Читать книгу Ein Hauch von Vorsehung - Ava Patell - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеAusnahmsweise wurde Nikolaj an diesem Wochenende mal nicht von einem unvorhergesehenen Zwischenfall überrascht. Kein Künstler mit exzentrischen Anwandlungen, keine Krise in der Firma, keine geplatzten Konzerte oder Signierstunden, keine Probleme in der Rechts- oder Finanzierungsabteilung, keine Computerabstürze oder durchgebrannten Festplatten. Ausnahmsweise lief alles glatt und so erschien er pünktlich und erholt am Montagmorgen in der Firma, begrüßte Darea und hängte seinen nassen Mantel und den tropfenden Regenschirm an den Garderobenständer, bevor er sich an die Arbeit machte. Nikolaj war dankbar für den Kaffee, den ihm Darea brachte und bereitete sich auf einen Tag mit einer langen Teamsitzung vor. Die Abteilungsleiter würden ihm im großen Konferenzsaal Berichte abstatten, sodass er einen Eindruck von ihrer Arbeit bekam. Es war Nikolaj wichtig, nicht nur von den Musikabteilungen monatlich zu erfahren, welche Künstler Probleme machten, eventuell vertragsbrüchig wurden. Es war ihm auch wichtig zu hören, was die Marketing-, Finanz- und IT-Abteilung zu sagen hatten. Von seinem Assistenten erwartete er eine Zusammenfassung der Sitzung, was bedeutete, dass auch Kaden einen langen Tag haben würde.
Kaden war wirklich froh, für die Zeit der Konferenz mal nichts lesen zu müssen. Er konnte einfach nur auf seinem Stuhl sitzen, hatte ein Klemmbrett mit ein paar Blättern vor sich, um eventuell ein paar Notizen zu machen. Im Grunde jedoch eher als Alibi. Mit der Spitze des Kugelschreibers tippte er immer wieder gedankenverloren leicht auf das Papier und wartete darauf, dass sich der Raum füllte. Auf dem langen Tisch stand eine Vielzahl von Gläsern, Tassen und Getränken bereit, von denen die bereits Anwesenden regen Gebrauch machten. Ein angenehm geschäftiges Summen von leisen Stimmen klang im Raum, das Kaden an einen Bienenschwarm erinnerte.
»Mr. Williams?«
Vor Schreck malte er einen Strich quer über das Papier, als Nikolaj so unvermittelt im Raum auftauchte und sich an die Stirnseite des langen Tisches setzte.
»Ja?«
Nikolaj deutete auf den Stuhl neben sich. »Bitte setzen Sie sich doch neben mich.«
Kaden sah auf die Hand Nikolajs, die auf den Stuhl neben sich deutete. »Oh. Okay.« Kaden erhob sich und setzte sich dann zu seinem Vorgesetzten auf den noch freien Stuhl, legte das Klemmbrett vor sich auf den Glastisch und kam nicht umhin, das makellose Aussehen Nikolajs zu bemerken. Der dreiteilige Anzug saß, als wäre er nur für ihn gemacht und vermutlich war auch genau das der Fall.
So konnte nur ein Anzug sitzen, der einem auf den Leib geschneidert war. Es war ein dunkles, sehr dunkles blau. Im Licht schimmerte der Stoff leicht. Woran das wohl lag? Sicherlich nicht am Polyesteranteil. Also Seide? Ja. Das war eher möglich. Das weiße Hemd hatte feine, graue Streifen. Die Krawatte war silber und blau gestreift und glänzte ebenfalls im Licht. Seide. An Nikolajs Handgelenk glänzte passend dazu eine silberne Uhr, mit einem tief dunkelblauen Zifferblatt und silbernen Zahlen darauf. Ebenso trug er passende Manschettenknöpfen. Zusammen mit der Krawattennadel machten sie das Bild irgendwie rund.
»Bereit für den langen Tag?«
Kaden nickte. »Ja.«
»Gut. Ich erwarte keinen höchst detaillierten Bericht. Es geht nur um eine Zusammenfassung der wichtigsten Entwicklungen. Es kann sein, dass ich Ihnen noch Stichpunkte sage, die Sie dann in den Bericht schreiben sollen.«
»Hm. Okay.« Kaden wackelte mit dem Stift zwischen seinen Fingern. »Bis wann soll der Bericht fertig sein?«
»Ende der Woche.« Er hatte beschlossen, großzügiger zu kalkulieren, was Deadlines anging. Darea hatte Recht, so ungern er das auch zugab, doch er hatte zu viel vorausgesetzt und unrealistische Erwartungen gestellt. Kaden kam nicht aus der Branche, er würde Zeit brauchen.
»Oh.« Kaden war überrascht. Das war unerwartet. Er hatte eher mit 'morgen früh' gerechnet.
Nikolaj tippte mit dem Fingernagel gegen sein Wasserglas und erhob sich dann, sah in die Runde.
»Lassen Sie uns anfangen.« Es wurde leise, abgesehen davon, dass sich einige der Anwesenden noch Getränke eingossen oder sich setzten. »Wie jeden Monat erwarte ich von Ihnen den üblichen Bericht. Wir gehen vor wie immer, von der größten zur kleinsten Abteilung. Ich möchte Sie allerdings bitten, sich für meinen neuen Assistenten, Mr. Kaden Williams«, er deutete neben sich, »kurz mit Ihrem Namen und Ihrer Abteilung vorzustellen.«
Für einen Moment richteten sich alle Augen auf Kaden und er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Das war unangenehm. Aber dann begannen alle Anwesenden nacheinander ihre Berichte zu erstatten. Jeder stellte sich mit seinem Namen und seiner Abteilung vor und Kaden nickte jedes Mal. Er schrieb die Namen auf, hörte aber ansonsten nur zu. Aufmerksam. Machte sich jedoch keine weiteren Notizen. Er vergaß es, weil dieses ganze Prozedere, wie alles hier, neu war und spannend und seine ganzen antrainierten Verhaltensweisen über Bord warf. Er musste breit lächeln, als sich eine junge Frau erhob, langes, schwarzes Haar und asiatische Gesichtszüge.
»Mai Tran«, stellte sie sich vor und zwinkerte ihm zu. »IT-Abteilung.« Die junge Frau, die er in der Personalküche getroffen hatte. Auch ihrem kurzen Bericht lauschte er aufmerksam und bei ihr schrieb er nicht einmal den Namen auf und auch ihre Bitte um neue Serverkapazitäten landete nicht auf dem Papier, das vor Kaden an dem Klemmbrett hing.
Nikolaj tat es ihm gleich, hörte den Mitarbeitern genau zu, jedem Abteilungsleiter, der auf seine ganz eigene Art mal kurz, mal lang vom letzten Monat berichtete. Als er das nächste Mal zu Kaden sah, stutzte er jedoch. Das Blatt auf dessen Klemmbrett war abgesehen von einem langen Querstrich und ein paar Namen mit den dazugehörigen Abteilungen leer. Seine Augenbrauen flogen nach oben. Sie hatten inzwischen einiges gehört, was Nikolaj gern in dem Bericht gesehen hätte, aber Kaden schien nur gespannt zuzuhören und seine eigentliche Aufgabe vergessen zu haben. Auf den Bericht war er schon jetzt gespannt.
Bis zur Mittagspause waren sie mit dem Treffen beschäftigt und Kaden klingelten die Ohren, als sie schließlich den Konferenzraum verließen und den Weg zu ihren Büroräumen einschlugen. Es war wirklich interessant gewesen und er hatte erneut einen weiteren Einblick bekommen. Wie alles ineinandergriff. Die Werbeabteilung. Die IT-Abteilung. Presse. Abrechnung und Finanzen. Personalmanagement. Und noch so vieles, vieles mehr, was in einer großen Firma anfiel. Es war faszinierend für ihn. Genau wie ein Uhrwerk. Und jedes kleine Rädchen darin sorgte dafür, dass man am Ende die Uhrzeit ablesen konnte.
»Mr. Williams, ich konnte einen Blick auf Ihre Mitschriften werfen und ich kann Ihnen prophezeien, dass ich mit dem Bericht nicht zufrieden sein werde. Beim nächsten Mal sollten Sie sich mehr notieren.«
Kaden blieb überrascht stehen, Nikolaj tat es ihm gleich. »Was?«
»Sie haben nichts aufgeschrieben, abgesehen von den Namen der Mitarbeiter und den Abteilungen.«
Kaden sah auf das Klemmbrett in seiner Hand und presste die Lippen fest aufeinander, um nicht etwas zu sagen, was er später bereuen würde.
»Ich erwarte Ihren Bericht dennoch bis Freitag, 15 Uhr. Und ich hoffe wirklich für Sie, dass Sie aus ihren Fehlern lernen. Papier und Stift sind dazu da, um sie zu verwenden und nicht nur schmückendes Beiwerk.« Nikolajs Stimme klang kühl. Distanziert. Kühler als sonst.
Kaden nickte nur knapp, sah nicht auf und lief dann zurück zu seinem Büro. Dort warf er das Klemmbrett hart auf den Schreibtisch. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen?! Genau wegen solcher Scheiße hatte er das nicht mehr tun wollen, nie wieder! Und trotzdem hatte er es getan, in der Hoffnung, dass die Zeit und sein Alter dafür sorgen würden, dass er sich nicht mehr mit solchen Menschen umgeben musste oder zumindest mit der Zeit gelernt hatte, damit umzugehen. Aber weit gefehlt. Er war wieder genau da! Es war wie damals in der High-School!
›Mr. Williams, ich konnte einen Blick auf Ihre Mitschriften werfen und ich kann Ihnen prophezeien, dass ich mit dem Bericht nicht zufrieden sein werde.‹
Kaden erweckte den Laptop zum Leben und öffnete das Schreibprogramm. Wie ein Wahnsinniger begann er, auf die Tastatur einzuhämmern und er wusste genau, was er hier gerade tat. Eine absolute Trotzreaktion, ausgelöst durch blanke Wut, Enttäuschung und einer Menge schlechter Erfahrungen, die er nie ganz verarbeitet hatte. Wut auf sich selbst. Auf diese Situation und ja, auch auf Nikolaj Sorokin. Es war ein Fehler, das wusste er. Und dennoch tippte er Buchstabe um Buchstabe, Wort für Wort. Jedes Wort schrieb er nieder. Er musste nur die Augen schließen und sah alles wieder vor sich. Jede Person, jede Haarfarbe, jede Augenfarbe, jeder Tonfall. Alles war da. Bis ins kleinste Detail und so schrieb Kaden keine Zusammenfassung, sondern eine über 40 Seiten umfassende Transkribierung des heutigen Meetings, in dem sich jedes Wort fand, das dort gesprochen worden war. Inklusive der Anmerkung, dass Mr. Faraday unter dem Tisch mit seinem Handy gespielt hatte. Entweder das, oder er hatte sich einen runtergeholt, aber irgendwas hatte der Mann unter dem Tisch gemacht. Immer noch wütend druckte er das Ganze schließlich aus, nahm die Seiten aus dem Drucker und lief zu Nikolajs Büro. Kaden hatte keine Ahnung wie spät es war, aber es war erneut dunkel draußen geworden. Vor Dareas Tresen blieb er stehen.
»Kann ich rein?«, fragte er mühsam beherrscht, die Hände vor unterdrückter Wut zitternd.
Darea sah auf, irritiert über die fehlende Begrüßung, die sie für gewöhnlich verlangte. Allerdings sah sie etwas in Kadens Gesicht, vor allem in dessen Augen, und sie roch etwas, ohne es genau beschreiben zu können, was sie nicken ließ. Wenn auch mit gerunzelter Stirn.
»Ja. Er ist gerade frei«, sagte sie und deutete auf die Tür.
Nikolaj saß auf einem der Sofas, einen Laptop auf dem Schoß, an dem ein kleiner USB-Stick blinkte. Über die In-Ear-Kopfhörer lauschte er einem Song des aktuellen Album einer Künstlerin, die er unter Vertrag hatte. Als nun aber die Tür aufging und er diese Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, sah er auf und zog die Stöpsel aus seinen Ohren. Kadens Blick war mehr als entschlossen und aus irgendeinem Grund trug er einen dicken Papierstapel auf dem Arm. Für einen Moment fragte sich Nikolaj, ob er das Klopfen überhört hatte oder ob Kaden tatsächlich einfach ohne zu klopfen eingetreten war.
Dieser trat jetzt auf ihn zu, blieb vor dem kleinen Couchtisch stehen. Härter als nötig ließ er den Stapel an Blättern auf den kleinen Tisch fallen.
»Hier haben Sie Ihren Bericht. Und auch wenn Sie mir prophezeit haben, dass Sie damit nicht zufrieden sein werden, habe ich es trotzdem versucht. Viel Glück bei der Suche nach einem Fehler.« Jetzt knallte er einen schwarzen Edding oben auf den Stapel. »Und wenn Sie fertig sind, dann können Sie mir gerne ein dickes, fettes Freak auf die Stirn schreiben. Auch das wäre nichts Neues«, blaffte er.
Er vergriff sich hier gerade in allem. Im Ton. Im Benehmen. Das war absolut nicht angebracht, Kaden wusste das, aber er hatte die Nase voll. Er war es leid. Und genau darum hatte er den Job auch nicht annehmen wollen. »Ich mache jetzt Feierabend.« Damit verließ Kaden das verglaste, sauteure Büro, das er vermutlich zum letzten Mal betreten hatte, ohne eine Antwort abzuwarten. Er zog die Tür viel zu laut hinter sich zu, so dass das Glas wackelte, und spürte Dareas schockierten Blick in seinem Nacken.
Sie sprang sofort auf, als Kaden den Flur entlang lief.
»Was hast du getan?«, fragte sie, noch während sie die Tür aufstieß und sah Nikolaj an, sah auf den Stapel Papier und dann wieder zu ihm. »Was ist das?«
Wut lag in der Luft, nicht nur als Duft, sondern auch deutlich wie eine Aura spürbar. Auch Darea musste die Wut riechen können. Heiß und rot, metallisch wie der Geruch von Scham, nur viel intensiver und ein wenig bitter.
Leicht schüttelte Nikolaj den Kopf, weil er keine Antwort auf ihre Frage hatte. Stattdessen hob er den schwarzen Edding vom obersten Blatt. Die Seiten waren in sich ein wenig verrutscht. Nikolaj überflog die erste Seite. Runzelte die Stirn. Legte den Edding neben den Blättern auf den Tisch und überhörte Dareas Drängen, ihr zu sagen, was los war. Er hob die oberste Seite hoch, überflog die zweite und blätterte dann einmal durch den Bericht wie bei einem selbst gezeichneten Daumenkino.
»Das gibt es doch nicht«, murmelte er fassungslos. Das war keine Zusammenfassung. Das war eine Abschrift! Kein Protokollant am Gericht hätte weniger Fehler machen können. Jedes Wort, jede Haarfarbe, jeder Name, jede Information! Mai Trans Bitte, die Auskunft darüber, dass der Marketingabteilung noch eine Genehmigung der Stadt fehlte, sogar Informationen, die er selbst nicht mitbekommen hatte wie die über Faraday. Als Nikolaj den Blick hob, um in Dareas Augen zu sehen, sah sie ihn ernsthaft besorgt an. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf, um sie in diesem Moment greifen zu können. Wie war das möglich?
»Nik, jetzt sag mir, was los ist.«
Er strich sich durchs Haar, blickte wieder perplex auf den Stapel Papier. »Ich habe Mr. Williams gebeten, eine Zusammenfassung vom Meeting zu schreiben. Aber er hat sich nichts notiert, nur ein paar Namen von den Abteilungsleitern und deren Bereiche. Daraufhin sagte ich ihm, dass ich ihm voraussage, dass ich mit dem Bericht nicht zufrieden sein würde.« Dann drehte er ihr nur wortlos den Papierstapel zu.
Sie lauschte seinen Worten, hob nur eine Augenbraue, die ihr Missfallen ausdrücken sollte, und dann griff sie nach dem Stapel. Ihre Augen flogen über das Papier. Und wurden immer größer. »Das ...« Sie blätterte weiter. »Das ist ...« Sie trat um den Tisch und setzte sich dann neben ihn auf die Couch. Ihr Blick ging auf die Seiten. Wieder blätterte sie darin. Dann runzelte sie die Stirn. Und schlug Nikolaj schließlich mit ein paar der Seiten auf den Kopf. »Wieso bist du eigentlich immer so unsensibel?«
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass er so etwas kann.« Er deutete auf die Seiten. »Wie geht das überhaupt? Das ist doch verrückt!«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich sehe so etwas zum ersten Mal«, gestand sie.
»Na wenigstens darin sind wir einer Meinung.« Nikolaj erhob sich, trat an den kleinen Getränkewagen und goss sich eine Neige Scotch ein. Schnell nippte er an dem Glas. »Das muss ein fotografisches Gedächtnis sein.« Sein Blick fiel auf den Edding. »Er war so wütend.« Der Geruch hielt sich noch immer hartnäckig im Raum und kribbelte Nikolaj in der Nase.
Dareas Blick folgte seinem. Und blieb an dem Stift hängen. Dann sah sie wieder auf und zu dem Glas. »Du stellst sofort dieses Glas weg.«
Nikolaj schürzte die Lippen und begegnete Dareas Blick. »Ich bitte dich. Das ist doch nicht viel.«
Sie erhob sich, nahm ihm das Glas ab und leerte es in einem Zug. »Du kannst mit einer Fahne nicht Auto fahren.« Ein weiteres Mysterium. Trotz ihrer geschminkten Lippen hinterließ sie keinen Lippenstiftrand auf dem Glas.
Nikolaj kniff die Augen zusammen, griff nach ihrem Handgelenk und nahm ihr mit der freien das Glas ab, um es auf dem Getränkewagen abzustellen. Dann ließ er ihr Handgelenk wieder los.
Sie sah ihn weiterhin ungerührt an. »Du bist ja immer noch da.«
»Denkst du, ich erwische ihn noch an der Haltestelle?«
Ihr Blick ging zur Uhr an der Wand. »Nein. Die Bahn ist gerade weg.«
»Dann habe ich Zeit. Mit der Bahn braucht er länger als ich mit dem Auto.« Nikolajs Blick fiel auf den Tisch. Er trat näher und hob den Edding hoch, schob ihn sich in die Manteltasche. Dann ging er zu seinem Schreibtisch, zog eine Schublade auf und holte sowohl Autoschlüssel als auch eine CD daraus hervor. Mit einem letzten Blick auf Darea verließ er schließlich das Büro. Vor Kadens Wohnhaus wartete er, an seinen Chrysler gelehnt.
›Und wenn Sie fertig sind, dann können Sie mir gerne ein dickes, fettes Freak auf die Stirn schreiben. Auch das wäre nichts Neues‹ , gingen ihm Kadens Worte durch den Kopf. Inzwischen spielten seine Finger mit dem Stift in seiner Hand, drehten ihn hin und her. Er starrte auf den Hauseingang ohne etwas zu sehen. Weder nahm er das Licht wahr, das ansprang, wenn jemand das Haus betrat oder verließ, noch die Menschen, die es auslösten. Für einen Moment schloss Nikolaj die Augen. Dieser Duft, der sich auf so merkwürdige Art mit dem Kadens gemischt hatte. Der so gar nicht zu dessen üblichem Geruch passen wollte. Kaden war wirklich sauer gewesen! So ganz anders als sonst. Er hatte sogar rote Wangen gehabt, die sich mit dem rötlichen Glanz auf seinem Haar gestochen hatten und das Feuer in seinen Augen hatte sich für immer in Nikolajs Gedächtnis gebrannt.
Er sah auf, als er das nächste mal Schritte hörte, schob den Edding zurück in sein Jackett. Kadens Weg führte ihn direkt zur Haustür, er schien den Mann, der im Halbdunkel an das Auto gelehnt stand, nicht einmal zu bemerken. Den Blick gesenkt, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, bis er die Tür aufschließen wollte. Nikolaj folgte ihm zur Haustür. Auch davon schien Kaden nichts mitzubekommen. Gerade hatte dieser die Haustür aufgeschlossen und einen Spalt breit geöffnet, als Nikolaj neben ihn trat und sie ihm vor der Nase wieder zuzog. Da war keine Spur mehr von der Wut wahrzunehmen. Viel eher wirkte der Duft Kadens jetzt schwer. Bedauern, erkannte Nik. Traurigkeit.
Es war nicht nur die Hand, die sich in Kadens Blickfeld schob und ihn beinahe zu Tode erschreckte. Es war der Duft, der ihm gleichzeitig in die Nase stieg. Dieser so typische und unverwechselbare Duft. Er zuckte zusammen vor Schreck, sah aber nicht auf.
»Shit«, murmelte er nur und sah auf die fremde und gleichzeitig vertraute Hand, die auf dem Türknauf lag und ihn so am Eintreten hinderte.
»Wir müssen uns unterhalten.«
Kaden nickte leicht und drehte sich ein Stück, sah aber immer noch nicht auf. Nikolaj griff nach Kadens freier Hand, zog sie nach oben. Mit der anderen griff er in seine Manteltasche, in die er den Edding gesteckt hatte. Fest drückte er Kaden den Stift in die Hand. Dieser sah darauf und verzog das Gesicht.
»Gott, es tut mir so leid. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Bis wann soll ich mein Büro räumen?«
Nikolaj schnaubte leise und ließ die Hand los. »Oh nein, an dem Punkt sind wir noch lange nicht. Dieses Gespräch bestimme ich. Wieso haben Sie mir nichts davon gesagt?«
Kaden umklammerte den Stift, als wäre er ein Anker. »Das ist nichts, was man jedem auf die Nase bindet«, sagte er leise und sah Nikolaj immer noch nicht an.
»Ich muss so etwas wissen. Nur dann kann ich vermeiden, mich wie ein kompletter Idiot zu verhalten, klar?«
»Nicht Sie haben sich wie ein Idiot verhalten.«
Nikolaj spürte, wie er ungehalten wurde, behielt sich aber noch unter Kontrolle. »Erzählen Sie mir davon.« Sein Tonfall machte deutlich, dass es keine Bitte war.
Kaden seufzte und lehnte sich an die Tür, fuhr sich durch die Haare. »Was wollen Sie wissen?«
»Was können Sie sich alles merken?«
Kaden zuckte die Schultern. »Das ist nichts, was ich willentlich tue.«
»Wenn ich Sie nach unserem ersten Treffen fragen würde, was wüssten Sie davon noch?«
»Sie meinen ... Ob ich mich an das Treffen im Hotel noch erinnern kann? An die Farbe ihres Anzugs? Das helle grau? Die dazu passenden Manschettenknöpfe? Dass Miss Harrison an dem Tag ein cremefarbenes Kleid trug? Dass der Teppich in dem Zimmer einen Brandfleck hatte, direkt neben dem Stuhl, auf dem ich saß?« Er seufzte. »Ich kann Ihnen jedes Wort sagen, das wir in diesem Zimmer gesprochen haben.«
»Wie weit reicht das zurück? Könnten Sie das … beispielsweise auch bei Ihrem ersten Schultag?«
Kaden nickte. »Ich erinnere mich an nahezu jeden Tag. Seit dem 23.06. Da war ich vier Jahre alt.« Er wünschte sich, er wäre irgendwo anders. Nicht hier. Nicht an diesem Ort.
»Hm. Bemerkenswert.« Nikolaj wollte nicht tiefer in ihn dringen als nötig und fragte daher lieber nicht nach, ob es einen Grund für dieses fotografische Gedächtnis gab. Etwas, das an diesem Tag passiert war beispielsweise. Und er würde auch nicht nach der Eddinggeschichte fragen. Kinder, besonders in einem bestimmten Alter, konnten grausam sein. Selbst, wenn die Sache mit dem Freak auf der Stirn nicht stimmte, so würde es dennoch andere Erinnerungen wachrufen und dass Kaden diese Unterhaltung so schon unangenehm war, konnte man ihm an der Nasenspitze ansehen. »Ich schätze es nicht gerade, in meinem Büro angeschrien zu werden.«
»Ich weiß. Sie mögen es ja auch nicht, wenn man Sie unterbricht.«
»Das ist wahr. Ich habe da einen wunden Punkt getroffen, von dem ich nichts wusste. Sie behalten sehr viel und ich scheine sehr schnell zu vergessen. Dass sie nicht aus diesem Bereich kommen, dass Sie viel aufzuholen haben.«
»Na ja.« Kaden hob die Schultern. »Wir können wohl alle nicht aus unserer Haut.«
Nikolaj griff in die Innentasche seines Jacketts und zog die CD in ihrer Hülle hervor, die er Kaden hinhielt.
»Können Sie sich das anhören? Eins der neuen Demos. Das vielversprechendste wie ich finde. Ich würde gern morgen Ihre Meinung dazu hören.«
Kaden sah auf die Hülle und dann auf in Nikolajs Gesicht. Es war das erste Mal, dass er ihn jetzt ansah. »Also bin ich nicht gefeuert?«
»Nein. Das sind Sie nicht.« Nikolaj sah in Augen, in die zwar das Licht über ihnen fiel, die aber dennoch dunkel wirkten. »Sie haben doch nicht noch andere Superkräfte, oder?«
Kaden lachte auf. Und er war beinahe stolz, denn man hörte nur ein ganz kleines bisschen seine vorherige Verzweiflung raus. »Nein. Nein, habe ich nicht.«
»Gut.« Nikolaj lächelte ihn an. Ein versöhnliches Lächeln. »Können Sie mir aus dem wortgenauen Bericht noch eine Zusammenfassung zaubern wie abgesprochen?«
»Ja. Das ist kein Problem.«
Kadens Haar fiel ihm über die Augen und glänzte dunkel. Viel Licht gab die Leuchte über ihnen nicht her und so erkannte man nur schlecht die rotbraune Färbung. Jetzt war sein Duft so sanft wie immer, mit diesem leichten süßen Ton der Vanille und der leicht herben Note des Granatapfels. Die Lippen zierte ein Lächeln, das Nikolaj einen Augenblick lang gefangen nahm. Schließlich nickte er und wollte sich zum Gehen wenden, drehte sich aber noch einmal um. »Darf ich Ihre Superkraft mal benutzen, wenn ich sie brauche?«
Kaden lachte leise. »Mr. Sorokin. Ich arbeite für Sie. Sie dürfen Sie also immer nutzen.«
Nikolaj nickte leicht und drehte sich nun wirklich zum Gehen. »Wir sehen uns morgen«, sagte er fest.
Kaden sah auf den Stift in meinem Fingern. »Mr. Sorokin?«
»Ja, Mr. Williams?«
»Sie sind der Erste, der es als Superkraft bezeichnet.« Kaden strich mit dem Daumen über den Stift, fühlte das kühle Plastik.
Nikolaj hörte Unsicherheit und ein wenig Angst in Kadens Stimme. Kadens gesamte Haltung drückte aus, was in ihm vorgehen musste.
»Ich wüsste nicht, was es sonst sein sollte«, antwortete er und in Ermangelung weiterer Worte nickte er Kaden zu und setzte seinen Weg fort.
Kaden lächelte und senkte den Blick. Für einen Moment meinte er, noch diesen besonderen Duft wahrnehmen zu können, feuchter Waldboden. Feuchtes Laub. Und dann wieder kühle Meeresluft. Klar und rein. Es war, als würde der Wind diese winzigen Moleküle zu ihm wehen. Nur für eine Sekunde. Und dann war es vorbei. Kaden seufzte und schloss die Tür erneut auf, trat ein und ließ sie hinter sich zufallen.
Nikolajs Duft löste etwas in ihm aus, das er nicht greifen konnte. Es waren widersprüchliche Gefühle. Während Kaden die Treppe nach oben stieg, drehte er den Stift in seinen Fingern. Diese markante maskuline Note, die so gut passte. Zu Nikolajs Persönlichkeit. Zu seiner Statur. Alles an diesem Mann schien perfekt zu passen und sich zu einem stimmigen Bild zusammenzusetzen. Die dunklen Haare, die hellen Augen. Diese Kombination alleine konnte einen aus der Bahn werfen. Die Anzüge, bis zur letzten Falte perfekt. Die teuren Schuhe. Kaden schloss die Tür zu seiner Wohnung auf und ließ die Tasche neben der Tür fallen. Nikolaj verlangte viel in der Firma. Aber er hatte auch viel zu verlieren. Irgendetwas in Kaden wollte diesen Ansprüchen gerecht werden. Bisher waren sie immer nur in den merkwürdigsten Momenten aneinander geraten.
Diesen Gedanken hing Kaden noch immer nach, als er unter der Dusche stand. Im Grunde wusste er absolut nichts über Nikolaj, genau so wenig wie dieser etwas über ihn wusste. Abgesehen von dieser Gedächtnissache. Damit wusste Nikolaj etwas über ihn, was sonst nur sehr wenige Menschen wussten.
Und wenn Nikolaj es wusste, dann wusste es Darea auch. Daran hatte Kaden keinen Zweifel. Diese Frau war beinahe wie Gott. Sie hatte einen sechsten Sinn und Quellen in der Firma, die er besser nicht ergründen wollte.
Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl, das von ihm Besitz nahm. Kaden fühlte sich verletzlich. Angreifbar. Wie schon seit Jahren nicht mehr. Aber irgendetwas sagte ihm, dass weder Nikolaj noch Darea dieses Wissen ausnutzen würden. Wenn Kaden genau darüber nachdachte, dann war er sich beinahe sicher, dass es Darea zu verdanken war, dass Nikolaj hier vor seiner Tür gestanden hatte. Diese Frau war unergründbar.
Als die Dusche von einer Sekunde zur anderen entschied, kein heißes Wasser mehr für ihn bereitzuhalten und ihn in einen Eisklotz zu verwandeln, stieg er schnell hinaus. Und dann setzte er sich ins Wohnzimmer, legte die CD in seine kleine Anlage.
Die Musik, die danach durch das Zimmer tönte, überraschte ihn. Es waren leichte, freundliche Stücke. Aber auch eines, welches eher melancholisch klang. Es gefiel ihm. Es war typischer Pop und das war nicht das, was Kaden in der Regel hörte. Aber es war wirklich gut. Beschwingt. Und der Sänger hatte eine tolle Stimme. Voll und warm. Er schaffte es sogar, die CD zu hören ohne dabei einzuschlafen.
Am nächsten Morgen war Kaden schon wieder früh im Büro. Er wollte die Zusammenfassung für Nikolaj noch vor dem Mittag fertig haben. Und noch etwas anderes wollte er unbedingt tun und dafür musste er ein kleines Gespräch führen. Um kurz nach eins lief er dann lächelnd auf Dareas Arbeitsplatz zu. Der schwarze Haarschopf war zur Seite gedreht. Sie hatte den Telefonhörer am Ohr, den Blick gehoben, und sah ihn daher schon kommen. Sie hob eine Augenbraue. In einer Hand hielt Kaden einen Ordner, in der anderen einen Thermobecher von MoonBrew . Ihrem liebsten Kaffeeshop in der Stadt.
Darea sah skeptisch auf den blau-weißen Thermobecher, bevor sie die Hände von ihrer Tastatur hob und Kaden endgültig entgegen sah.
Er grinste. Da sie telefonierte, konnte sie nicht fragen, was das sollte und so stellte er den Becher einfach vor ihr auf ihrem Schreibtisch ab. Und lächelte sie an. Bereit zu warten, wie lange auch immer das Gespräch noch dauerte.
»Ja, Mr. Downsend, das verstehe ich durchaus. Ich werde sehen, was sich machen lässt und die Angelegenheit mit Mr. Sorokin besprechen.« Darea sah auf den Becher mit der Schutzpappe gegen die Hitze, dann wieder zu Kaden. »Nein, das wird nicht möglich sein. Glauben Sie mir, keiner von uns möchte ihn jetzt gerade sprechen. Ja. Es wird besser sein, wenn ich Sie zurückrufe. Gut. Auf Wiederhören.« Darea legte den Telefonhörer auf die Basis und sah dann fragend auf. Einer ihrer schmalen Finger deutete auf den Becher. »Was ist das?«
Kaden lächelte noch ein Stück breiter. Dann räusperte er sich. »Doppelter Mocca-Latte mit dreifach Sojamilch, Karamell-Sirup und laktosefreier Sahnehaube. Und natürlich einem Hauch Zimt.« Er war wirklich dankbar für seine, nun ja, Superkraft. Denn eine Bestellung bei MoonBrew aufzugeben war nur unwesentlich leichter als eine Hirn-OP. Da war es noch leichter, herauszubekommen, was Dareas Lieblings-Heißgetränk war.
Ihre Augenbraue flog nach oben. Dann hob sie den Becher vom Tresen und zog den Deckel ab, schnupperte. Leise seufzte sie auf. »Woher wissen Sie das?« Vorsichtig nippte sie an der heißen Flüssigkeit, leckte sich anschließend etwas Sahne von der Oberlippe. All das geschah mit genießerisch geschlossenen Augen.
»Das bleibt mein Geheimnis.«
Darea stellte das Getränk auf ihrem Schreibtisch ab und warf den Deckel in ihren Papierkorb. »Also schön. Was wollen Sie?«
»Gar nichts. Das ist eher ein Dankeschön.«
Skeptisch sah Darea auf. »Wofür?«
Kaden warf kurz einen Blick in das Büro, dessen gläserne Wand hinter Dareas Schreibtisch verlief. Nikolaj saß an seinem Schreibtisch, Telefon am Ohr. »Nun ja. Ich denke ... Ich denke, Mr. Sorokin war gestern nicht ganz aus freien Stücken bei mir?«
Darea verzog keine Miene, nippte nur wieder an ihrem Dankeschön. »Ich kann ihm nicht vorschreiben, was er tun oder lassen soll.«
»Und trotzdem hört er auf Sie.«
»Ich setze höchstens Impulse«, antwortete Darea und lächelte. »Gern geschehen.«
Kaden lächelte zurück. Dann legte er den Ordner auf den Tresen. »Das ist die Zusammenfassung vom Meeting gestern. Und das ist die Demo-CD.« Er sah wieder zum Büro. »Können Sie ihm sagen, dass ich die Musik gut finde? Dann muss ich ihn gar nicht stören.«
Darea warf einen Blick auf die beiden Sachen auf ihrem Tresen. »Schätzchen, gut wird ihm nicht reichen. Sie müssen schon ein paar mehr Worte finden.«
Kaden rümpfte leicht die Nase. »Guter, solider Pop. Warme, volle Stimme. Was noch?«
»Na ob wir ihn aufnehmen sollten. Halten Sie ihn für tauglich für Tourneen, fürs Radio, für die Werbung? Denken Sie, seine Musik wird ein großes Publikum ansprechen?«
»Na ja, ich weiß nicht wie er aussieht, mal abgesehen von diesem winzigen Foto, aber ich denke schon. Ja. Er schlägt in die Sparte Justin Bieber und seine Texte waren weder plump noch vulgär. Er spielt gut Gitarre.«
Darea nickte. »Ich richte es ihm aus.« Sie griff nach dem Ordner und der CD, legte alles auf ihrem Schreibtisch ab.
»Danke.«
»Mr. Williams?«
Kaden hatte erst einen Schritt gemacht. »Ja?«
»Sollten Sie Fragen zu Ihrem Lesestoff haben, können Sie sie mir stellen.«
Lesestoff. Das klang, als wäre er in der Schule. Dennoch lächelte er dankbar. »Danke, Miss Harrison. Für ...« Er sah wieder in das verglaste Büro, in dem Nikolaj noch immer an seinem Schreibtisch saß, eine Hand locker auf der Schreibtischplatte, die andere mit dem Telefon am Ohr. »Für alles.«
Sie nickte leicht und hob den Thermobecher hoch. »Danke dafür.«