, ich finde mich allein zurecht«, antwortete sie daher reserviert und schob Kaden zu den Umkleidekabinen. »Ausziehen«, befahl sie, bevor sie in den Verkaufsraum zurückging und sich umsah. Dann begann sie, einige Outfits zusammenzustellen und diese zu Kaden in die Umkleide zu bringen.
Diese Frau hätte sich sicherlich auch sehr gut bei der Army gemacht, dachte Kaden, während er aus der Hose stieg. Als Drill Sergeant. Denn in der nächsten Stunde musste er sich im Rekordtempo an- und wieder ausziehen und verschiedene Outfits anprobieren. Schmal geschnittene Jeans, weich fließende Stoffhosen. Sportliche Jacketts, Henley-Shirts, Strickjacken, verschiedene Halstücher. Er kam sich vor wie eine Schaufensterpuppe. Am Ende entschied sich Darea für fünf Outfits und sie fragte gar nicht erst nach Kadens Meinung. Als der jedoch den Preis in der Digitalanzeige der Kasse sah, schüttelte er vehement den Kopf.
»Nein. Auf keinen Fall!«
Darea reichte die Firmenkreditkarte über den Tresen. »Suchen Sie sich aus, was Sie jetzt anziehen wollen. Davon möchten wir dann noch die Schilder abgeschnitten haben.« Auf denen zwar keine Preise standen, aber alle sonstigen Informationen.
»Miss Harrison, das geht nicht. Das ist viel zu viel!«, widersprach Kaden. Auf der Kasse stand ein Gesamtbetrag von knapp 3.000 Dollar.
Darea sah Kaden lange und fest an. Er versuchte wirklich, diesem Blick standzuhalten und schaffte es tatsächlich.
Für ganze acht Sekunden. Dann musste er den Blick senken.
»Das mit der blauen Hose«, murmelte er schließlich ergeben und die Verkäuferin griff nach einer Schere.
»Schön. Das stand Ihnen hervorragend«, flötete Darea fröhlich, bevor sie Kaden die Sachen reichte. »Ziehen Sie sich um, dann können wir zurück.« Sie sah zu der Verkäuferin. »Danke. Den Rest bitte einpacken.«
Grummelnd trat er mit den Klamotten zurück in die Kabine und zog sich wieder die blaue Stoffhose an. Dazu ein weißes Henley-Shirt mit langen Ärmeln, eine dunkelblaue, dünne Jacke und ein farblich dazu passendes, dunkelblaues Halstuch mit cremefarbenem Muster. Ein dunkelblauer Gürtel rundete das Bild ab. Er betrachtete sich einen Moment im Spiegel. Noch nie in seinem Leben hatte er solch hochwertige Kleidung getragen. Es fühlte sich merkwürdig an. Auch wenn es tatsächlich, das musste er zugeben, gut aussah. Die Hose saß nahezu perfekt und warf an den richtigen Stellen Falten. Und dennoch ... Das war einfach zu viel. Noch dazu kam er sich verkleidet vor.
Darea sah ihm entgegen, als er die Umkleidekabine verließ. »Fehlen nur noch die Schuhe.«
»Was?! Was stimmt denn jetzt mit meinen Schuhen nicht?« Eine knappe Stunde mit dieser Frau und er war absolut erledigt!
Darea grinste. »Sie passen nicht mehr zum Rest.«
»Schön. Gut. Dann geben wir jetzt halt noch einmal 1.000 Dollar für Schuhe aus«, motzte Kaden und lief zum Ausgang.
»Wunderbar!«, sagte Darea und folgte ihm, sie traten vor das Geschäft. »Vielleicht finden wir ja auch hier was, dann müssen wir nicht fahren.« Sie sah sich um und lief dann ohne ein Wort zu sagen auf eine Schuhboutique zu, nur drei Geschäfte weiter. Der Bourdon Boulevard bot solche Annehmlichkeiten. Hier fanden die oberen 10.000 sofort was sie suchten und das zu absolut überzogenen Preisen.
»Sie sind nicht der erste Mann, den ich einkleide. Ich verspreche Ihnen, Sie gewöhnen sich bald an den Stil und können es allein.«
»Nicht, wenn ich am Monatsende noch meine Miete bezahlen will«, brummte Kaden.
»Dann wählen Sie Sachen aus, die Sie gut immer wieder neu miteinander kombinieren können«, erklärte sie und betrat die Schuhboutique. »Ob es auffällt, wenn ich mir auch ein Paar kaufe?«, fragte sie amüsiert und lief durch die Reihen.
Kaden schnaubte. »Sie können ja einfach sagen, ich trage in meiner Freizeit wahnsinnig gerne High-Heels.« Es roch in dem Laden nach Leder. Nicht unangenehm. Eher teuer.
Darea schnaubte und wirbelte herum, deutete mit einem ihrer schlanken Finger auf Kaden. »Also schön, passen Sie mal auf. Sie als Assistent von Nikolaj Sorokin verkörpern das Plattenlabel bei wichtigen Terminen. Sie werden ihn begleiten, Sie werden Künstler treffen. Wichtige Künstler! Sie haben sicher keine Ahnung, wie wichtig in dieser Welt Dinge wie Kleidung und generell Oberflächlichkeiten sind. Uhren, Schals, Schuhe. Sie hinterlassen Eindrücke und auf die kommt es in diesem Business nun einmal an, denn es sind diese Dinge, an die man sich nach den Treffen noch erinnert.« Dareas Blick lag fest auf ihm. »Das mag Ihnen alles neu sein, aber ich werde es nicht zulassen, dass Nikolaj Ihretwegen wie ein Idiot dasteht.« Erst jetzt senkte sie den Finger, den sie bis eben noch gegen seine Brust gestoßen hatte, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen.
»Dann hätten Sie vielleicht nicht zulassen sollen, dass ich diesen Vertrag unterschreibe. Ich hab von dem ganzen Kram nämlich tatsächlich keine Ahnung«, meinte Kaden. Sie konnte ja sagen, was sie wollte. Aber schöne Kleidung würde an diesem Umstand auch nichts ändern.
Darea stöhnte auf. Statt sich beraten zu lassen, wiegelte sie auch hier die Verkäuferin kurz entschlossen ab und steuerte auf das Regal mit den passenden Schuhen zu.
»Ich habe es Ihnen doch schon einmal gesagt. Ich vertraue Nikolaj und das sollten Sie auch tun. Die da«, sagte sie und deutete auf einen Ausstellungsschuh, sah dann zu der Verkäuferin, die den Wink verstand.
»Sie kennen ihn ja auch.« Die Verkäuferin fragte nach Kadens Schuhgröße und kam dann mit einem Karton zurück.
Darea deutete darauf. »Anziehen.« Kaden sah sie missmutig an. »Bitte«, fügte sie noch hinzu, als erinnerte sie sich mit einem Mal daran, dass sie hier nicht bei der Armee waren und Höflichkeit durchaus angebracht war. »Sie werden Ihn auch kennenlernen.«
»Hm.« Den Kommentar, dass Kaden dazu länger als einen Tag durchhalten würde müssen, verkniff er sich lieber. Stattdessen schlüpfte er ergeben in die Schuhe.
»Und?«, fragte Darea. »Sind sie bequem? Passen sie?«
Kaden stand auf und ging ein paar Schritte. Dann nickte er. »Ja. Passt.«
»Gut.« Sie nickte der Verkäuferin zu. »Ohne Karton bitte. Behalten Sie die auch gleich an.« Sie trat an die Kasse, um zu bezahlen.
Kaden ließ die Schultern sinken und zog es vor, gar nicht erst mit an die Kasse zu gehen. Die blau-schwarzen eleganten und doch sportlichen Lederschuhe, die er jetzt an den Füßen trug, kosteten sicherlich ein Vermögen und er wollte nicht wissen, wie viel genau.
Darea bezahlte auch hier mit der inzwischen glühenden Kreditkarte.
»So«, sagte sie und verließ die Boutique, gefolgt von Kaden, »jetzt mal ganz ehrlich. Hatten Sie heute ein Frühstück oder waren Sie zu aufgeregt, um etwas zu essen?«
»Ich hatte einen Orangensaft.«
Darea nickte. »Erste Regel in unserer Firma. Nie ohne Frühstück den ersten Termin angehen. Wir holen uns jetzt was zu essen.«
»Oh Gott. Bitte zwingen Sie mich nicht dazu. Ich kann nichts essen.«
»Irgendetwas müssen Sie essen. Diese Termine, zu denen Sie Mr. Sorokin begleiten werden, können Stunden dauern und wenn Sie zwischendurch Hunger bekommen und Ihnen der Magen knurrt, wäre das tödlich.«
»Wenn ich einem Kunden, einem Klienten ... äh, Künstler auf den Schoß kotze, wohl auch, oder?«
Darea sah ihn skeptisch an. »Ja. Und Sie halten durch?«
»So etwas bin ich gewohnt.«
Der Weg zurück zur Firma verlief weitgehend schweigend. Darea tippte wie eine Furie auf ihrem Smartphone herum und Kaden sah aus dem Fenster. Der Bourdon Boulevard blieb hinter ihnen zurück. Schon bald tauchte das große Firmengebäude wieder vor ihnen auf und Philip hielt am Straßenrand.
Als Darea schließlich Nikolajs Büro betrat, gefolgt von Kaden, da staunte der Firmenbesitzer nicht schlecht. Er wusste ja, was sie alles konnte, aber hier hatte sie wieder einmal ein Wunder vollbracht. Von dem grausamen Anzug war nichts mehr zu sehen. Überhaupt war nichts mehr zu sehen, was an einen Anzug erinnerte. Zurückgeblieben war ein sportlich modernes Ensemble.
»Sehen Sie, Mr. Williams, das ist vorteilhafte Kleidung«, sagte Nikolaj lächelnd. »Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Büro.« Er führte Kaden ein Stück den breiten Flur hinunter. »Es liegt nicht weit von meinem entfernt und gehörte Ihrem Vorgänger.«
»Oh. Okay.« Kaden folgte ihm. »Was ist mit ihm passiert?«
»Passiert?«
»Na, er ist nicht mehr da.« Kaden schleppte noch immer die Tüten mit sich herum.
»Oh, ach so. Er wurde gekündigt. Die Einzelheiten sind vertraulich. Nur so viel: Es hatte nichts mit dem Job an sich zu tun.« Nikolaj deutete auf eine Tür. »Da sind wir. Hier können Sie sich einrichten«, sagte er und trat ein. »Auf dem Schreibtisch finden Sie Ihr neues Arbeitshandy sowie einen Laptop. Die entsprechenden Zugangsdaten liegen ebenfalls bereit.« Nikolaj schob seinen Hemdsärmel ein Stück zurück, um auf seine Armbanduhr zu sehen.
Kaden sah sich in dem Raum um. Das Büro war deutlich kleiner als das Nikolajs. Ein großer Schreibtisch hatte darin Platz, der in einer L-Form in dem kleinen Raum stand. Auch hier gab es große Fenster, die viel Licht hereinließen. Es gab ein paar Ablagen, einen gemütlich aussehenden Schreibtischstuhl und auch hier, dunkles Holz, viel Silber. Elegant. Modern.
»Ich bekomme extra ein Arbeitshandy?« Einen Moment stutzte Kaden, doch nicht wegen des Handys, sondern wegen des Duftes, der ihm in die Nase stieg und kaum merklich innehalten ließ. Meeresduft. Der Wald am Herbstmorgen. Die fruchtige, frische Note. Ihm war noch nie ein Duft wie dieser untergekommen. Innerlich schüttelte er den Kopf, um diesen Gedanken zu verscheuchen, was gar nicht so einfach war, denn dieser Duft nahm ihn gefangen. Es war etwas Herbes dabei, das er nicht benennen konnte. Männlich. Und erfolgreich. Ja. Das traf es. Für eine Sekunde fragte er sich, warum er genau jetzt all dies wahrnahm. Vermutlich, weil ein Teil seiner Anspannung nachließ, ihm jetzt also den Raum gab, andere Dinge wahrzunehmen außer blanker Panik. Kaden stellte die Tüten an die Seite und legte eine Hand auf die Lehne des Lederstuhls. Er trat an das Fenster und sah hinaus, hinunter auf die Straße, wo die Menschen ganz klein aussahen.
»Ja. Das werden Sie brauchen. Ich möchte, dass Sie zum 11-Uhr-Termin in Konferenzraum 3 anwesend und vorbereitet sind.« Das waren 38 Minuten zur Vorbereitung. »Wir treffen Lucas Jains, einen unserer Künstler. Auf dem Rechner finden Sie eine Datenbank, sie liegt auf dem Desktop und wird von Darea ständig erweitert. Sie enthält all unsere Künstler und alles, was für Sie wichtig ist.«
»Okay.« Erst jetzt griff Kaden nach dem kleinen Karton auf dem Schreibtisch. »Wow.« Ein nagelneues Handy.
Nikolaj lächelte ein dünnes Lächeln. »Willkommen in der Firma, Mr. Williams.« Granatapfel, Vanille. Darunter Mandelmilch und Baumwolle. Wie viele Menschen es wohl gab, die Baumwolle nicht riechen konnten, da sie so dezent zutage trat? Für Nikolaj war sie ganz eindeutig da, wenn auch an diesem Tag verschleiert. Längst war er zu dem Schluss gekommen, dass ein Deodorant daran einen großen Anteil tragen musste. Er sah in die fremden Augen und nickte leicht, bevor er sich umwandte und das Büro verließ. Hinter sich zog er die Tür ins Schloss. Er lief den Gang zurück und fand Darea hinter ihrem Schreibtisch. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Du weißt genau, ich kann deine Blicke nicht immer gut deuten, also sag, was du zu sagen hast, Weib«, sagte er grinsend im Vorbeigehen und ließ seine Bürotür offen. Dareas Schritte folgten ihm.
»Wie ich dich kenne, wirst du ihn gleich voll einspannen.«
Nikolaj lachte leise. »Natürlich. Dafür ist er doch hier.«
»Er ist aber nicht wie die anderen, Nik. Er wird mehr Zeit brauchen«, warnte sie. Es lag ein Unterton in ihrer weichen Stimme, den er nur sehr selten bei ihr zu hören bekam. Niklolaj schnaubte leise und sah in ihre Augen.
»Darea. Zeit hat keiner von uns. Nicht in diesem Business.« Er nickte zur Tür. »Bitte sag mir Bescheid, wenn Lucas da ist.«
»Natürlich.«
Dark Side Records war ein großes Independent-Label. Es war in einige Abteilungen untergliedert, die sich nicht nur mit den verschiedenen Musikrichtungen befassten, sondern auch mit dem Marketing, der Öffentlichkeitsarbeit, den Verträgen oder schlichtweg mit der eintreffenden Post. Allerdings bewahrte sich Nikolaj bewusst eine Unternehmensgröße, die es den Künstlern erlaubte, sich mit persönlichen Ansprechpartnern zu unterhalten, ohne vorgefertigte Formulierungen zu erhalten. Die persönliche Komponente, die DSR zu so etwas wie einer Familie für die Künstler machte, führte bisweilen dazu, dass Nikolaj in Arbeit versank. Doch es war auch genau das, was Dark Side Records von Major-Labels unterschied, denen nur daran gelegen war, den größten Profit aus ihren Künstlern zu schlagen. Nikolaj konnte von sich behaupten, dass es ihm vor allem um die Musik ging.
***
Kaden sank auf den Stuhl und nahm das Handy aus seiner Verpackung, schaltete es ein. Es erklang eine leise Musik und er stellte es als erstes auf Vibration. Sicherlich kam es gar nicht gut an, wenn ein Handy in der Besprechung klingelte. Von nun an würde er also mit zwei Handys durch die Gegend laufen, was er absolut überzogen fand. Doch ein so neues und tolles in der Hand zu halten, war schon etwas Besonderes.
Dann klappte er den super schmalen Laptop auf und schaltete auch diesen an. Auf der Schreibtischunterlage lag ein Zettel mit den Anmeldedaten und der Instruktion, wie man das voreingestellte Passwort änderte, was er gleich tat. Und dann begann er, sich mit dem System vertraut zu machen.
Die Ordnerstruktur war übersichtlich und Kaden fand sich schnell zurecht. Das Ganze war intuitiv angelegt. Es gab die üblichen Office-Programme. Ein Youtube-Schnell-Link war eingerichtet und er musste kurz überlegen, warum es den gab. Musikbusiness und Youtube hingen eng zusammen, fiel ihm ein. Dann suchte er den Ordner des Künstlers, den Nikolaj ihm genannt hatte. Es gab eine Menge Aufzeichnungen, einen Ordner mit Verträgen, mit Vereinbarungen, mit Notizen. Er hatte keine Zeit, das alles zu lesen. Nicht jetzt. Aber ein Dokument fesselte seine Aufmerksamkeit. Vorlieben. Er überflog das Word-Dokument so schnell er konnte. Dann lächelte Kaden, erhob sich, verließ das Büro, kam noch einmal zurück, weil er das Handy hatte liegen lassen und ging dann in die Personalküche. Er brauchte nicht lange in den Schränken suchen und fand eine Thermoskanne, setzte Wasser im Wasserkocher auf und fand Gott sei Dank einen schwarzen Tee. Laut des Schriftstückes einer der liebsten Tees dieses Mannes. Zur Sicherheit kochte er auch noch Kaffee, weil er nicht wusste, wer noch alles kam und stellte die Kannen auf ein Tablett.
»Hey. Ein neues Gesicht«, erklang eine weibliche Stimme hinter Kaden und er drehte sich fragend um. Vor ihm stand eine junge Frau. Vermutlich Ende 20. Die für Asiaten typische helle Haut, langes, schwarzes und glattes Haar.
»Hi. Ich bin Mai«, stellte sie sich vor und reichte Kaden die Hand. Sie hatte einen erstaunlich festen Händedruck.
»Kaden.«
»Tolles Outfit. Von Darea ausgesucht, oder?«
Kaden spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg.
Sie gluckste. »Das erkennt man sofort. Ihr Stil ist unverkennbar.«
Kaden stellte die Tassen auf das Tablett. »Ich würde gerne noch weiter plaudern, aber ...«
Sie winkte ab. »Absolut kein Problem. Hat mich gefreut, Kaden.«
Er nickte und balancierte das Tablett an ihr vorbei, fühlte sich sofort an die Zeit erinnert, in der er gekellnert hatte. Er trug alles zum Konferenzraum, den er nach einer kurzen Frage an einen vorbeieilenden Mitarbeiter auch fand. Der Konferenzraum war groß, ein langer Tisch stand darin, komplett aus Glas, genau wie die Front des Raumes, und Kaden schob das Tablett vorsichtig auf den Tisch. Es war noch niemand hier, also war er nicht zu spät. Erst als er das Tablett abgestellt hatte, fiel ihm auf, was er vergessen hatte. Löffel. Zucker. Und Milch. Schnell huschte er noch einmal in die Küche, um das Fehlende zu holen.
***
Darea klopfte derweil an Nikolajs Bürotür und trat gleich darauf ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Miss Velle ist da, um dich abzuholen.«
Nikolaj nickte und trat vor das Büro. »Bereit?«, fragte er die blonde Leiterin der Pop-Abteilung mit der modischen braunen Rahmenbrille und dem streng wirkenden, aber modernen Pony, die vor dem Büro auf ihn wartete.
»Natürlich«, versicherte sie ihm.
»Darea, bring Lucas doch bitte gleich in den Konferenzraum.«
Sie nickte und Nikolaj konnte mit Suzie Velle den Weg dorthin einschlagen. Als sie ankamen, schien der Raum noch leer, aber auf dem Tisch stand ein Tablett mit zwei Thermoskannen.
»Wo kommt das her?«, fragte Suzie.
»Ich glaube, mein Assistent hat das hergebracht.« Er sah auf, als eben jener Assistent den Raum betrat.
»Mr. Williams, ich möchte Ihnen gern Miss Velle vorstellen, die Leiterin der Pop-Abteilung. Suzie, das ist Kaden Williams, mein neuer Assistent.«
Sie lächelte Kaden an. »Ah! Freut mich. Gute Arbeit hier. Ich nehme an, da ist Tee drin?«, fragte sie und nickte zu den Thermoskannen.
»Tee und Kaffee. Und freut mich«, erwiderte Kaden lächelnd. Er war immer noch wahnsinnig nervös. Aber er konnte jetzt wie ein Ertrinkender strampeln und Wasser nach allen Seiten verspritzen, ohne am Ende Erfolg zu haben, oder er versuchte es mit der Wasserleichen-Methode. Ruhig auf dem Rücken liegen und abwarten. Letzteres schien ihm zielführender. Und obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug, zitterten seine Hände kaum, als er jetzt das Milchkännchen auf dem Tisch abstellte.
»Suzie betreut Lucas Jains, seit er bei uns unter Vertrag steht«, erklärte Nikolaj weiter.
»Genau. Wir müssen mit Lucas noch die letzten Infos für die Tour durchgehen, die ab morgen startet. Eine Welttournee, beginnend hier in Amerika.« Suzies Stimme war etwas näselnd, was nicht etwa an einer Erkältung lag, sondern der Normalzustand war.
»Ja. Zumindest das habe ich gelesen.« Kaden begann, Tassen und Kannen auf dem Tisch zu arrangieren und stellte das leere Tablett dann auf ein Sideboard.
»Haben Sie sich den Tourplan angesehen? Sich angehört, was er für Musik macht?«, fragte Suzie weiter.
Kaden schluckte hart und hätte um ein Haar die moderne Vase, die auf dem kleinen Schrank stand, umgeworfen. »Nein.« Er war kein Freund von Lügen.
»Hm«, machte Suzie und warf Nikolaj einen Blick zu, den er stoisch hinnahm. Er wusste genau, was sie ihn fragen wollte, sich aber nicht traute, auszusprechen. Sie wandte sich wieder an Kaden.
Fragend sah Kaden auf die vielen Stühle. »Wo soll ich mich hinsetzen?« Er wusste ja nicht mal, was seine Aufgabe hier war. Was genau er tun sollte.
»Setzen Sie sich einfach hier hin«, sagte Nikolaj und deutete neben sich. »Hören Sie zu. Und bitte unterbrechen Sie uns nicht.«
Kaden nickte schnell, hatte tatsächlich kurz das Verlangen, einen Salut anzudeuten, aber im letzten Moment konnte er sich davon abhalten. Und so griff er nach dem Stuhl, zog ihn von dem gläsernen Tisch zurück und setzte sich darauf.
Nikolaj betrachtete ihn einen Moment, dann widmete er Suzie, die bereits leise begonnen hatte, mit ihm zu sprechen, seine Aufmerksamkeit.
»Denkst du nicht, es wäre besser, die Werbung in Deutschland noch einmal anzuziehen? Bis jetzt verkaufen sich die Karten dort sehr schlecht.«
Nikolaj nickte und sah in ihre Augen. »Leg mir eine Prognose auf den Tisch, dann werde ich sehen, was sich machen lässt.«
Es klopfte an der Tür und alle sahen auf, als Darea den Raum betrat, gefolgt von dem schwarzhaarigen Lucas. Suzie sprang auf und begrüßte ihn herzlich.
»Lucas, hi! Schön, dass du es geschafft hast«, sagte sie und reichte ihm die Hand, was Nikolaj ihr wenig später gleich tat. Dann deutete er auf Kaden.
»Mein Assistent Kaden Williams.«
Der erhob sich ebenfalls und reichte dem gut aussehenden Mann die Hand. Ihn begleitete ein Hauch von Pfefferminz. Durchaus angenehm.
»Freut mich, Sir«, sagte er leise und lächelte.
»Mich auch«, erwiderte Lucas schlicht. Suzie begann, über die Tournee zu sprechen, erklärte die bisherigen Probleme, vor allem den schlechten Kartenverkauf in Deutschland, den Lucas mit seinem geringen Bekanntheitsgrad in Zusammenhang brachte.
»Dank der Filmmusik, die ich gemacht habe, bin ich zwar bekannter, aber das heißt noch lange nicht, dass sich die Leute ein ganzes Konzert mit mir ansehen«, erklärte er. Suzie nickte und präsentierte ihren Vorschlag, die Werbung zu erhöhen.
»Was ist mit der Vorgruppe, die ich wollte? Steht alles mit Darker Nation?«
Suzie nickte und berichtete, dass sie sich sehr freuen würden, Lucas auf der Tour zu begleiten. »Was ist mit euch? Kommt ihr auch?«, fragte er mit durch Brillengläsern lächelnden Augen.
»Ich werde es nur zum Eröffnungskonzert schaffen«, erklärte Nikolaj. »Aber Suzie wird zu mehr Konzerten kommen, richtig?« Suzie bestätigte das und erging sich dann in Details, wie den Zeitplänen.
Kaden saugte jedes Wort auf. Das hier war wirklich eine ganz andere Welt. Da ging es um Plakate, um Radiowerbung. Um den ganzen Ablauf einer Konzerttour, welche durch viele verschiedene Länder laufen würde. Es war spannend. Ihm wurde auch bewusst, wie wenig er über dieses ganze Business wusste und wie viel er noch zu lernen hatte. Aber er hatte diesen Vertrag unterzeichnet und er würde es schaffen. Auch wenn er sich den Arsch abrackern musste. Diesmal würde es vielleicht weniger körperlich werden, sondern tatsächlich eher geistig und das wiederum war eine neue Erfahrung.
Schließlich verabschiedeten sie Lucas und Nikolaj versprach, morgen beim Konzert vorbeizuschauen. Suzie sah erleichtert aus, was Nikolaj verstehen konnte. Lucas war nun wirklich kein schwieriger Künstler, da gab es andere Kaliber mit ganz anderen Vorlieben und Regeln. Dennoch war man froh, wenn alles so verlief, wie es sich der Künstler vorstellte und der auch zufrieden war.
»Mr. Williams, räumen Sie hier auf und dann möchte ich Sie noch einmal in meinem Büro sprechen«, sagte Nikolaj schließlich, als Suzie und Lucas den Konferenzsaal bereits verlassen hatten.
Kaden nickte und fragte sich, ob Nikolaj seine Gedanken gelesen hatte, denn genau um ein solches Gespräch hatte er auch bitten wollen. Er räumte alle Sachen auf das Tablett und atmete noch einmal ein, bevor er den Raum verließ. Hier drinnen vermischte sich jetzt der Duft von vier Menschen, die alle ganz unterschiedlich rochen und doch war es nicht unangenehm. Nur eine merkwürdige Mischung. Kaden räumte in der Küche alles weg und lief dann den langen Gang zurück, sah den so bekannten schwarzen Schopf von Darea hinter ihrem Platz.
»Hallo, Miss Harrison.«
»Mr. Williams«, sagte Darea, ohne von ihrem Bildschirm aufzusehen.
»Ähm.« Die Frau verwirrte ihn nach wie vor. »Mr. Sorokin wollte mich sehen. Kann ich ...« Er deutete zur Tür.
»Ich weiß nicht, ob Sie können. Sie dürfen aber«, sagte Darea und sah nun kurz auf.
»Danke.« Er lächelte ihr zu und trat dann zu der gläsernen Tür, die geschlossen war. Leise klopfte Kaden an, bevor er sie öffnete. »Sir?«
Nikolaj Sorokin sah vom Bildschirm seines Laptops auf. »Ah, Mr. Williams.« Er deutete auf den Stuhl vor seinem Tisch.
Kaden leistete seiner Bitte Folge und sah in diese hellen Augen, nahm für einen Moment seinen Duft wahr. Verdammt, ja. Er musste es zugeben. Dieser einflussreiche Mann roch verflucht gut.
»Ich wollte Sie sprechen, weil ich noch eine Aufgabe für Sie habe«, begann Nikolaj und löste seine Hand von der Maus, um sich nun auf Kaden zu konzentrieren.
Kaden nickte. »Gern.«
Nikolaj erhob sich und beugte sich dann nach unten, um eine Kiste hochzuheben, die er vor sich auf dem Tisch abstellte. »Das sind die Demobänder der letzten Woche. Bitte hören Sie die doch durch und sagen mir, welche Künstler wir uns genauer ansehen sollten. Ob wir uns welche genauer ansehen sollten.«
Kaden sah auf den Karton, blinzelte. Mehrmals. » Ich soll das machen?«
»Ich kenne die Tapes bereits.«
Es war eine typische Aktenkiste und da waren verdammt viele CDs drin. Und das alles war von nur einer Woche. Kaden schluckte. »Okay. Ich hör’s mir an«, sagte er. »Ich habe eine Bitte, Sir.«
Nikolajs linke Augenbraue hob sich langsam. »Ich höre.«
»Ich sehe ein, dass meine Garderobe nicht ganz, nun, angemessen ist für eine Umgebung wie diese hier. Aber ich möchte nicht, dass Sie für meine Kleidung bezahlen. Und darum wollte ich Sie bitten, die Kosten von heute von meinem Lohn abzuziehen.« Er rieb sich über die Stirn. »Ich meine, etwas über 3.000 Dollar. Das ist einfach zu viel und mit so einem großzügigen Gehalt ... Ich meine, ich kann das nicht einfach so zurückzahlen und wenn Sie mir 1.000 Dollar im Monat abziehen, dann sind es ja immerhin noch drei Monate, bis ich schuldenfrei bin. Und das nur, wenn ich tatsächlich so lange durchhalte und ...« Da. Es passierte schon wieder. Er begann zu plappern, wann immer er nervös war.
Langsam hob sich auch Nikolajs zweite Augenbraue. Der Geruch von Nervosität stieg ihm in die Nase.
»Das genügt«, sagte er schließlich, als die Unsicherheit drohte, Kaden komplett einzunehmen. Prompt schien es, als würde der die Luft anhalten. »Sie können von 2.680 Dollar im Monat leben?«
Kaden schnaubte. »Das ist immer noch mehr als doppelt so viel wie das, was ich vorher hatte.«
»Gut. Dann haben wir eine Abmachung. Wenn Ihnen das wichtig ist.«
Erleichtert seufzte Kaden auf. »Danke.«
Nikolaj betrachtete ihn für einen Moment. »Haben Sie schon Zugang zu den weiteren Terminen? Darea hat einen virtuellen Kalender, den sie pflegt und Ihnen zukommen lassen sollte.«
»Ja. Ich werde nächstes Mal besser vorbereitet sein. Tut mir leid wegen vorhin.«
»Ich sehe ein, dass nicht viel Zeit war.« Nikolaj folgte Kaden mit dem Blick, als dieser sich erhob und zur Tür lief.
»Trotzdem. Ich mache mich jetzt an die Arbeit.« Kaden verließ das Büro mitsamt dem Karton, in dem sich die ganzen CD-Träger befanden. Mit einem Mal schien ein 24-Stunden-Tag viel zu wenig.
Er trug den Karton in sein Büro, schob ihn dort unter den Tisch. Kaden war wirklich dankbar für die große Arbeitsfläche des L-förmigen Tisches, denn er würde jeden Zentimeter davon brauchen. Auf magische Weise hatte ein Stapel Ordner den Weg auf seinen Tisch gefunden und er blätterte sie schnell durch, um zu sehen, was von ihm verlangt wurde. Er konnte nur vermuten, dass die Unterlagen von Darea kamen und ab jetzt in seinen Zuständigkeitsbereich fielen. Vier Ordner mit langen Verträgen, die Korrektur gelesen werden sollten. Kein Problem. Abgesehen davon, dass 24 Stunden zu wenig waren. Drei Ordner mit Kostenaufstellungen, die per Hand geschrieben wurden und nun auf dem PC ins Reine getippt werden mussten. Irgendwo auf dem System befand sich sicherlich eine Vorlage, die er nutzen konnte, um die Zahlenkolonnen dort einzusortieren. Vorher musste er sich nur noch einmal mit der Rechnungslegung vertraut machen. Es war Freitag. Das hieß, dass er am Wochenende Zeit hatte, sich diese Bücher zu Gemüte zu führen und im Zweifel neue zu bestellen, wenn die von Darea nicht reichten. In dem letzten Ordner befand sich neben Unterlagen auch eine kleine Speicherkarte, die er aus der Klarsichtfolie zog und in den Kartenslot des Computers schob. Eine Audiodatei befand sich darauf. Kaden nahm seinen MP3-Player aus seiner Tasche und zog die Ohrstöpsel ab, steckte sie in den PC und kurz darauf hörte er Nikolajs Stimme, die einen Brief diktierte. Damit würde er anfangen. Das ging wohl am Schnellsten.
Er brauchte insgesamt eine Stunde, um die Vorlage mit dem Briefkopf der Firma zu finden und war verwirrt, als ihm am Ende auffiel, dass in seinem Büro gar kein Drucker stand. Aber Darea konnte auch hier helfen. Es gab einen Drucker- und Kopierraum, den sie Kaden zeigte und hier lag auch, in einem der vielen Großdrucker, sein Brief. Er legte ihn in die Akte, die zu diesem Diktat gehörte und brachte ihn Darea zurück.
»Gebe ich Ihnen diesen Ordner zurück? Oder wie funktioniert das?«
Sie sah darauf und lächelte. »Sie begreifen schnell, Schätzchen. Das gefällt mir. Danke. Ich gebe es an Mr. Sorokin weiter.«
Kaden konnte Nikolaj in seinem Büro sehen. Er telefonierte und Kaden wurde langsam klar, wie das hier lief. Darea war sozusagen der Puffer, der dafür sorgte, dass niemand über diese Türschwelle trat, der es nicht unbedingt musste, damit Nikolaj in Ruhe seine Arbeit machen konnte. Wie ein Uhrwerk, schoss es Kaden durch den Kopf, während er zurück an seinen Tisch ging. Er merkte kaum, wie die Zeit verging. Die Tischlampe schaltete er eher unbewusst ein, auch wenn sie ein angenehmes, helles Licht spendete. Kaden schaffte es, den ersten Vertrag durchzuarbeiten. Es war interessant, was genau alles in so einem Vertrag festgehalten wurde. Was offensichtlich festgehalten werden musste . Keine Drogenexzesse, sonst gab es Strafen. Keine anzüglichen Videos ins Netz stellen, sonst gab es Strafen. Keine Musik ins Netz stellen, ohne vorher mit der Firma zu sprechen, also mit Nikolaj, sonst gab es Strafen. Kein Wunder, dass diese Verträge alle so dick waren! Kaden merkte erst, wie spät es war, als sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog und er eines mit Erschrecken feststellte: Er hatte den ganzen Tag weder etwas getrunken noch gegessen. Er hatte es schlicht und ergreifend vergessen.
Sein Blick ging zur Uhr. 19:12 Uhr stand dort. Schwer schluckte er. Sein nächster Blick ging zu den übrigen Ordnern. Das würde wohl bis Montag warten müssen. Oder arbeitete man hier auch samstags?
Kaden runzelte die Stirn und rief sich den Vertrag ins Gedächtnis, den er unterzeichnet hatte. Nein. Reguläre Arbeitszeit war von Montag bis Freitag. Es sei denn, es gab dringliche Termine, die anstanden. War das dringlich? Er würde am Montag darum bitten, ihm Zettel auf die Ordner zu kleben mit einem Datum, zu wann die Aufgaben erledigt sein mussten. Das konnte er einfach nicht wissen. Oder wusste Darea so etwas? Dann musste er Nikolaj gar nicht danach fragen.
Kaden beschloss, für heute Feierabend zu machen. Also schlüpfte er in seinen Mantel, bewaffnete sich mit den ganzen Taschen, in denen sich sündhaft teure Kleidung befand und verließ dann das Firmengebäude. Auf seinem Weg nach Hause vertiefte er sich in der Bahn in eines der Bücher von Darea. Abrechnung und ihre Tücken . Nicht sehr spannend und es war schwierig zu lesen mit all den Zahlen. Er musste es ja auch wirklich verstehen und so las er oft die Seiten zwei oder drei Mal, bis er den Inhalt begriff und kam dann kurz vor neun endlich in seiner Wohnung an.
Kaden schob die Reste vom gestrigen Mittagessen in die Mikrowelle und wartete gar nicht darauf, dass es richtig heiß war. Er hatte inzwischen so einen Hunger, dass sogar sein Sofakissen sehr appetitlich aussah. Die Dusche sparte er sich für morgen früh auf und fiel wie ein Stein ins Bett.
Und dieses Muster sollte sich in den nächsten Tagen als Routine einspielen. Früh aufstehen. Ins Büro fahren. Auf dem Weg dorthin Fachliteratur lesen. Unterlagen auf seinem Schreibtisch vorfinden. Die Ordner kamen tatsächlich von Darea. Und sie klebte jetzt immer kleine Post-its oben auf mit einem Datum. Manchmal stand dort auch das Wort Sofort! in einer eleganten Handschrift. Es gab Gespräche in der Firma, bei denen Kaden immer dabei sein musste. Zu Außenterminen jedoch wurde er nicht mitgenommen und er konnte es verstehen. Es wirkte sicherlich nicht so gut, einen schweigsamen Gast an einem Tisch eines Nobel-Restaurants zu haben. Schon gar nicht, wenn es ums Geschäft ging.
Kaden fand das sogar sehr passend, denn so hatte er die Zeit, die Arbeit nachzuholen, die sich mittlerweile auf dem Schreibtisch türmte. Wie arbeitete man so etwas nur ab ohne massive Überstunden? Er vergaß darüber häufiger, etwas zum Mittag zu essen und blieb bis spät in die Nacht im Büro. Zuerst hatte er versucht, die Demotapes nebenbei zu hören. Was einfach nicht funktionierte. Entweder konzentrierte er sich so auf die Musik, dass er nicht richtig wahrnahm, was er las oder er korrigierte Verträge, ohne die Musik richtig zu hören. Und so hängte Kaden einfach abends um 19 Uhr eine Stunde hinten dran und hörte in dieser Zeit Musik. Teilweise sehr komische Musik.
In dieser Zeit sah er sich auch den Terminplan für den nächsten Tag an. Und für die nächste Woche, auch wenn sich dort noch etwas ändern konnte. Und mit einem Mal waren es schon zwei Wochen, die er für Nikolaj arbeitete, ohne direkt etwas mit ihm zu tun zu haben. Zwei Wochen, die so voller Arbeit steckten, wie er es noch nie erlebt hatte.
Er war diese Art von Arbeit einfach nicht gewohnt. Diese hohe, geistige Anforderung, die ihn wirklich forderte und etwas von ihm verlangte. Das war etwas, was schon sehr lange nicht mehr vorgekommen war. Alleine, dass Kaden immer wieder vergaß, etwas zum Mittag zu essen, war der beste Beweis und das, obwohl er sonst immer in alle Richtungen dachte. Vermutlich lag es daran, dass er einfach müde war. Zu wenig Schlaf bekam. Der lange Fahrtweg. Diese Unmengen an Arbeit. Das alles sorgte dafür, dass er an diesem späten Nachmittag einfach einnickte. Die Kopfhörer im Ohr. Die Stirn auf dem Unterarm, die Hand noch an der Maus und die Musik lief leise weiter.
Es war Darea, die um kurz vor halb sieben an Nikolajs Bürotür klopfte und sie öffnete, ohne auf eine Antwort zu warten.
Er sah von einem der Verträge auf, die vor ihm lagen und sah direkt in grüne blitzende Augen. »Darea?«
Sie trug ihre Handtasche in der linken Hand und hatte sich ihren eleganten und teuren Mantel über den Arm gelegt. »Ich mache jetzt Feierabend. Und du solltest das auch tun.«
»Ja. Gleich.« Er schlug die Akte zu und rieb sich übers Gesicht.
Sie rührte sich keinen Millimeter von der Stelle und sah ihren Vorgesetzten weiterhin an.
»Was ist noch?«, fragte er, weil er selbst hinter seiner Hand Dareas Anwesenheit spürte. Als er die Hand sinken ließ und in Dareas Augen sah, stutzte er jedoch. »Du siehst aus, als hätte ich deinen Geburtstag vergessen.«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Wie lange arbeitet Mr. Williams jetzt schon für dich?«
»Zwei Wochen«, antwortete Nikolaj, lehnte sich nun zurück. Darea wollte auf irgendetwas hinaus. Sie hatte diesen ganz besonderen Blick aufgelegt, wartete aber dennoch einen Augenblick. Fast hätte sie geseufzt.
»Wann warst du das letzte Mal in seinem Büro?« Sie stützte jetzt ihren freien Arm in die Hüfte. Eine absolut typische Darea-Geste.
»Das war vor zwei Wochen. Als ich ihm sein Büro gezeigt habe. Darea, worauf willst du hinaus?«
Sie zog die Augenbrauen zusammen. So leicht würde sie Nikolaj nicht von der Angel lassen. Dazu war sie zu sehr Darea. »Nik, wie häufig schaut man nach einem frisch geborenen Lämmchen, was denkst du?«
Nikolaj runzelte die Stirn über diesen selbst für Darea ungewöhnlichen Spitznamen. »Du möchtest, dass ich nach ihm sehe.«
Ihre Augen blitzten. »Nein, ich möchte, dass du darüber nachdenkst, was du tust. Es ist eine Sache, ein neugeborenes Lamm sich selbst zu überlassen. Es kann durchaus auch alleine laufen lernen. Nicht zuletzt, wenn es sich ein Beispiel an den anderen Lämmern im Stall nimmt. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man diesem Lamm auch noch Steine in den Weg legt und es in Arbeit ertränkt.« Sie hatte das Kinn hoch gereckt. Noch ein letzter, fester Blick und dann verließ sie das Büro ohne ein weiteres Wort.
Nikolaj sah ihr nach und blieb lange so sitzen, den Blick auf die Tür gerichtet, durch die Darea verschwunden war. Nach und nach verschwand auch ihr weihnachtlicher Duft. Natürlich wollte sie, dass Nikolaj nach seinem neuen Schützling sah. Aber ihr Wunsch ging darüber hinaus. Nikolaj kniff die Augen zusammen, schloss die Akte und schob sie in die Kiste, die neben seinem Schreibtisch stand. Dann erhob er sich, griff am Garderobenständer seinen Mantel und löschte das Licht, bevor er sein Büro verließ und den Flur hinunterlief. Leise klopfte er an Kadens Bürotür, aber niemand reagierte. Ein dünner Fetzen Licht fiel unter der Tür hindurch, die Nikolaj kurzerhand öffnete. Im Büro sah es wüst aus. Das konnte man nicht anders sagen. Überall standen Kisten herum, der Schreibtisch lag voll, eine Ecke mit Büchern, die andere mit Akten, die nächste mit CD-Stapeln. Und irgendwo dazwischen, halb auf seinem Laptop, lag Kaden. Kopfhörer in den Ohren, das Licht des Laptops beleuchtete sein Haar bläulich. Die Luft hier drinnen war auch verbraucht. Man konnte Arbeit zwar nicht riechen, aber die Müdigkeit machte Kadens Duft schwerer. Ganz so, als ob die herben Komponenten stärker hervortreten würden. Er trat näher, legte seinen Mantel über dem Stuhl vor dem Schreibtisch ab, der ebenfalls vollgestellt war und griff dann nach einem Kopfhörer-Stöpsel. Vorsichtig zog er ihn Kaden aus dem Ohr.
Erschrocken fuhr der aus seinem Schlaf hoch. »Was?!«, rief er und zuckte dann zusammen. Zum einen, weil er Nikolaj vor sich erkannte und zum anderen, weil irgendetwas in seinem Nacken lautstark knackte.
Das hohle Geräusch des Knackens war selbst für Nikolaj zu hören, aber er sah fest auf Kaden herab. »Hallo. Wir sollten uns unterhalten.«
Schwer schluckte Kaden. »Tut mir leid. Ich wollte nicht einschlafen.« Er rieb sich fest über die Augen. Sie brannten wie Feuer.
Nikolaj hob die Kiste vom Stuhl, stellte sie auf dem Boden ab und setzte sich. »Sie sollten gar nicht mehr hier sein.«
»Aber ich darf nichts davon mit nach Hause nehmen.« Er hatte den Vertrag gelesen. Er war ja nicht doof. Firmenunterlagen hatten die Firmenräume nicht zu verlassen. Es sei denn mit ausdrücklicher Genehmigung.
Nikolaj schüttelte den Kopf. »Nein, das dürfen Sie nicht. Das meinte ich aber auch nicht. Mr. Williams, wenn ich mich hier so umsehe, kann ich erkennen, dass Ihnen die Arbeit über den Kopf wächst.«
Kaden zuckte zusammen. »Wa... Nein!« Er sah Nikolaj an. »Nein, ich schaffe das schon!« Das lief ja wunderbar, dachte er bei sich. Zwei Wochen und schon stand er kurz davor, gefeuert zu werden. Und das, wo es gerade anfing, Spaß zu machen!
»Mr. Williams, ich bin nicht sicher, ob ...«, begann Nikolaj nachdrücklich, doch Kaden unterbrach ihn schnell.
»Nein, ich schaffe das! Bitte. Ich kann das Wochenende durcharbeiten, das ist kein Problem. Aber bitte, geben Sie mir noch eine Chance.« Innerlich runzelte Kaden die Stirn. Bettelte er etwa gerade? Oh Jesus, das war erbärmlich. Aber die Wahrheit war, diese Arbeit forderte ihn. Auf eine Art und Weise, wie es noch keine andere je getan hatte. Ja, es ging an seine Reserven, aber das war auch etwas Gutes! Denn er hätte nie gedacht, dass es so etwas tatsächlich gab. Nikolajs Gesichtsausdruck veränderte sich genau so weit, dass man erkennen konnte, wie ungern er unterbrochen wurde. Und das ging einher mit einer Veränderung seines Geruchs. Nur eine feine Nuance. Mehr wie ein Hervortreten dieser maskulinen Anteile. Schwer schluckte Kaden. »Entschuldigung.«
»Ich spreche nicht davon, Sie zu feuern. Ich spreche davon, dass ich unterschätzt habe, wie viel Sie aufzuholen haben. Ich sehe, dass Sie es aufholen, aber auch, dass Sie viel Zeit dafür brauchen.«
»Es tut mir leid.« Ja, es tat ihm auch leid! Er war eingerostet und es war einfach eine Menge zu lesen und egal, was sein Gehirn in der Lage war zu leisten, seine Augen waren einfach nur ganz normale Augen. Und die konnten auch nicht zwei Seiten auf einmal lesen, auch wenn sie in der Lage waren, eine Seite in Rekordgeschwindigkeit durchzuarbeiten und das Gelesene auch noch für immer abzuspeichern.
»Ja. Das merke ich«, kam die feste Antwort. Beinahe war Kaden, als konnte er sehen, wie Nikolaj die Nase verzog. Wahrscheinlich stach ihm der Geruch in der Nase. »Sie müssen etwas zurückgeben.«
Kaden sah auf das Durcheinander auf seinem Tisch, das für ihn durchaus eine Ordnung hatte. »Und was?«, fragte er, ließ die Schultern sinken.
»Gibt es etwas, was Ihnen leicht fällt, Sie aber viel Zeit kostet?«
»Das Korrektur-Lesen. Aber das macht Spaß.« Und noch dazu konnte er durch die vielen Verträge oder Vertragsänderungen eine Menge über dieses Business lernen.
Nikolaj hob die Hände. »Ist mir egal. Suchen Sie etwas aus. Aber Sie nützen mir nichts, wenn Sie auf dem Schreibtisch einschlafen.«
Das war klar und deutlich. Kaden biss die Zähne zusammen. »Kann ich nicht das Wochenende über arbeiten? Ich bin sicher, ich kann alles bis Montag schaffen.«
»Nein.«
Nikolajs Blick war weit mehr als stechend und Kaden musste wegsehen. Sah auf seine Hände. »Dann die Tapes.«
»Gut. Sie können mir gern Ihre bisherigen Ergebnisse mitteilen. Stellen Sie den Karton mit den Tapes einfach auf Dareas Schreibtisch. Und jetzt«, der Firmenchef erhob sich, »kommen Sie.«
Verwirrt sah Kaden zu ihm auf. »Wo gehen wir denn hin?«
»Schalten Sie alles aus und nehmen Sie Ihre Sachen.«
»Huh«, machte Kaden leise. Er würde wohl keine Antwort bekommen. Also erhob er sich, schaltete den Laptop aus, nachdem er alles gespeichert hatte und suchte sein Zeug zusammen. »Und jetzt?«
Nikolaj hielt die Tür auf und deutete in den Flur davor.
Kaden seufzte und trat nach draußen. Die Beleuchtung war inzwischen deutlich gedämpft und er fragte sich, wie spät es war. Er kramte nach seinem Handy, um auf die Uhr sehen zu können.
»Es müsste etwa 19 Uhr sein«, erklärte Nikolaj, zog die Bürotür zu. »Kommen Sie.« Er schlug den Weg zu den Fahrstühlen ein. »Wie lange haben Sie in den letzten Tagen gearbeitet?«
»So bis acht ...« Manchmal auch noch etwas länger.
Ohne eine Miene zu verziehen legte Nikolaj den Mantel auf seinem Arm zurecht. »Wie lange brauchen Sie nach Hause?«
Kaden runzelte die Stirn. Irgendwie gefiel ihm die Richtung nicht, in die sich dieses Gespräch gerade entwickelte. Aber wie schon erwähnt, er war kein Freund von Lügen. »Wenn es gut läuft, dann eine knappe Stunde. Wieso?«
Nikolaj blieb vor den Fahrstühlen stehen und drückte den Rufknopf, sah dann zu Kaden. »Sie arbeiten zu lange.«
»Wie Sie schon festgestellt haben, ich habe eine Menge aufzuholen.«
»Wie ich schon festgestellt habe, habe ich unterschätzt, wie viel.« Die Fahrstuhltüren sprangen auf und sie traten ein. Kaden sah auf die Anzeige, auf der jetzt die Taste für die Tiefgarage leuchtete und schluckte.
»Was wird das hier? Ist das ... so etwas wie eine Entführung?«
Ein irritierter Blick, wie er ihn noch nicht von Nikolaj gesehen hatte, traf ihn. »Wie bitte?«
Der hob fragend eine Schulter. »Sie sagen mir ja nicht, wo wir hingehen. Oder fahren. Vermutlich fahren.« Er deutete auf den leuchtenden Knopf für die Tiefgarage.
Nikolajs Mundwinkel zuckte. »Und Sie glauben, ich würde Sie entführen? Das trauen Sie mir zu?«
»Ich kenne Sie ja nicht.«
»Das ist wohl Antwort genug.« Sie traten in den Vorraum zur Tiefgarage. »Ich entführe Sie nicht.«
»Sie sagen mir aber auch nicht, wo wir hinfahren.«
»Und macht Ihnen das Angst?« Nikolaj deutete schließlich auf einen schwarzen Chrysler nicht weit von der Tür entfernt.
Kaden sah auf das nachtschwarze Auto und blinzelte. »Wow«, machte er beeindruckt. Dann schüttelte er den Kopf. »Unter normalen Umständen vielleicht, aber ich fürchte, ich bin zu müde dazu.«
Nikolaj betrachtete Kaden, während er die Fahrertür öffnete. »Steigen Sie ein. Haben Sie Hunger?«
Es klickte leise, als Kaden den Gurt schloss und sah dann zu Nikolaj. Dessen Haar lag perfekt, selbst jetzt, nach so einem langen Arbeitstag. Die gerade Nase, die vollen Lippen. Die maskuline Kieferpartie. Und alles hier in diesem Auto roch nach ihm. Unwillkürlich atmete Kaden tief ein. Wie das frische Meer und der kühle Wald.
»Wieso fragen Sie das?«
»Davon hängt ab, ob wir noch einen Zwischenstopp machen«, erklärte Nikolaj und lenkte den Wagen durch die Tiefgarage Richtung Ausgang.
»Also füttert man Geiseln, bevor man sie in Ketten legt?« Kaden sank lächelnd tiefer in den Sitz. Denn obwohl die ganze Situation sehr merkwürdig war, konnte er nicht umhin zu bemerken, wie bequem die hellen Ledersitze waren.
Nikolaj lächelte verschmitzt. »Schon mal von der Henkersmahlzeit gehört?«
Das brachte Kaden zum Lachen. »Oh Gott, jetzt wollen Sie mich auch noch töten.«
Der Abend war bereits über La Junta Gardens hereingebrochen. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 19:24 Uhr an. Und natürlich knurrte Kadens Magen genau in diesem Moment. In einem anderen Wagen, nicht so teuer wie Nikolajs, wäre das vielleicht in den Umgebungsgeräuschen untergegangen. Hier gab es so gut wie keine und das Grollen aus seinem Bauch war dem Paarungsruf eines Buckelwals nicht unähnlich. Kaden spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Der Geruch von Scham erfüllte das Auto.
»Nun gut. Also ein Zwischenstopp«, erklärte Nikolaj ruhig.
Kaden gähnte hinter vorgehaltener Hand und sah aus dem Fenster. Leise Musik begleitete ihre Fahrt, bis Nikolaj erneut den Blinker setzte und auf das Gelände eines Master Burger fuhr. Nikolajs Meinung nach gab es hier die besten Burger und Pommes. Vor allem letztere waren perfekt gewürzt und frittiert, nicht zu fettig und herrlich knusprig. Er fuhr auf den Drive In zu und bemerkte Kadens verwirrten Blick.
»Sie essen Burger?«
»Manchmal.« Er lenkte den Wagen vor den Lautsprecher, ließ die Scheibe hinunter.
»Willkommen bei Master Burger . Ihre Bestellung bitte«, knarzte ihnen eine verzerrte Frauenstimme entgegen.
»Einen Cheeseburger mit Tomaten, Zwiebeln, Mayo und Hot Sauce. Dazu zweimal Master Fries und ...« Fragend sah er zu Kaden, welcher ihn immer noch mit großen Augen ansah.
»Oh!«, machte er dann und beugte sich vor. »Bacon Cheese Burger mit Gurken, Tomaten, Salat, Zwiebeln und Paprika. Pommes, dazu Ketchup und Mayo. Danke!«
»Sehr gern. Dürfen es noch Getränke dazu sein?«, fragte die fremde Stimme durch den Lautsprecher.
Nikolaj überlegte nicht lange. »Ein Wasser mit Kohlensäure ohne Eis für mich und ...« Er sah erneut fragend zu Kaden. Dessen Duft strich für den Firmenchef durchs Auto wie eine sichtbare Spur.
»Cola ohne Eis.«
»Das wäre alles.«
»20,80 Dollar am zweiten Fenster.« Nikolaj fuhr langsam vor zum zweiten Fenster, zog dort das Portemonnaie aus seiner Jacketttasche und nahm das Geld heraus, welches er kurz darauf gegen die typische braune Papiertüte mit dem Master-Burger -Logo darauf tauschte. Diese reichte er sofort an Kaden weiter.
»Lassen Sie es sich schmecken.«
»Ganz sicher nicht in diesem Auto.«
Nikolaj konnte sich ein leises Schnauben nicht verkneifen. »Kleckern Sie gern?«
»Wer kleckert schon gern?«, fragte Kaden amüsiert. »Aber ja. Na ja, zumindest bei Burgern.«
»Hm.« Nikolaj trat aufs Gaspedal und Kaden hoffte, dass die Burger so gut und frisch waren, dass sie noch einen Moment warm bleiben würden. Die Fahrt verlief in relativem Schweigen und der Duft der Burger verdrängte jetzt alles andere, ließ Kaden das Wasser im Mund zusammenlaufen und testete seine Selbstbeherrschung. Das Verlangen, die Tüte einfach aufzureißen und den Burger in einem Stück in den Mund zu stopfen, war beinahe unmenschlich groß.
Schon seit sie von der Schnellstraße abgebogen waren, war Kaden klar geworden, wohin die Fahrt ging und als sie schließlich vor seinem Wohnhaus hielten, seufzte er leise.
»Und Sie hätten mir nicht einfach sagen können, dass Sie mich nach Hause bringen?«,
Nikolaj lächelte. »So ist die Erleichterung, dass ich Sie weder entführe, noch knebele oder töte doch viel größer. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, Mr. Williams.«
Kaden sah nach draußen. Dann wieder zu seinem Chef und deutete hinter sich, aus dem Fenster. »Wollen Sie vielleicht mit hoch kommen? Sonst ist Ihr Burger doch kalt, bevor Sie zuhause sind.« Also schön, die Aussage beruhte auf einer Vermutung, weil er keine Ahnung hatte, wo Niklolaj wohnte, aber er war sich fast sicher, dass es nicht um die Ecke war. Und lud er gerade tatsächlich seinen Vorgesetzten in seine winzige Wohnung ein? In der es aussah wie nach einem Bombenanschlag? Das war absolut unpassend und unangebracht, aber vermutlich war er unterzuckert und dadurch nicht mehr Herr seiner Sinne.
Nikolaj beugte sich jetzt vor und sah an dem Wohnhaus empor. »Ich weiß die Einladung durchaus zu schätzen, aber das wäre keine gute Idee.«
Kaden grinste schief. »Unter Ihrer Würde?«
»Es ist nicht angemessen. Das hat nichts mit Würde zu tun, nur mit unserem Verhältnis. Ich bin Ihr Vorgesetzter.«
Jetzt musste Kaden doch lachen. »Ich wusste nicht, dass wir ein Verhältnis haben.« Bei Nikolajs Gesichtsausdruck jedoch, der absolut emotionslos war, räusperte er sich.
»Schon gut. Dann danke für die Fahrt.« Er öffnete die Tür und stieg aus, hängte sich seine Tasche um, kramte nach dem Schlüssel, bevor er in die Papiertüte griff und sich umständlich mit Burgerschachtel, Pommestüte und Cola bewaffnete. »Und für das Essen. Gute Nacht.« Kaden schloss die Tür mit dem Ellenbogen und hätte um ein Haar den Colabecher in der Hand zerdrückt. Die waren früher auch stabiler gewesen.
Nikolaj sah dem jungen Mann nach, der im Halbdunkel auf die Haustür zutrat und tatsächlich so aussah, als würde er jeden Moment im Gehen einschlafen. Lämmchen ... Darea hatte schon ganz Recht, der Vergleich drängte sich auf. Nik wartete, bis Kaden im Haus verschwunden war, bevor er den Motor erneut startete und den Heimweg einschlug. Sein Blick fiel auf die Papiertüte, die nun sein Beifahrer war. Kadens Duft hing noch hauchzart in der Luft und so wie es ihm schon öfter aufgefallen war, fiel ihm auch jetzt auf, wie er auf ihn reagierte. Wie sehr ihm diese Komposition zusagte. Nein, es wäre wirklich keine gute Idee gewesen, Kaden nach oben zu begleiten. Hinauf in eine Wohnung, in der die Luft vollends angereichert war mit diesem Duft aus Mandeln, Granatapfel, Baumwolle und Vanille.
Etwa 15 Minuten später fuhr er in seine Auffahrt, parkte den Wagen und betrat sein Haus. Er setzte sich an den Esstisch, um einen lauwarmen Burger und weich gewordene Pommes zu essen. Das Klingeln des Handys und der Name auf dem Display ließen nichts Gutes erahnen. Nikolaj hob ab und stellte auf Lautsprecher.
»Darea?«
»Was macht das Lämmchen?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Es ist im Trockenen«, formulierte Nikolaj vorsichtig und schüttelte den Kopf. Diese dämlichen Metaphern.
»Gut.« Sie klang tatsächlich zufrieden.
»Du hast doch nicht etwa einen Narren an ihm gefressen, oder Darea?«
Das kurze Schweigen klang beinahe entrüstet. »Pah! Nein. Ich halte ihn nur für wichtig, damit du deiner Arbeit nachgehen kannst.«
Eine Lüge? Eine Halbwahrheit? Oder die volle Wahrheit? Schwer zu sagen bei dieser Frau. Nik schob sich einen Pommesstreifen in den Mund, die Tüte knisterte leise.
»Was machst du gerade?«, fragte sie und Nikolaj sah auf die Reste vor sich.
»Ich esse.«
Er hörte sie sehnsüchtig seufzen. »Was muss ich tun, um mal wieder in den Genuss deiner Kochkünste zu kommen? Sag schon. Was gibt es heute bei dir?«
»Burger und Pommes.«
Eine Weile schwieg Darea am anderen Ende, aber er konnte sie atmen hören. »Kannst du das wiederholen?« Nikolaj seufzte leise und Darea schien sich noch prächtiger zu amüsieren. Er konnte es an ihrer Stimme hören, als sie weitersprach. »Die Frage ist ja jetzt wohl eher, ob du einen Narren an unserem Lämmchen gefressen hast, mein Lieber.«
»Unsinn Darea.«
Sie schnalzte mit der Zunge wie sie es vorhin getan hatte. »Kein Unsinn. Du würdest dir nie alleine Burger und Pommes holen. Und aus deinem ›Es ist im Trockenen‹ schließe ich, dass du Kaden nach Hause gebracht hast. Also habt ihr einen Zwischenhalt bei Master Burger gemacht, so wie ich dich kenne. Wenn schon Burger, dann die, hm?«
Nikolaj kniff leicht die Augen zusammen. »Wir sehen uns Montag, Darea.«
Damit beendete er das Gespräch und hörte sie noch lachen, als sein Handy stumm neben ihm lag. Er hätte ihr nichts von Burgern und Pommes sagen dürfen. Jede Information war zu viel in ihren Händen und sie war wie kein anderer Mensch in der Lage, aus noch so kleinen Hinweisen Schlüsse zu ziehen, die ihm schon oft die Frage aufgedrängt hatten, ob da Magie im Spiel war. Diese Frau wusste zu viel, ahnte zu viel und lag mit ihren Vermutungen auch noch viel zu häufig richtig. Nämlich immer.
***
Kaden hatte Mühe, mit vollen Händen den Schlüssel in das Schloss zu bekommen, klemmte dazu vorsichtig die Cola zwischen linkem Unterarm und Oberkörper und drückte die Tür mit der Schulter auf. Er schaffte es tatsächlich, den Colabecher samt Inhalt in seine Einzimmerwohnung zu transportieren und seufzte bei dem Anblick. Er war nicht wirklich zum Aufräumen gekommen in den letzten Tagen. Auf dem kleinen Küchentisch lag alles voller Bücher und Zettel, genau wie auf dem Stubentisch. Das Schlafsofa hatte seit Tagen nicht mehr als Sofa gedient, im Grunde ja nicht mal richtig als Bett, da er kaum geschlafen hatte.
Zwei Bücher schob Kaden auf dem Küchentisch zur Seite, stellte das Essen dort ab und hängte den Mantel über den Stuhl. Kurz wusch er sich die Hände, bevor er, während der Fernseher lief, den Burger verschlang. Master Burger machte die besten Burger. Das Gemüse war immer frisch, das Fleisch saftig, der Bacon knusprig und sie sparten nicht an Soße. Das war überhaupt das Beste daran. Man sah hinterher aus wie ein Schwein, aber es schmeckte grandios. Nur eines wurde ihm wie so oft bewusst. Er mochte es nicht, alleine zu essen. Auch der Fernseher half da nicht.
Ihm fehlte seine Mutter. Natürlich gehörte es dazu, auszuziehen. Aber Kadens Mutter und er hatten sich immer gut verstanden und es war eher dem sozialen Druck geschuldet gewesen, dass er ausgezogen war. Er hatte es geliebt, mit ihr zusammen zu Abend zu essen. Dabei einen Film zu sehen oder über Unsinnigkeiten zu diskutieren. Sie war die Einzige, die ihn so kannte, wie er wirklich war. Er knabberte an einem Pommes, als ihm bewusst wurde, dass er lange nicht mit ihr gesprochen hatte. Tief seufzte er und angelte nach seinem Handy. Das Gespräch war kurz. Denn er war nach wie vor verdammt müde. Aber sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Egal ob er noch so viel zu lesen hatte. Sie fehlte ihm und gegen ein Mittagessen war ja wohl nichts einzuwenden.
Sie trafen sich bei ihrem Lieblingsitaliener und Kaden lächelte, als sie das Restaurant betrat und er sie kommen sah. Sie sah toll aus. Wie immer. Ihr Haar hatte die gleiche rötlich braune Farbe wie seines, war aber bedeutend länger.
Sie umarmten sich lange zur Begrüßung und tief sog Kaden ihren vertrauten Duft ein, den sie mit einem leichten Parfum unterstrich.
»Oh Honey, du siehst müde aus.« Sie legte ihre Hände an seine Wangen und küsste ihn auf die Stirn. »Und hast du abgenommen?«
Nachdem sie bestellt hatten, griff sie nach seinen Händen und sah ihn fest an. »Und jetzt erzähl mir alles. Bis ins kleinste Detail. Von deinem neuen Chef. Und dieser ... Wie hieß sie? Darea Harrison?«
Kaden nickte.
»Ich möchte alles wissen. Schläfst du denn auch genug?« Sie wirkte ernsthaft besorgt. Es tat so gut, sie zu sehen. In ihre dunklen, braunen Augen zu schauen. Sie wirkte so jung. Was kein Wunder war, denn sie war es auch. Sie war gerade 16 Jahre alt gewesen, als sie Kaden bekommen hatte. Selbst noch ein Kind. Und nachdem Kadens Erzeuger sie im Stich gelassen hatte, war es schwer für sie gewesen. Selbst noch ein Kind, auf einmal für ein Kind verantwortlich zu sein, ohne den Rückhalt des Vaters. Aber dank Kadens Großeltern hatte sie es geschafft, die Schule zu beenden und eine Ausbildung zu machen.
Kaden liebte sie. Sie hatte so sehr für ihn gekämpft und alles dafür getan, damit er eine schöne Kindheit hatte. Vielleicht hatten sie auch deshalb so ein gutes Verhältnis. Sie standen sich nahe, hatten viel gemeinsam gemeistert. Zwei gegen den Rest der Welt. Das hatte sie immer gesagt. Sie hatte ihm immer zugehört. Hatte ihn wieder aufgebaut, wenn er in der Schule erneut als Freak beschimpft worden war. Sie hatte alles getan, was ihr möglich war, um ihn zu fördern. Bis zu dem Punkt, an dem Kaden es nicht mehr gewollt hatte. An dem er beschlossen hatte, dass es einfacher war, einige Dinge einfach für sich zu behalten.
Von diesem Moment an war sein Leben auf die eine Art einfacher geworden, auf die andere schwerer. Aber bei ihr konnte er sein, wer er war. Und darum erzählte er ihr auch die ganze Geschichte. Wie die letzten zwei Wochen verlaufen waren. Die Shoppingtour mit Darea Harrison. Die Unmengen an Informationen, die er sich erarbeiten musste. Sie hörte geduldig zu, während sie ihre Pizza aß und Kaden seine Lasagne. Nach der Hälfte tauschten sie, wie sie es immer taten.
Sie legte schließlich die Gabel weg. »Und er greift dir nicht unter die Arme?« Sie rümpfte leicht die Nase.
Kaden schüttelte den Kopf. »Ich denke, er hat da keine Zeit zu. Und ich wusste ja, worauf ich mich einlasse. Genau genommen ist es ja meine Aufgabe, ihm unter die Arme zu greifen.«
Sie schwieg einen Moment. »Das gefällt mir nicht, Honey. Ein Chef sollte doch immer für seine Angestellten da sein.«
Kaden gluckste. »Mum, das ist in einem großen Unternehmen kaum möglich.«
»Ach Blödsinn. Dafür gibt es doch Abteilungsleiter. Irgendwer ist immer der Ansprechpartner bei Problemen und Nöten.« Sie winkte ab. »Ich möchte mich auch nicht einmischen, Honey. Du bist erwachsen. Du weißt schon, was du tust. Und ich bin froh, dass du endlich etwas gefunden hast, das dich fordert. Nur ... Mach dich nicht kaputt, okay? Versprich mir das.«
Lächelnd sah er seiner Mutter in die Augen. »Versprochen.«
Sie nickte lächelnd. »Sehr schön. Und jetzt gehen wir einkaufen.«
»Was?«
Sie grinste. »Wenn diese Darea Harrison mit dir einkaufen gehen darf, dann darf deine alte Mum das doch wohl auch.«
»Du bist nicht alt.«
Sie schnaubte und winkte nach der Rechnung. »Na siehst du? Dann kann ich dir ja auch etwas Hübsches kaufen. Ich habe auch schon eine Idee, was. Mein Baby muss sich nicht noch mal sagen lassen, nicht hübsch auszusehen. Nicht umsonst habe ich so einen hübschen Jungen bekommen.« Sie kniff Kaden in die Wange.
»Mum, bitte ...«
Der Sonntag verlief wie der Rest der Woche. Mit einer Menge Buchstaben vor Kadens Augen.