Читать книгу Fibromyalgie - Mein Weg - Ava S. - Страница 7
ОглавлениеPersönliche Eindrücke und Erfahrungen eines Schmerztherapeuten
Nutzbringende ambulante Behandlungsformen für
Fibromyalgie-Patienten
Ich setze mich von der üblichen Wortwahl ab, denn ich gebrauche nicht den Begriff „Fibromyalgie-Syndrom“, sondern spreche nach wie vor gern von „Fibromyalgie“. Der Grund liegt darin, dass ich bei über 600 Patienten ausführliche Diagnostik betrieben und viele Leidenswege über 20 Jahre verfolgt habe. Infolgedessen bin ich zur Überzeugung gekommen, dass der Begriff „Fibromyalgie“ genügt. Ich halte die Verbindung mit dem Wort Syndrom eher für unglücklich, weil dadurch das Krankheitsbild verwischt und verwaschen werden kann. In meinem Bericht möchte ich auf meine Behandlungserfahrungen mit der Fibromyalgie eingehen. Bei einer Allergie streitet man sich höchst selten darum, ob es sich um ein Allergie-Syndrom, um eine Allergie-Erkrankung oder schlicht um eine Allergie handelt. Im Sprachgebrauch wird am häufigsten der Begriff Allergie verwendet.
Als Basis meines Beitrages wählte ich die interdisziplinäre S3-Leitlinie (abgekürzt S3-LL)1, wie sie in der Zeitschrift „Der Schmerz“ im Juni 2012 veröffentlicht wurde.
Diese frühere Leitlinie hob sich erfreulich positiv von vielen anderen Leitlinien ab, denn als die einzige Leitlinie bezog sie auch die Patientenmeinungen und Patientenvorschläge mit ein. In dieser Hinsicht hat mir die Vorläuferversion besser gefallen, da in dieser Patientenoptionen einflossen. Die Einbeziehung von Betroffenen macht gerade bei dem Thema Fibromyalgie großen Sinn, denn ihre Mitarbeit ist entscheidend, um dem Krankheitsbild langfristig ein anderes Gesicht zu geben. Bei einer Blindarmerkrankung zum Beispiel wird dagegen die Patientenmeinung keine so große Rolle spielen wie bei der Fibromyalgie. Der Grund liegt darin, dass bei einer Blindarmentzündung die zugrunde liegenden Mechanismen sehr genau bekannt sind und die daraus abzuleitende Behandlung in mehreren Jahrhunderten optimiert wurden. Daher müssen Diagnose und Behandlung einer Blindarmerkrankung weitgehend den Experten überlassen bleiben.
1. Die Diagnosestellung
Sie als Patient sind über die Diagnosestellung zu informieren. Selbstverständlich muss ein Arzt Ihnen seine Diagnose oder seine Vermutungsdiagnose nennen. Beobachten Sie aber vorsichtig den Arzt dabei, wie er Ihnen die Diagnose „Es ist Fibromyalgie“ mitteilt. Ärzte, die mit hintergründigem Blick indirekt zu verstehen geben, dass diese Diagnose nicht so richtig ernst zu nehmen sei, sondern dies als wenig bedeutsame ‚Modeerkrankung‘ ansehen, sind nicht die erste Wahl für weitere Diagnostik und Behandlung. Fragen Sie Ihren Arzt ruhig: „Was halten Sie persönlich von der Diagnose Fibromyalgie?“ Falls sich der Arzt mit diesen Begriffen nicht anfreunden und kein Mitgefühl zeigen kann, ist er nicht der richtige Arzt für Sie und Ihre Erkrankungen. Ein Unverständnis Ihres Behandlers oder gar ein „Nicht nachvollziehen können“ kann Ihnen langfristig mehr schaden als nutzen. Es ist wichtig, gerade zu Beginn einen Arzt zu haben, der sich mit dem Begriff Fibromyalgie identifiziert und nicht von funktionellen Störungen, somatoformer Störung, alles nur rein psychisch, Konversionsneurose, Belastungsstörung, Depression, statische Fehlhaltung, Beckenschiefstand, C-o-Blockade oder Hysterie spricht und Ihre Erkrankung zu reduzieren oder umzuetikettieren versucht.
Trotzdem sollten die psychischen Anteile intensiv gewürdigt und erfasst werden. Eine zusätzliche F-Diagnose (aus dem psychiatrischen Kapitel im internationalen Code of Desease-ICD 10) schadet nicht, wenn vorher die M-Diagnose (aus dem rheumatologischen Kapitel im ICD 10) gestellt wurde. Eine zusätzliche Verschlüsselung im psychischen Bereich ist hilfreich für die spätere Therapie und sollte schon aus diesem Grunde mit angeführt werden.
Es ist unvorteilhaft, den Patienten gleich zu Beginn über alle Therapiemöglichkeiten aufzuklären. Mir selbst sind über 50 Therapieansätze bekannt. Die Basistherapie, wie ich sie später erläutere, soll gleich zu Anfang dargestellt werden. Vor weiteren Therapieüberlegungen ist es ratsam, den Patienten näher kennenzulernen, um seine positiven und negativen Vorerfahrungen und den derzeitigen Stand seiner Behandlungsvorlieben zu erfahren. Hierbei sind besonders zu beachten, welche Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen von Medikamenten, Therapien, Nahrungsmitteln bestehen. Denn nach meiner Beobachtung findet man bei Fibromyalgie-Patienten besonders häufig Nebenund Wechselwirkungen und Unverträglichkeiten, bis hin zu paradoxen Reaktionen. Warum das so ist, könnte nach meiner Einschätzung auf genetischen Besonderheiten beruhen.
Folgende Symptome der Fibromyalgie sollten erfasst werden:
Schmerz, Erschöpfung, Konzentrationsmangel, Schlaf, Gewicht, Bauchbeschwerden, Leistungsfähigkeit, Stimmung. Vor jedem neuen Medikament soll solch eine Dokumentation erfolgen. Dies kann nach einer gewissen Einarbeitungszeit auch mit EDV - Erfassungssystemen erfolgen, die von über 90 % der Patienten einfach bedient werden können.
Anhand dieser Daten kann vor der Therapieplanung der Ausprägungsgrad der belastenden Symptome und eine Schwerebeurteilung der Fibromyalgie erstellt werden. Am besten geht dies, indem man die Beeinträchtigungen in den verschiedenen Lebensbereichen erfasst. Nur so lässt sich eine Beurteilung der über 100 verschiedenen einschränkenden Symptome, die bei der Fibromyalgie beschrieben sind, für eine globale übersichtliche Verlaufsbeobachtung bewerkstelligen. Eine solche Erfassung ist auch für die gegebenenfalls anstehende gutachterliche Beurteilung wichtig.
Ebenfalls sollte zu Beginn die Achtsamkeit des Patienten auf die Gesamtheit seines Zustandes gelenkt werden. Sehr bedeutsam ist die Beachtung der positiven Anteile und Funktionsbereiche, wie beispielweise der Atmung, des Herzschlages, des Druckes durch die Kleider.
Falls die Anzahl der Beobachtungsfelder zu groß ist, kann man sich fürs Erste auf die wichtigsten Felder (Kardinalfunktionen) beschränken. Der Patient muss dahingehend angeleitet werden, dies distanziert zu tun und insbesondere positive Entwicklungen und Zustände erfassen: Freude, Genuss, Wohlgefühl, Erfüllung von Aufgaben.
Gerade zu Beginn der Behandlung ist die detaillierte Erhebung eines Zustandsbildes des Patienten unabdingbar. Es ist sehr schwierig diese nachzuholen, denn schon nach wenigen Sitzungen finden Veränderungen im Verarbeitungssystem des Patienten statt. Im ambulanten Bereich ist eine hochwertige Dokumentation am ehesten in der speziellen Schmerztherapie und manchmal auch in der Psychotherapie realisierbar. Es gibt dann jede Menge Fragebögen und auch elektronische Erfassungsmedien, die es gestatten, den Ausgangspunkt des Zustandes eines Patienten sehr genau festzuhalten und nach verschiedenen Gesichtspunkten zu bewerten. Ohne eine solche Eingangsdokumentation sollte keine Therapie erfolgen. Eine verlässliche Beurteilung des Ausprägungsgrades in verschiedenen Funktionsbereichen, die Beurteilung des Krankheitsbildes, wie z.B. Schmerzstadium sowie Verlaufsdokumentation und Wirkungsnachweis einer Therapie, ist nur unter diesen Voraussetzungen möglich. Dieser Prozess ist auch wichtig für ein besseres Kennenlernen der Erkrankung durch den Patienten. Die Krankheitsauffassung des Patienten kann schon allein dadurch wirklichkeitsnäher werden, dass er sich mit der Symptomatologie der Fibromyalgie beschäftigt.
Es sollte begreiflich werden, dass die allermeisten Beschwerden der Fibromyalgie von „ein und derselben Erkrankung“ herrühren. Diese Erkenntnis ist schon ein wesentlicher Therapieschritt.
Von vornherein sollten als Basismaßnahmen die Bedeutung des Selbstmanagements (ähnlich wie beim Diabetiker), der Bewegungstherapie, der schulmedizinisch-medikamentösen Therapie, der Schmerztherapie, der Therapie mit Psychopharmaka, der Psychotherapie und nicht zuletzt der Komplementären Verfahren (CAM) genannt werden. Wichtig ist es, zu Beginn Wert darauf zu legen, dass es sich bei der Fibromyalgie nicht um eine rheumatische, eine psychiatrische oder um eine reine Schmerzerkrankung handelt, sondern dass es eine Erkrankung ist, die verschiedene Systeme betrifft. Das Leiden des Patienten ist nicht nur durch Schmerz, sondern auch durch Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Koordinationsstörungen, Überempfindlichkeit aller Sinne, Konzentrationsstörungen, Störungen des Schlafes und der Stimmung bestimmt. Dazu kommen noch unter Umständen Reizdarm, Reizblase, Unterhautschwellung, Allergien und manch andere Dinge mehr, die dem Patienten das Leben schwer machen. Sinnvoll ist vor Beginn der Behandlung die Verwendung von ausführlichen standarisierten Erfassungsbögen wie Beschwerdeliste, Beschwerdescore SOMS, FIQ und später auch die homöopathische Anamnese.
2. Die Basistherapie
Eine fundierte Aufklärung und Einweisung in das Selbstmanagement halte ich für zwingend notwendig. Ein Fibromyalgie-Patient sollte 30 bis 40 Minuten am Tag für selbst gemanagtes körperliches Training aufwenden. Dies kann in einer Mischung aus Ausdauer- und Krafttraining und Stretching in geringer bis mittlerer Intensität erfolgen. Hierbei ist unbedingt ein aerobes Ausdauertraining durchzuführen. Aerob heißt, sich in einem Bereich mit guter Sauerstoffversorgung des Körpers zu bewegen. Häufig wird zu viel von sich selbst verlangt und eine solche Überanstrengung wirft den Patienten unter Umständen wochenlang zurück.
Aus Empfehlungen für das Chronic Fatique Syndrom (CFS) wissen wir, dass man ganz vorsichtig anfangen muss, um keinen Reinfall zu erleben. Zum Beispiel sollte man anfangs jeden Tag 100 Meter langsam gehen und nachdem sich ein stabiler Level über mehrere Tage eingestellt hat, eine extrem langsame Steigerung beispielsweise um 10 % jeden Monat vornehmen. Rasches Schwimmen in warmem Wasser – ebenfalls eine halbe Stunde – ist ebenso sinnvoll wie Nordic Walking. Daneben kann trockene Wärme als Infrarotstrahlung empfohlen werden. Wärme hat eine deutlich bessere Wirkung als Kälte. Die Wirkung hält meistens drei bis vier Stunden an. Gerade von regelmäßig angewendeter häuslicher Infrarottherapie kamen positive Berichte. Allerdings sind die Kosten nicht unerheblich, besonders wenn sie zeitsparend im häuslichen Umfeld durchgeführt werden. Unbedingt zu vermeiden sind Aktivitäten, die zu einer merklichen Verschlechterung führen. Die Verschlechterung kann sich verzögert einstellen und sich erst nach ein bis vier Tagen deutlich bemerkbar machen.
Zum Basisprogramm gehören auch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe und an einem angeleiteten Funktionstraining für Fibromyalgie. Nach verhaltenstherapeutischer Einweisung sind Phantasiereisen und Meditationsübungen von 20 Minuten pro Tag und Achtsamkeitsübungen oder stressreduzierende Verfahren, wie autogenes Training, zu vermitteln. Sehr gut können Tai-Chi und Qigong eingesetzt werden, da in diesen Verfahren langsame Bewegungen der vernachlässigten Drehmuskulatur (Rotatoren) durchgeführt werden. Yoga halte ich für weniger geeignet, da bei dieser Methode in den meisten Fällen zu lange in bestimmten Positionen verharrt wird und der Kraftaufwand der statischen Haltemuskeln häufig größer ist, als es der Fibromyalgie-Patient verkraften kann. Wichtig bei allen Verfahren sind Gruppenkontakte und die Stärkung der Selbstdisziplin. Diese hat zum Ziel, dass diese Übungen regelmäßig und stetig zuhause durchgeführt werden.
Es ist nach dem zentralen Merkspruch zu verfahren: „Ein steter Tropfen höhlt den stärksten Stein“. Das heißt, egal, wie es einem geht und was andere von einem wollen, das Aktivitätsprogramm - und sei es auch noch so minimal - konsequent und bestmöglich durchzuführen. Die Stetigkeit und immer wieder etwas für sich selbst zu tun, sind das Entscheidende.
Dieses eben beschriebene, selbst durchzuführende Verfahren mit Übungen zur Funktionsverbesserung sollte ganz am Anfang stehen, bevor man über Medikamente nachdenkt.
Erst nachdem dies klar ist, können die Weichen gestellt werden für das, was der Patient bevorzugt:
1. schulmedizinische Behandlung (Medikamente)
2. diverse Verfahren der Alternativmedizin (CAM) mit möglichst wenigen „Drugs“
3. Verhaltenstherapie mit intensivem Selbstmanagement
4. Psychotherapie (analytisch/tiefenpsychologisch), insbesondere bei starken Belastungen in der Kindheit
5. Traumatherapie
Der Patient kann aber auch eine Kombination wahrnehmen oder noch andere Optionen wählen. Dabei sind unbedingt die Präferenzen der Betroffenen zu beachten. Denn einige Therapien stoßen auch an Grundüberzeugungen des Patienten und dieser hat auch die möglicherweise unerwünschten Wirkungen auszubaden.
Bewährt hat es sich zu schauen, wie lange und wie stark die Fibromyalgie ausgeprägt ist und zusammen mit dem Patienten realistische und realisierbare Therapieziele festzulegen.
1. Leichte, nicht allzu lang bestehende Formen der Fibromyalgie sollten neben dem Basisprogramm eine qualifizierte Aufklärung im Sinne von Psychoedukation, d.h. ein Aufklärungs- und Schulungsprogramm enthalten. Dies kann als eine weit gefasste Aufklärung oder etwas intensiver als verhaltenstherapeutisches Edukationstraining erfolgen.
Eine Schmerzmedikation mit einer gut verträglichen Einzelsubstanz sollte erwogen werden. Beispiel: Amitryptilin/Doxepin oder Imipramin bei Schlafstörungen.
Manchmal ist eine differenzierte und phasenweise Gabe von schmerzreduzierenden Medikamenten (Novamin oder Tramadol) in Krisenzeiten, besonders im Winter, sinnvoll.
Orthopädische Schmerzquellen können gut mit Akupunktur behandelt werden. Auch Homöopathie bietet nach meiner Beobachtung gute Effekte, insbesondere bei Erschöpfungssymptomatik. Imaginationsverfahren wie Phantasiereisen zur verbesserten und adäquateren Körperwahrnehmung sollten meines Erachtens schon in der Anfangsphase eingesetzt werden.
2. Als weitere Gruppe sind mittelschwere Zustände zu bezeichnen. Hier ist es besonders notwendig, zwei oder drei Medikamente zu kombinieren. Die hohe Kunst besteht darin, sedierende und aktivierende Medikamente zu verwenden, damit man die erheblich gestörte Tagesrhythmik wieder normalisiert. Das Basisprogramm sollte überprüft und intensiviert werden. Die Phantasiereisen sollten regelmäßig, auch eigenständig, angewendet werden. Es kommen noch Akupunktur, Mittelfrequenzelektrotherapie und verhaltenstherapeutische Schmerzdesensibilisierung zur Anwendung. Die multimodale Schmerztherapie erscheint mir gerade hier angebracht, weil diese ebenfalls mit einem Methodenbündel arbeitet. Es stellt sich gerade hier die Frage, ob nicht gravierende psychische Störungen wie Traumata vorliegen, die eine analytische Therapie oder Traumatherapie erforderlich machen.
3. Als dritte Gruppe seien Patienten genannt, die auf die genannten üblichen ambulanten Methoden nicht ansprechen. Sie sollten mit einer multimodalen (teil-)stationären Schmerztherapie behandelt werden.
Die multimodale Schmerztherapie versteht sich als „Hilfe zur Selbsthilfe“. In Kleingruppen gibt es über einen bestimmten Zeitraum (drei bis vier Wochen) Anleitungen zur Aktivität, Informationen und Schulungen:
• Physiotherapie → Ausdauer- und Koordinationstraining, Körperwahrnehmungsschulung und Entspannung
• Psychologie → Übungen und Techniken zur Schmerzbewältigung, Seminare zur Stressbewältigung und Kommunikation
• Ergotherapie → Tipps und Tricks in Alltag und Arbeit, Kreativität fördern
Unter Umständen ist auch eine langwierige Behandlung in einer verhaltenstherapeutischen oder anderen psychotherapeutischen stationären Einrichtung sinnvoll.
Mit zunehmender Krankheitsdauer muss überlegt werden, inwieweit man die noch verfügbaren Ressourcen ansprechen und intensivieren kann. Es sollten Krankheitsbewältigung, Krisenintervention und Stärkung des Selbstvertrauens und des Selbstwertes erarbeitet werden. Zunehmend zeichnet sich hier das Bild einer Dauerbetreuung ab, diese kann im Rahmen einer nieder-frequenten ambulanten Psychotherapie stattfinden.
3. Nicht immer ein Königsweg: Die medikamentöse Therapie
Vorab muss besprochen werden, unter welchen Symptomen der Patient am meisten leidet und um welche Rate sich ein störendes Symptom bessern soll bzw. kann, damit eine zustandsangemessene medikamentöse Therapie entworfen werden kann. Bei der Fibromyalgie sind Reduktionsraten bezüglich der Schmerzen von 10 bis 30% realistisch, wünschenswert sind allerdings Raten von 50% und mehr. Diese Rate ist in der überwiegenden Zahl der Fälle – unter anderem wegen der Nebenwirkungen - nicht zu erreichen. Deswegen gilt hier: „Schauen wir einmal, wie weit wir kommen.“
Nach meiner Erfahrung nützt das Standardmedikament Amitriptylin in niedriger bis mittlerer Dosis (10 bis 75 mg) in der Tat. Insbesondere verbessert sich der Schlaf erheblich, es lindert den Schmerz langfristig etwas und wirkt auch antidepressiv. Ein Nachteil sind Gewichtszunahme, trockener Mund und Verstopfung. Da es müde macht, bevorzuge ich die alleinige Abendgabe. Ein weiterer Vorteil ist, dass es im Gegensatz zu Schlafmitteln nicht abhängig macht. In den Leitlinien findet sich dieses Mittel als einziges mit stark positivem Konsens. Diesem Expertenvotum kann ich mich anschließen.
Immer wieder höre ich: „Herr Doktor, seit vier Wochen geht es mir schlechter“. Meine Fragen gehen dann in folgende Richtungen:
1. Kommt der Winter und rutscht der Patient in die für Fibromyalgie typische Winterverschlechterung hinein?
2. Ist irgendein Stress oder sonstige intensive Belastung eingetreten, die die Fibromyalgie wieder aktiviert haben?
3. Ging es dem Patienten so gut, dass er das Amitriptylin weggelassen hat?
Bis die Wirkung von Amitriptylin einsetzt bzw. abgeklungen ist, dauert es vier bis sechs Wochen und der Patient führt in vielen Fällen seine Verschlechterung nicht auf das Weglassen des Medikaments zurück.
Ein häufiger Grund dafür, dass Medikamente weggelassen werden, sind unerwünschte Nebenwirkungen. Unter Umständen kann bei schlechter Verträglichkeit auch ein Versuch mit Doxepin oder Imipramin gemacht werden. Besonders Imipramin (Insidon) wirkt sich günstig auf funktionelle Beschwerden aus und hat nur wenige Nebenwirkungen.
Bei den übrigen Mitteln scheiden sich dann die Meinungen der Experten. Für keine der weiteren Maßnahmen konnte eine starke Übereinstimmung der Experten erreicht werden. Die weiteren Therapien erreichten nur eine schwächere offene2 Übereinstimmung, wenn nicht sogar Ablehnung. Meine Darstellung weicht also im Folgenden in einigen Punkten deutlich von der S3-LL ab. Ich gebe morgens gerne Fluoxetin, da dieses aktivierend und gewichtsreduzierend wirkt. Es handelt sich um ein Mittel, das etwas Antrieb gegenüber der schlaffördernden Wirkung des Amitriptylin gibt, die unter Umständen bis in den nächsten Tag hineinreichen kann. Dieses Konzept erlaubt es, weitgehend gewichtsneutral zu bleiben und die Tagesaktivität anzuregen.
Seit einiger Zeit wird stattdessen Duloxetin (Cymbalta) insbesondere von Psychiatern und psychotherapeutischen Kliniken empfohlen. Duloxetin ist zurzeit das am häufigsten verordnete Antidepressivum. Es gilt als Leitsubstanz ersten Grades in der Behandlung von Depressionen. Allerdings ist im Gegensatz zu Amitriptylin eine schmerzstillende Wirkung nur beim neuropathischen Schmerz, wie bei Diabetischer Polyneuropathie oder Nervenverletzungen, aber nicht bei anderen Schmerzen belegt. Auffällig ist in der Tat, dass Patienten mit Duloxetin eine freudigere Grundstimmung entfalten. Sie leiden aber nach meinem Eindruck weiterhin stark unter fibromyalgie-typischen Schmerzen und schlechtem Schlaf. Eine Kombination von Duloxetin mit Amitriptylin wird wegen Interaktionen nicht empfohlen, sondern eine Kombination Duloxetin mit Mirtazepin. Mit Mirtazepin habe ich ebenfalls nur selten positive Rückmeldungen erfahren. Wenn doch, dann nur zu Beginn der Therapie. Langfristig führt Mirtazepin zu sehr stark ausgeprägter Gewichtszunahme.
Vor einiger Zeit wurde Venlafaxin (z.B. Trevilor) empfohlen. Dieses Medikament machte viele Fibromyalgie-Patienten sehr unruhig und kribbelig, was nicht verwunderlich ist, denn die meisten Patienten haben sowieso eine deutlich erhöhte Grunderregung und Unruhe. Somit reagieren sie deutlich anders als Standardpatienten auf Venlafaxin. Auch reagieren sie häufig paradox, sodass ich dieser Empfehlung ungern folge.
Dagegen habe ich mit Pregabalin (Lyrika) gute Erfahrungen gemacht. Es wirkt schlafverbessernd, ist gut kombinierbar, wirkt gegen Schmerzen und ist leicht angstlösend. In etwas höherer Dosis abends gegeben kann es gerade bei Schlafstörungen gut helfen. Es kann allerdings auch Gewichtszunahme und Tagesmüdigkeit verstärken. In der Leitlinie wurde hierzu eine offene Empfehlung ausgesprochen.
Eine von allen Experten abgelehnte Gruppe sind die sogenannten Rheumamittel (NSAR). Lang wirksame Rheumamittel sind in der Tat gerade bei Fibromyalgie nicht sinnvoll, insbesondere weil sie die Nieren schädigen und zu Bluthochdruck führen. Der Grund dafür, dass diese Mittel in den Leitlinien nicht empfohlen werden ist, dass es sich bei der Fibromyalgie nicht um eine Entzündung handelt. Trotzdem habe ich immer wieder beobachtet, dass bei starken Schwellungen und lokal begrenzten Schwellungen (z.B. am Unterarm) gut verträgliche Antirheumatika, wie Ibuprofen oder Diclofenac retard oder Coxibe, eine Schmerzlinderung bringen.
In einigen wenigen Fällen war auch Paracetamol wirksam. Insbesondere, wenn man den Eindruck hat, dass auch orthopädische Prozesse innerhalb der Fibromyalgie unter der Oberfläche verlaufen, halte ich die kurzzeitige Gabe dieser Mittel trotz negativem Votum der Leitlinien unter ärztlicher Aufsicht in begrenztem Umfang für vertretbar. Eine Langzeittherapie oder gar Selbstmedikation sollte aber unter diesen schwierigen Bedingungen keinesfalls durchgeführt werden.
Eine Sonderrolle spielt Novalminsulfon (Novalgin), dass nicht die Nebenwirkungen eines Antirheumatikums hat, sondern über das Gehirn und die glatte Muskulatur schmerzstillend wirkt. Es ist auch gut bei Schmerzen im Bauchbereich (Reizdarm, Reizblase) wirksam, weil es krampflösend auf die glatte Muskulatur wirkt. Von Nachteil ist eine recht hohe Dosierung – bis zu 4 x 2 recht große Tabletten am Tag. Ich habe damit bessere Erfahrungen gemacht, als in den Leitlinien beschrieben und halte auch eine Dauertherapie eventuell in Maximaldosis (8 Tabletten am Tag á 500 mg) für angemessen, wenn nachgewiesen ist, dass es wirkt. Darunter verstehe ich eine Schmerzreduktion von mindestens 20 %!
Der Einsatz von niedrig dosierten Dopaminagonisten (Parkinsonmitteln) ist umstritten und wird von den meisten Experten abgelehnt. Ich selbst habe zu diesem Thema an einer internationalen Studie mitgewirkt. Die Tergurid Studie erbrachte keinen statistisch deutlichen Nutzen, bis auf einen statistischen Effekt in der Untergruppe von Fibromyalgie-Patienten mit zervikaler Spinalstenose. Auffällig war, dass die Ergebnisse von Zentrum zu Zentrum stark schwankten, was ich auf die Betreuungsqualität zurückführte. Die Dopaminagonisten werden in hoher Dosierung schlecht vertragen und müssen, wenn man sich dazu entschließt - es gibt derzeit noch keine Zulassung zur Behandlung der Fibromyalgie mit diesen Mitteln - sehr sorgfältig und langsam aufsteigend dosiert werden. Über Langzeitnebenwirkungen und Spätnebenwirkungen ist wenig bekannt. In Verbindung mit Restless Legs darf man diese Mittel bei Fibromyalgie verordnen. Patienten aus dieser Gruppe berichten durchaus über positive Gesamteffekte, die Fibromyalgiesymptomatik schwächte sich etwas ab, der Schlaf und die Tageswachheit besserten sich deutlich.
Den Einsatz von schwachen Opioden (z.B. Tramadol) halte ich durchaus für vertretbar. Die Experten in der S3-Leitlinie haben sich zu diesem Thema nicht eindeutig festgelegt. Das Mittel kann für wenige Tage zu einer leichten Übelkeit führen und nach längerer Zeit auch zur Gewichtszunahme. Ein großer Vorteil ist eine milde serotoninerge, antidepressive und stimmungsaufhellende Wirkung. Die in den Leitlinien angegebene hohe Abbruchrate von 40 % kann ich nicht bestätigen. 80 % meiner Fibromyalgie-Patienten vertrugen das Medikament gut. Es hat den Vorteil von nur geringen Nebenwirkungen auf Niere, Herz und Magen. Mein Eindruck ist allerdings, dass nach einem halben Jahr die Wirkung nachlässt und dann immer höher dosiert werden muss. Die Obergrenze von 400 mg am Tag sollte und darf allerdings nicht überschritten werden. Neben der schmerzstillenden Wirkung habe ich den Eindruck, dass die Patienten vitaler und bewegungsfreudiger werden, also die Lebensqualität steigt. Ich zähle deswegen dieses Mittel trotz neutraler Bewertung für ein sehr geeignetes Mittel in der Behandlung der Fibromyalgie.
Auch hier gilt: Was nicht hilft, gehört abgesetzt
Notfalls kann man sich mit einem zwei- bis vierwöchigen Auslassversuch Klarheit verschaffen, ob das Medikament noch ausreichend wirkt. Falls dies nicht der Fall ist, sollte es abgesetzt werden.
Ein sehr schwieriges Kapitel sind die stärkeren Opioide, also die klassischen Opiate. Die Leitlinien sehen diese Medikamente nicht zur Behandlung der Fibromyalgie vor. Die Mehrheit der Experten lehnt eine Therapie mit dieser Produktgruppe bei der Fibromyalgie ausdrücklich und offen ab. Gerade von Psychiatern und Psychotherapeuten wird den Schmerztherapeuten bei Verwendung dieser Stoffgruppe ein kunstfehlerhaftes Verhalten vorgeworfen. Die Diskussion hierum könnte ein abendfüllendes Thema werden. Häufig wird aber von den Kritikern übersehen, dass überproportional viele Fibromyalgie-Patienten noch weitere äußerst schmerzhafte Erkrankungen, z.B. aus dem orthopädischen Formenkreis, haben. Solche sind Verengungen im HWS-Bereich (zervicale Spinalstenose), Bandscheibenprobleme, schwere Arthrosen und einige andere schmerzhafte Erkrankungen.
Falls solche triggernde Faktoren vorliegen, kann meiner Meinung nach auch eine sorgfältig geführte Therapie mit retardierenden Opiaten vorgenommen werden. Die Herausforderung ist dabei, eine saubere Dokumentation der Schmerzreduktion (hier mindestens 30 %) zu erstellen und gleichzeitig eine beginnende Suchtentwicklung oder einen psychotropen Effekt (z.B. Euphorisierung oder Dysmorphie, also Hochgefühle oder Verstimmungsgefühle) zu erkennen. Falls diese einsetzen, ist das Problem groß, denn der Patient muss dann in der überwiegenden Zahl der Fälle stationär von den Morphinen entzogen werden. Nichtschmerztherapeuten sollten von dieser Stoffgruppe besser die Finger lassen, insbesondere wenn psychische Komponenten, chronischer Stress, Trauma, Depressionen vorhanden sind oder es sich um eine unkomplizierte Fibromyalgie ohne wesentliche neurologische oder orthopädische Erkrankung handelt.
An dieser Stelle ist es ratsam zu überlegen, ob sich Patient und Arzt nicht unbemerkt in eine „Eskalationsphase“ haben treiben lassen. Gerade, wenn der Arzt sich mangels Alternativen überlegt, ein Morphinpräparat einzusetzen, sollte er mit dem Patienten alternative, komplementärmedizinische Methoden sowie Verhaltenstherapie/Psychotherapie oder multimodale Schmerztherapie erwägen.
4. Complementär-Alternative Methoden (CAM)
Auf meine Erfahrungen mit CAM will ich hier eingehen, ohne Theorien und Begründungen zu diskutieren.
In der S3-LL wird der zeitlich befristete Einsatz von Akupunktur empfohlen. Meine Erfahrungen mit Akupunkturverfahren sind, mit einigen wesentlichen Einschränkungen, sehr positiv. Die hohen Erfolgsraten, wie ich sie in mehreren eigenen Studien bei orthopädischen Erkrankungen und Migräne gesehen habe, sind bei Fibromyalgie-Patienten im ersten Anlauf mit der herkömmlichen Akupunktur nicht zu erreichen gewesen. Erst die differenzierte Erstellung einer standardisierten chinesischen Diagnose ergab vollkommen neue Punktekombinationen. Es müssen die starke Erschöpfung, Schwächesymptome und „umherirrende Symptome“ berücksichtigt werden.
Es müssen also für eine erfolgreiche Behandlung vor allem die seelisch-geistigen Elemente berücksichtigt werden. In einem ersten Schritt wurde berücksichtigt, dass bei vielen Patienten bei herkömmlicher Nadelung, wie diese z.B. bei orthopädischen Erkrankungen angewendet wird, ungewöhnlich starke und langandauernde Schmerzen während des Nadeleinstiches und ausgeprägte vegetative Reaktionen, wie Blasswerden und Schweißausbruch, auftraten. Ein Nachfragen ergab, dass die Fibromyalgie-Patienten in erstaunlichem Maße einen neuropathisch anmutenden brennenden Schmerz in einer Größenordnung eines VAS (Anm. d. V.: Visuelle Analogskala bis 10) = 8-9 bei der konventionellen Nadelakupunktur angaben, der über 30 Sekunden bis zu einer halben Stunde anhielt. Normale Schmerzpatienten dagegen gaben eine Schmerzstärke von VAS = 2-3 an, der gerade einmal drei bis vier Sekunden anhielt. Unsere Konsequenz war, dass wir die Nadelstärke auf fast mikroskopisch kleine Maße verkleinert haben, bis die gerade noch gut auszuhaltende Schmerzstärke VAS = 2-3 durch die Nadelung erreicht wurde.
Große Sorgfalt wurde darauf verwendet, den Patienten auf das Abklingen und auf das Verschwinden des Schmerzes unter der Nadel zu fokussieren. Der Patient konnte selbst bestimmen, wie oft er diese Prozedur des An- und Abschwellens des Schmerzes über sich ergehen lassen wollte. Wichtig ist die Hinlenkung seiner Aufmerksamkeit auf das Abklingen des Schmerzes. Im Grunde wird die Akupunktur dann als verhaltenstherapeutisches Verfahren zu einer graduierten Schmerzdesensibilisierung eingesetzt.
Das Akupunkturverfahren wurde des Weiteren mit der Awareness Release Technik nach Rogers kombiniert. Der Patient lernt dabei neutral – ähnlich wie der Arzt die Anatomie – seinen Körper durch Phantasiereisen von innen zu durchwandern und kennenzulernen.
Bei diesem Training wird auf die lebenserhaltenen und auf die, auch beim Fibromyalgie-Patienten glücklicherweise intakten Funktionen, wie Atmung, Herzschlag, Durchblutung, Sehen, Hören und Sauerstoffanreicherung zurückgegriffen. Nach einer gewissen Zeit kann der Patient diese Methode selbstständig beherrschen. Dabei lenkt er seine Aufmerksamkeit morgens und abends (ähnlich wie beim autogenen Training, Muskelentspannung nach Jakobson oder der Meditation) durch das Körperinnere – speziell müssen dabei schmerzfreie Räume aufgesucht werden. Am Ende bleibt so wenig Raum für die Schmerzempfindung bei der Fibromyalgie übrig und der Patient lernt wieder, seine normalen Körperfunktionen intensiv wahrzunehmen. Ein Großteil der Fibromyalgie-Patienten ist während und ein bis drei Tage nach solchen Sitzungen vollkommen beschwerdefrei. Die Stimmung wird erheblich besser. Diese Wirkung hält etwa ein bis drei Wochen an. Nach etwa fünf bis zehn Sitzungen kann und soll der Patient solche Imaginationen und Körperreisen regelmäßig eigenständig 2 x 10 Minuten am Tag durchführen. Eine Vielzahl von Symptomen bessert sich: Das Gesamtbefinden, die Erschöpfung, der Schmerz, die Verspannung. Allerdings ist die Sache gerade am Anfang sehr brüchig. Ohne weiteres diszipliniertes Üben verschwindet das Meiste innerhalb von wenigen Wochen. Glücklicherweise kann aber durch erneutes Üben das Erlernte schnell wieder aktiviert werden.
Mit der Homöopathie habe ich im Gegensatz zur S3-Leitlinie gute Erfahrungen gemacht. Die Homöopathie war als Methode in der alten S3-LL von den Patientenvertretern eingebracht worden. Die Mehrheit der S3-LL-Experten stellt in der neuen Leitlinie aus dem Jahre 2012 fest, dass Homöopathie nicht eingesetzt werden sollte. Es gab ein Minderheitenvotum der Alternativmediziner, die sich für eine offene Empfehlung aussprachen. Leider ist in der Leitlinie nicht vorgemerkt, warum das frühere Patientenvotum für Homöopathie aufgehoben wurde. Entscheidend ist in meinen Augen, das Hauptaugenmerk der homöopathischen Wirkung nicht auf den Schmerz als das wohl wichtigste, aber nicht einzige Leitsymptom zu richten.
Auffälligerweise kommen bei meinen Analysen als Homöopathika Mittel zum Vorschein, die eine zentralnervöse Überempfindlichkeit und nicht ein schmerzhaftes rheumatologisches Schmerzbild signalisieren. Diese homöopathischen Analyseergebnisse passen also sehr gut zu den jüngeren naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen einer Hypersensitation des zentralen Nervensystems. Über diesen Weg gelingt es, Mittel herauszufinden, die in erster Linie die Übererregbarkeit, Benebeltsein, Erschöpfung und die Lebensqualität wirkungsvoll angehen.
Die so behandelten Patienten wirken deutlich wacher und zufriedener als diejenigen, die nur den schulmedizinischen Standard erhalten. Manchmal bessern sich die Magen-Darm-Beschwerden (Reizdarm). Auch hier die schon früher häufig geschilderte Situation, dass als Erfolgskriterium nicht die Schmerzreduktion, sondern die Gesamtheit der Beschwerden dienen sollte. Bei Betrachtung der Entwicklung der Schmerzsymptomatik allein wird man durch Homöopathika keine deutlich positive Rückmeldung haben, erst bei umfassender ganzheitlicher Ausgangs- und Endpunktebestimmung werden regelmäßig reproduzierbare positive Veränderungen bei Einzelpatienten gesehen.
Ein Wort noch zu Nahrungsmittelergänzungsprodukten und Ernährungsmedizin. Auch damit habe ich mich im Rahmen der „Orthomolekularen Medizin“ intensiv beschäftigt. In meinen Laboruntersuchungen habe ich häufiger CPK (Kreatinphosphokinase)- und Lipaseerhöhungen, Schilddrüsenantikörper und Hypokalziämie (Kalziummangel) gefunden. Es lohnt sich aus verschiedenen Gründen, bei Fibromyalgie Kalzium und Vitamin D zu kontrollieren und gegebenenfalls nach Messung zu substituieren. Daraus abgeleitet ist auch eine Knochendichtemessung zur Früherkennung von Osteoporose ratsam.
Die frühere, des Öfteren ausgesprochene Empfehlung, reine Kaliumsubstitution oder den Einsatz von kaliumsparenden Diuretika (Aldactone) vorzunehmen, hat mich in der Praxis nicht überzeugt. Dagegen ist eine kombinierte Magnesium- und Kaliumgabe insbesondere bei Vorliegen von Waden- und Muskelkrämpfen sehr sinnvoll. Es ist zu beachten, dass keine Kontraindikationen wie Nierenschaden vorliegen. Nach Prof. Ziegelgänsberger wird durch Magnesium eine schmerzstillende Wirkung am Rückenmark erzeugt und Erregungsleitungen normalisiert. Diese grundlegende positive Eigenschaft hat sich bei mir in der Praxis leider nicht sehr ausgeprägt herausgestellt, trotzdem gebe ich diese Kombination gerne, weil sie die Übererregung dämpft und nicht schadet.
Bei starker körperlicher Leistungsschwäche kann die Gabe von natürlichem Yams (DHEA oder Rhodiola) erwogen werden. Insbesondere wenn das DHEA erniedrigt ist und ein Cortisoltagesspiegel starke Abweichungen aufweist. Diese Behandlung ist medizinisch weitgehend unbedenklich und recht preiswert. Sie berücksichtigt die Schwächung der Hormonregulation über die Hypophysen-Nebennierenrindenachse. Bitte bedenken Sie, dass bei ausgeprägtem Leistungsdefizit auch eine Schlaflaboruntersuchung sinnvoll ist.
Zum Abschluss noch einige Worte zu meinen Beobachtungen zur Gluten- und Histaminüberempfindlichkeit. Gerade bei Patienten mit Reizdarmsyndrom lohnt es sich nach Glutenunverträglichkeit und Histaminintoleranz zu schauen. Auch wenn Glutenantikörper negativ sind, ist im individuellen Cross-over-design (Erklärung siehe Interview) eine gluten- oder histaminarme Diät anzuraten. Etwa die Hälfte der Reizdarmpatienten mit Fibromyalgie spricht gut auf eine glutenarme Diät an. Bauchschmerzen, Blähungen, stark riechende Windabgänge, schmieriger bis schleimiger Stuhlgang, bessern sich erheblich. Von italienischen Autoren wurde vermutet, dass sich auch die Muskelschmerzen (muskelkaterähnlich) und Benommenheitsgefühle (Brain Fog) bei glutenarmer Kost erheblich bessern.
Vereinzelt, aber nicht durchgängig, wurde mir von Patienten durchaus von einer deutlichen Besserung derartiger Beschwerden berichtet. Man muss aber auch hier erst den Patienten für solche Nebenschauplätze sensibilisieren. Leider ist es nach wie vor schwierig, eine Empfehlung zur glutenarmen Kost auszusprechen, da viele etablierte Schulmediziner diesen Beobachtungen nicht folgen und solche Empfehlungen ins Lächerliche ziehen. Meistens erntet man bei diesem Thema unter Kollegen leider noch Geringschätzung. Falls sich dieser Zusammenhang in Studien bestätigen sollte, wird noch einiges an Überzeugungsarbeit in der Medizin, insbesondere in der Gastroenterologie, geleistet werden müssen.
Wie mir Privatdozent Winfried Häuser mitteilte, laufen zu diesem Thema in einigen Kliniken gerade aktuelle Studien. Ihre Ergebnisse erwarte ich mit großer Neugier.
Das Interview
Die Recherche für dieses Buch warfen natürlich einige Fragen auf, die mir Dr. Hechler in ausführlichen Gesprächen beantwortet hat.
Würden Sie näher erläutern, warum Sie den Begriff „Fibromyalgie“ in Verbindung mit dem Wort „Syndrom“ für eher unglücklich halten?
Meine Beobachtung, dass 80-90 % meiner Kollegen bevorzugt die Bezeichnung Fibromyalgiesyndrom anstelle von Fibromyalgie oder Fibromyalgieerkrankung verwenden, ist daraus entstanden, dass sich vor langer Zeit Fachleute zusammengefunden und überlegt haben „Ist Fibromyalgie eine Erkrankung oder ein Syndrom?“.
In der Medizin wird das Zusammentreffen unterschiedlicher Symptome als Syndrom bezeichnet, damit meint man, dass es sich bei einem Syndrom um ähnlich erscheinende Symptomkomplexe handelt. Unter Umständen ist aber die Ursache für die Ausbildung eines Syndroms sehr unterschiedlich. Erst wenn ein Ursachenkomplex für dieses Syndrom gefunden ist, verdichtet sich die Bezeichnung zu einem Krankheitsbegriff. Es gibt Syndrome in der Medizin, die als solche Entitäten- also Symptomkomplexe - gesehen werden, wie zum Beispiel das Down-Syndrom. Diese Bezeichnung ist beibehalten worden, obwohl man inzwischen genau weiß, dass dies eine sehr gut definierte, genetische Erkrankung mit Namen Trisomie 21 ist. Wenn die Kollegen Down-Syndrom hören, wissen sie, es ist ein eigenes anerkanntes Krankheitsbild.
Bei der Fibromyalgie schwächt man aber die Idee, dass es sich um eine Erkrankung handelt eher ab, indem man den Begriff „Fibromyalgiesyndrom“ verwendet. Man möchte mit dieser Bezeichnung ein eher zufälliges Zusammentreffen von verschiedenen Symptomen, wie Schmerzen, Erschöpfung, Reizdarm, Lärm- und Wärmeempfindlichkeiten, kennzeichnen. Es wird davon ausgegangen, dass noch keine eindeutige Ursache gefunden wurde. Es wird weiterhin unterstellt, dass dies nicht zu erwarten ist und sich diese ‚Modeerkrankung‘ bald verflüchtigen wird.
Meiner Meinung nach hängt diese Anschauungsbildung damit zusammen, wie häufig die Kollegen mit diesem Krankheitsbild konfrontiert werden. Beispielhaft möchte ich berichten, dass ich einmal einen Assistenten hatte und dieser im Gespräch mit mir erfuhr, dass ich Fibromyalgie-Patienten behandele. Er fragte mich, ob ich glaube, dass es die Fibromyalgie überhaupt gibt. Ich erklärte ihm, dass ich im Rahmen der Schmerzbehandlung inzwischen bereits 650 Patienten mit Fibromyalgie betreue. Ihm fehlten damals beim Antritt der neuen Stelle noch die entsprechende Anschauung und Erfahrung. Später musste mich dieser Kollege für eine Woche vertreten, da ich zu einer Schmerzmedizinischen Fortbildung fuhr. Nach seiner Vertretungszeit sagte er mir, dass er sich wohl geirrt habe! Es seien in der Woche so viele Patienten da gewesen, die alle dasselbe hatten und er sei nun davon überzeugt, dass es die Fibromyalgie als Krankheitsbild gibt!
Wenn also ein Arzt nur vier bis fünf Patienten im Jahr mit solchen Symptomen sieht, denkt er vielleicht, dass das Krankheitsbild psychosomatisch ist, zumal labortechnisch nichts zu sehen ist. Wenn man aber als Arzt eine größere Anzahl Betroffener gesehen hat, stellt sich heraus, dass die Fibromyalgie eine Entität ist. Sicherlich kann es verschiedene Ursachen geben, die sich aber zu diesem komplexen Krankheitsbild ausbilden. Die haben wir auch bei der Asthmaerkrankung. Diese kann durch Allergie, Stäube, Kälte, Aufregung und sogar vom Herzen ursächlich ausgelöst werden. Ähnlich sehe ich dies bei der Fibromyalgie. Ich sehe, dass die Patienten untereinander sehr ähnlich sind und auch eine ähnliche Vorgeschichte und Ablauf berichten. Unter diesem Eindruck, und da auch in anderen Bereichen der Medizin die Begriffe Syndrom und Krankheit nicht durchgängig klar definiert und zugewiesen werden- und auch oft nicht können- (dieses liegt in der Natur komplexer biologischer Vorgänge begründet) verwende ich den Begriff Symptom nicht gerne und spreche vorzugsweise von Fibromyalgie und Fibromyalgieerkrankung. Auch um dieser Erkrankung mehr Gewicht zu geben.
Wie sind Sie selbst für die Krankheit Fibromyalgie sensibilisiert worden?
Ich war Ansprechpartner für die damals einsetzende Selbsthilfegruppenbewegung im Osnabrücker Raum. Es gab ein Gesundheitszentrum auf freiwilliger Basis von Psychologen, Sozialarbeitern, Ärzten und Apothekern mitbegründet. In diesem Gesundheitszentrum fanden die Treffen der Selbsthilfegruppen statt, wie z.B. Parkinson-Selbsthilfegruppe, ADHS-Selbsthilfegruppe, Arthrose-Selbsthilfegruppe. Damals gab es auch einzelne Patienten mit unklarem Krankheitsbild, nämlich CFS (Chronic Fatigue Syndrom). Sie berichteten, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage seien, zu einem Selbsthilfegruppen-Treffen zu kommen, sich aber solch eine Anlaufstelle wünschen würden. Ich wurde gefragt, ob ich mich für die Gruppe engagieren wolle bezüglich Diagnostik und auch Betreuung. Es waren schon viele Patienten dabei, die die Komplementärmedizin in Anspruch nahmen, aber auch einige, die damals schon Schmerzen hatten - also diejenigen, die an Fibromyalgie, in Verbindung mit starker Erschöpfung litten. Es hatte sich auch herumgesprochen, dass ich die Menschen nicht einfach wegschicke, sondern ein „Ohr“ für sie habe, mir ausführlich notiere, wie das Beschwerdebild aussieht. Ich bekam damals ausgezeichnetes Material von der Deutschen Fibromyalgie-Vereinigung. Diese Literatur hat mich beflügelt, sodass ich mich in die beigefügte Ärztemappe eingelesen und diese auch ergänzt habe mit dem, was in der Schulmedizin schon ausgearbeitet war. Natürlich war ich auch überzeugter Schulmediziner, wollte aber allen Hinweisen nachgehen. Ich habe die Beschwerden und Ergebnisse in Tabellen erfasst, um selbst neue Zusammenhänge aufzudecken. Dies hatte einen ordentlichen Effekt klarer zu sehen, welches Ausmaß diese Erkrankung hatte: Ist es eher eine geringe oder stärker ausgeprägte Fibromyalgie? Sind eher somatische (körperliche) oder psychische (seelische) Komponenten führend? Des Weiteren kam richtiger „Schwung“ durch den Start des „Arbeitskreis Fibromyalgie Osnabrücker Land“, den ich leitete. Auf meine Anregung hin wurden auch weitere Ärzte dazu eingeladen: Orthopäden, Neurologen, Rheumatologen, Lungenfachärzte, Kardiologen, um das ganze Spektrum der Fibromyalgie abzudecken.
Ich selbst habe in meiner Praxis einige Methoden entwickelt, zum Beispiel spezielle Untersuchungstechniken, wie Tourniquet-Test, Kneiftest, Kälte- und Wärmeempfindungstest. Zudem habe ich auch einige schulmedizinische, komplementärmedizinische und psychotherapeutische Verfahren für dieses Krankheitsbild angepasst. Auch die Verhaltenstherapie mit Imaginationsverfahren habe ich in Verbindung mit einer speziellen niedrigschwelligen Akupunkturform angewendet. Dies war durchaus wirksam! Die klassische Akupunktur geht schematisch von der Symptomatik aus, aber berücksichtigt nicht die spezielle Situation des Fibromyalgie-Patienten. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass die Standardakupunktur selten Erfolg, sondern eher Verschlechterung zeigte. Deshalb überlegte ich mir, was ich ändern kann. Hier kam mir die Schmerztherapie zugute und auch die Verbindung mit der Desensibilisierungstherapie aus der Verhaltenstherapie und ich habe damit sehr gute Ergebnisse erzielt.
Es wird die Achtsamkeitsstruktur des Fibromyalgie-Patienten bearbeitet: Jeder Kranke achtet auf seine Symptome und insbesondere darauf, ob sie schlechter werden. Dies hat Folgen für das übrige Schmerzerleben, also das Achten auf die gesunden Strukturen, die zur Schmerzbegrenzung dienen. Dies ist zwar ein kleiner Ansatz- aber mit weitreichenden Folgen, weil es immer und immer wieder geschieht.
Nach meiner Erfahrung kann man die Patienten in drei Gruppen teilen:
60-70 % der Fibromyalgie-Patienten, also die 'Kerngruppe' sind diesem Verfahren zugänglich, 20 % der Schmerzpatienten kommen aus dem Bereich der Orthopädie. Bei ihnen kann das klassische Akupunkturverfahren, also die schulmedizinische TCM, angewendet werden. Und schließlich die 5-10 % der Fibromyalgie-Patienten, die selbst diese verfeinerte Methode der Akupunktur wegen Schmerzverstärkung, Irritation oder Schweißausbruch nicht tolerieren können. Ich schätze, dass konventionelle Akupunktur bei 70 % der Fibromyalgie-Patienten nicht funktioniert. Es muss schon diese spezielle Akupunktur mit der Achtsamkeitslenkung durchgeführt werden.
Ich besprach dies einmal mit den Verhaltenstherapeuten, die Desensibilisierungstherapien bei Ängsten oder bei Überempfindlichkeiten durchführen. Hier setzt man kleine Reize und lässt diese lange genug, bis sie von selbst wieder abklingen. Dies ist ein verhaltenstherapeutisches Konzept, dass man mit der Akupunktur verbinden kann und dann stellt sich eine Wirkung ein.
Wie können Sie den Lesern den Begriff „Cross-over-Design“ erklären?
Ich kann es bildlich erklären mit zwei Eisenbahnschienen, die sich zweimal kreuzen, indem die linke Spur nach rechts gelegt wird und die rechte Spur nach links gelegt wird und die Parallelspur dazu, die linke Spur rechts weiterläuft und danach wieder nach links verlegt wird. Auf diesen Wegen fahren die Züge, also auf der linken Schiene ist das ohne Medikament und auf der rechten Schiene mit Medikament.
Warum macht man das Cross-over? Das ist die einzige Technik, die nachweist, ob bei einem Individuum eine Therapie wirkt oder nicht.
Die üblichen Studien in der Medizin werden durchgeführt, indem man Gruppen bildet. Zum Beispiel nimmt man 100 Patienten und 100 Kontrollpatienten. Man behandelt und wählt sie zufällig (Randomisierung) aus. Man sieht dann an einer Gruppe, wie der Gruppendurchschnitt eines Wertes, zum Beispiel der Blutdruck, fällt oder steigt. Hier schaut man nicht danach, ob es dem Einzelnen geholfen hat, sondern hier geht es nur um die Gruppe. In der Medizin sind mindestens Gruppengrößen von 100 Personen, aber besser mit mehreren Tausend nötig, um zu statistischen Aussagen zu kommen.
Beim Cross-over ist das anders. Da sehe ich, wie es beim Einzelnen anschlägt – also eine wirksame Therapie belegt werden kann. Man kann auch Therapieformen einsetzen, die vielleicht bisher in Gruppenuntersuchungen nur Tendenzen gezeigt haben und keine klaren statistischen Ergebnisse: Da kann man – besonders bei komplizierten, nicht lebensgefährlichen Ausgangslagen – diese Cross-over-Technik durchführen. Beispielsweise wird dies bei Antihistaminika, also Allergiemitteln, durchgeführt. Man gibt dann für vier Wochen ein Antiallergikum, dann erfolgt ein sogenannter Auslassversuch - hier wird das Medikament für mindestens den gleichen Zeitraum, vier Wochen, besser aber acht Wochen (da nach dieser Zeit der Placeboeffekt in seiner Wirksamkeit abklingt) weggelassen. Danach wird dann wieder das Medikament eingesetzt und erst jetzt wird beurteilt, ob es wirksam ist oder nicht.
Diese Methode kann man ebenfalls mit Erfolg durchführen, wenn man klären möchte, inwieweit Ernährungsbestandteile eine Rolle spielen. Beispielsweise bei einer eventuellen Glutenunverträglichkeit: Hier sollte man acht Wochen konsequent das Gluten weglassen.
Um deutliche Effektunterschiede zu sehen, kann man empfehlen anschließend acht Wochen viel Gluten zu sich zu nehmen. An diesen ‚Kreuzungspunkten' müsste dann, wenn der Patient wirklich kausal unter den Auswirkungen leidet, ein Wechsel der Symptomatik auftreten. Danach kann man endgültig beurteilen, ob das Gluten eine Rolle beim Krankheitsbild spielt.
In der Pharmazeutischen Zeitung 36/2004 war zu lesen, dass die Fibromyalgie mit rund dreißig verschiedenen Krankheiten verwechselt werden kann und dass sie mitunter Mediziner auf die falsche Fährte bringt. Würden Sie diese Aussage unterstützen? (Quelle: Pharmazeutische Zeitung online, Schmerzen von Kopf bis Knie – Fibromyalgie auf den Punkt gebracht – von Elke Wolf, Rödermark)
Ich sehe dies etwas anders. Die Gefahr besteht natürlich, aber da muss man schon eine sehr eingegrenzte Sichtweise haben.
Vor 20 Jahren, als Fibromyalgie noch nicht ganz so bekannt war, las ich eine Aufstellung darüber, was alles eine Fibromyalgie sein kann: Zahnschmerzen, Kopfschmerzen, Depression, Lichtscheu, Reizdarm, Allergie, Vitamin-D-Mangel, Stressreaktion, Verklebung der Faszien, Bindegewebsentzündung und so weiter. Hier wurden insgesamt etwa 20 Gebiete aufgezählt, in denen sich Erscheinungen der Fibromyalgie zeigen können, wie zum Beispiel der Reizdarm, der durch den Gastroenterologen diagnostiziert wurde. Durch diese sektorale Betrachtungsweise kann man natürlich zum Ergebnis kommen, dass der Patient ein unbedeutendes Reizdarmsyndrom hat – der Gastroenterologe übersieht aber, dass der Patient überwiegend eine Fibromyalgie hat. Dieses Reizdarmsyndrom bleibt dann bei dieser Diagnose hängen und man hat nicht das Ganze erfasst. Ebenso sehe ich bei den Psychiatern und bei den Psychotherapeuten, dass sie die Fibromyalgie als somatische Schmerzstörung, lavierte Depression oder anderes deuten und vom Krankheitsbild Fibromyalgie abrücken. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Fibromyalgie immer noch als Weichteilrheuma den rheumatischen Erkrankungen zugeordnet ist und ein Neurologe, Psychiater, Therapeut oder Psychosomatiker nur psychiatrische Diagnosen stellen darf. Insoweit ist der Begriff Fibromyalgie für ihn fachfremd und damit nicht abrechenbar.
Sind Fibromyalgie-Patienten, die eine Posttraumatische Belastungsstörung erlebt haben, gerade deshalb an Fibromyalgie erkrankt?
Kann man dies grundsätzlich so erklären? Und können die mitunter auftretenden Probleme mit körperlicher Nähe so erklärt werden?
In meiner Praxis stellte sich bei meinem Patientenklientel ganz früh heraus, dass häufig gesagt wurde: „Ich habe zu viel Stress gehabt im Leben“. Beim überwiegenden Teil der Patienten, die ich untersucht hatte, war der übermäßige Stress in 35 % Auslöser Nummer 1! Also noch vor Schilddrüsenproblemen, Pankreasentzündung oder Calciummangel.
Opfer von Gewalt, auch sexueller Gewalt, haben maximalen Stress erlebt! Auf Nachfragen bei meinen Patienten stellte sich heraus, dass 16 % Missbrauch erlebt haben. Im Laufe der Zeit stieg die Zahl der Patienten an, die sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren. Ich führe das zurück auf die zunehmende Vertrauensbildung mir gegenüber, aber auch auf die Aufklärungsarbeit. Die Therapeuten haben bei einem Missbrauchsfall körperliche Beschwerden als Auslöser einer Fibromyalgie erkannt und ließen sich dies von mir bestätigen.
Bezugnehmend auf das Vulnerabilitäts-Stress-Modell, also die Empfindlichkeit des Menschen und damit zusammenhängend die Anfälligkeit zu erkranken, entwickelt nicht jeder, der Stress oder ein Trauma erlebt hat, eine Krankheit. Allerdings entwickeln ungefähr 30 % der Betroffenen durch eine posttraumatische Belastung eine Erkrankung.
Natürlich gibt es auch noch andere Stressauslöser: Scheidung, Alkoholkonsum des Partners, Verlust des Arbeitsplatzes, auch Pflege von Angehörigen kommt häufig vor. Permanente Überforderung und Überlastung können ganz wesentlich das Krankheitsbild der Fibromyalgie „speisen“.
Ich hatte auch einige Patienten dabei, die mindestens fünf bis sieben vorangegangene klassische Operationen hatten und auch dies kann, durch die damit verbundene Überlastung, zu diesem Krankheitsbild führen. Es stellt sich vielleicht die Frage – wie bei dem Huhn und dem Ei – was war zuerst da? Vielleicht hat man sie operiert, weil man übersehen hat, dass sie eine Fibromyalgie haben. Aber viele der Betroffenen haben erklärt, dass sich die Fibromyalgie erst hinterher gebildet hat.
Bei allen Schmerzpatienten ist es wichtig, dass sie entsprechend behandelt werden und dies wegen der Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses. Langanhaltende und starke Schmerzen werden im Körper „gespeichert“. Dadurch entstehen ein Schmerzgedächtnis und ein Teufelskreis, aus dem man nur schwer entrinnen kann.
Das rechtzeitige Erkennen einer Schmerzsensibilisierung ist sehr wichtig und ich habe spezielle Tests hierfür entwickelt.
Die Tenderpointmessung ist nicht mehr so gebräuchlich, teilweise wird sie aber wieder aufgegriffen in einem größeren Umfang (QUAST). Bei der quantitativ-sensorischen Messung sind die Tenderpoints3 hier immer noch dabei, nur wird zusätzlich die Kälte- und Wärmeempfindlichkeit, Vibrations-, Berührungsempfindlichkeit, also Unterscheidungsvermögen zwischen spitz und stumpf etc., getestet.
Es gibt Fibromyalgie-Patienten, die in der Tat Probleme mit Nähe haben. Das heißt, sie halten es kaum aus, wenn der Arzt oder Therapeut in kurzer Entfernung von Ihnen entfernt steht. Sie bekommen dann schon Gänsehaut oder äußern Schmerz. Hier ist die Komponente ganz stark im psychischen Bereich, wahrscheinlich überwiegend ausgelöst durch Gewalt oder sexuellen Missbrauch. Jede körperliche Nähe wird als schmerzhaft empfunden, dies trifft aber nicht auf viele Fibromyalgie-Patienten zu! Meines Erachtens höchstens 5-10 % der Betroffenen. Den meisten Patienten hilft es, wenn man sie auf die kommende Berührung richtig vorbereitet, angefangen von der Lymphdrainage bis Streichelmassage. Es gab sogar Überlegungen (ähnlich wie ich es mit den ganz dünnen Akupunkturnadeln mache) Patienten ganz sanften Reizen auszusetzen. Das ist zum Beispiel mit einem Seidentuch möglich, um die Haut-Berührungs-Empfindlichkeit wieder zu normalisieren. Oder auch – wie Professor Lehmann vorgeschlagen hat – mit 33° C warmen Bädern, damit die Haut mit ganz angenehmem Wasser in Berührung kommt. Vielen Patienten mit Fibromyalgie helfen diese sanften Behandlungen. Wenn man zum Beispiel bei einer Massage den Druck wieder zu stark erhöht, empfinden diese Patienten wieder mehr Schmerz.
Bei den Recherchen fällt auf, dass viele Fibromyalgie-Patienten Probleme mit der Schilddrüse haben. Können Sie das bestätigen?
Bei meinen laborchemischen Untersuchungen kamen oft das Hashimoto-Syndrom (eine Autoimmunerkrankung, die zur chronischen Entzündung der Schilddrüse führt) sowie die Pankreatitis (Entzündung der Bauchspeicheldrüse) heraus. Hypoparathyreoidismus (Nebenschilddrüsenunterfunktion) und Hypokalzämie (abnorm niedriger Kalziumgehalt des Blutes) zeigten sich auch häufig. Normalerweise haben nur ca. 3 % der Patienten die eben erwähnten Erkrankungen. Überproportional viele meiner Fibromyalgie-Patienten, also 15-20 %, waren jedoch hiervon betroffen. Auch dies werte ich als Beleg dafür, dass körperliche Prozesse zur Fibromyalgie beitragen.
Metakognition und Multimodale Therapie: Erklären Sie bitte, welche Zusammenhänge es hier bei der Behandlung der chronischen Schmerzpatienten gibt?
(Quelle: www.aerzteblatt.de/archiv/48264)
Metakognition ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken. Ich würde in diesem Zusammenhang eher von kognitiver Verhaltenstherapie sprechen. Es zeigen sich häufig negative Gedankengänge, das Katastrophendenken, wie „Es wird ja immer schlimmer! Es vernichtet mein Leben! Warum jetzt? Warum immer ich?“ Es gibt Techniken, um die Gedanken, die zu einer gefühlten Abwärtsspirale führen, zu korrigieren, damit das Beschwerdebild nicht noch verschlimmert wird. Die kognitive Verhaltenstherapie kann auch dazu genutzt werden, dass anaerobe Ausdauertraining zu erhalten. Ich meine damit, wenn der Patient den Schmerz gefühlsmäßig nicht verarbeiten kann, diesem zumindest verstandesgemäß entgegenzuwirken.
Die multimodale Therapie ist mittlerweile eine Standardtherapie bei den chronischen Schmerzpatienten geworden. Es ist kein Einzelverfahren, wie die Metakognition, sondern ein vorgegebenes, schematisiertes Verfahren über drei Wochen, das oft im stationären Rahmen angeboten wird. Hierbei arbeiten Schmerztherapeuten, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Sportlehrer und idealerweise noch Sozialmediziner zusammen. Obwohl dieses Verfahren qualitätsgeprüft ist, sind hier die Unterschiede in den qualitativen Angeboten sehr groß. Hier wäre es sinnvoll, spezielle Schulungen für Fibromyalgie-Patienten zu geben – auch meine ich sind hier drei Wochen zu kurz: Bei diesen Patienten sind fünf Wochen hilfreicher, da gerade wegen der Fibromyalgie einiges langsamer geht.
Bitte nehmen Sie Stellung zu folgenden Aussagen:
a) Bei der Recherche für mein Buch habe ich folgende Aussage von Stefanie Füßner (zertifizierten Psychologischen Beraterin für Homöopathie & Alternativmedizin, gelesen: „Grundsätzlich trägt man den Gendefekt Fibromyalgie seit Geburt in sich“
b) Während einer Infoveranstaltung einer Klinik im Ruhrgebiet wurde den Zuhörern gesagt, dass es familiäre Häufungen, also eine Veranlagung zur Fibromyalgie gibt. Zudem wurde gesagt, dass die Fibromyalgie „Weichteilrheumatismus“ ist. Hier wurde Fibromyalgie als „die Krankheit der fleißigen, gewissenhaften Leute“ bezeichnet.
(Auch in den aktuellen Leitlinien von 03/2017 steht unter „Ursachen des FMS“, dass FMS gehäuft in Familien auftritt)
Zu a) In meinen Augen ist diese Aussage nicht richtig. Wir haben in unserem Arbeitskreis in Hannover darüber gesprochen, haben die Genetik analysiert. Wir haben z.B. gesehen, dass es bestimmte genetische Muster zu geben scheint. Es wurde aber auch geprüft, wie dies bei Amerikanern, Japanern, Afrikanern aussieht und da waren alle Besonderheiten wieder aufgelöst. Das heißt, die genetischen Muster, von denen vermutet wurde, dass sie maßgeblich zur Fibromyalgie beitragen, gab es in anderen Völkern nicht. Diese hatten wieder andere Muster. Man kann nicht von einem Gendefekt sprechen, der zur Fibromyalgie führt.
Natürlich kann man sagen, dass eine reduzierte Resilienz (Widerstandskraft) eine geringere Stressbelastung mit sich bringt. Dies ist diffus in der Genetik verankert. Bei den Nachkriegskindern, deren Eltern die Kriegsschrecken wie Flucht erlebt haben, sieht man, dass über die Eltern an die Kinder durch ihre Vorbildfunktion nicht nur Psychosoziales und Krankheitsverarbeitung weitergegeben wird, sondern einschneidende Erlebnisse wie Träume, Angst und Schock epigenetisch weitergegeben wird. Unter epigenetisch verstehen wir Eiweiße, die um die Gene herumliegen und gewisse Veränderungen durchlaufen, die drei bis vier Generationen anhalten können, bis sie sich zurückbilden. Dieses spielt schon eine Rolle, es aber als Defekt zu sehen ist eindeutig falsch.
Zu b) Ich habe schon häufiger gelesen, dass die Fibromyalgie als Weichteilrheumatismus bezeichnet wird. Auch habe ich von drei bis vier Fällen gehört, dass eine familiäre Häufung vorlag. Hier denkt man schon zweigleisig: Ob es eine genetische (Veranlagungs-) Komponente gibt – dies ist kein Defekt! – oder ob es ein transgenerationales Trauma (unbewusste Übertragung an die nächsten zwei oder drei Generationen) ist. Ich achtete darauf, ob die Betroffenen eventuell Mütter sind, die Stress weitergeben. Dies sehe ich aber nicht häufig. Oft sind die Fibromyalgie-Patienten eher zurückgezogen, gutmütig, fleißig und gewissenhaft. Eigentlich sind sie die “Durchhalter“, die aber ab einem gewissen Punkt nicht „Nein“ sagen, sondern tatsächlich versuchen durchzuhalten und dann mit dem Körper „büßen“. Solch ein „Fehlverhalten“ kann durchaus an die Kinder weitergegeben werden. Es erscheint dann zwar „wie vererbt“, ist aber von den Eltern durch einen mehr oder weniger bewussten, langandauernden Lernprozess erworben.
Viele Fibromyalgie-Patienten erzählen, dass sie oft erst monatelang von einem Arzt zum anderen geschickt werden – also einen Ärztemarathon hinter sich haben, bevor sie zum Schmerztherapeuten überwiesen werden. Es ist aber bekannt, dass ein Schmerz, der länger als sechs Monate andauert, als chronisch bezeichnet werden kann. Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit diesen Patienten eher geholfen wird?
Anfangs war es tatsächlich so, dass bis zur Diagnosestellung teilweise fünf bis zu zehn Jahre vergangen sind. Mittlerweile geht das schneller.
Bei meiner letzten Tätigkeit in einer Allgemeinpraxis war schon auffällig, dass sich unter hunderten Patienten tatsächlich drei bis vier unerkannte Patienten mit Fibromyalgie befanden, häufig mit Diagnosen, die eher auf die psychische Ebene gestellt wurden und weniger auf die Schmerzebene. Erkenntlich häufig an den vielen verschriebenen Massagen, aber ohne nachhaltige Verbesserung.
Ich habe mich auch sehr mit der Früherkennung der Fibromyalgie beschäftigt. Screening-Tests wären durchaus möglich. Darüber habe ich mich mit Dr. Jochen Lautenschläger4 unterhalten. Ich fragte ihn, welche der Tenderpoints er nehmen würde, wenn er nur zwei für den Screening-Test machen dürfte. Er nannte hier die Punkte im Brustbereich neben dem Brustbein. Ich überprüfte dies und bei all meinen Fibromyalgie-Patienten waren diese Punkte positiv! Wenn also ein Arzt im Rahmen der Gesundheitsuntersuchung diese als druckschmerzhaft identifiziert, sollte er diese Patienten einem Spezialisten vorstellen. Dieser Test dauert nicht lange, wäre aber zur schnelleren Diagnosestellung hilfreich.
(Anm. d. V.: Auf Nachfrage bei Dr. Lautenschläger, gab er an, dass er es grundsätzlich nicht für gut befindet, nur zwei Punkte zu testen. Hierdurch könne das Fibromyalgie-Syndrom nicht korrekt von anderen Krankheiten unterschieden werden. Lokale Schulterprobleme können auch dazu führen, dass die Tenderpunkte im oberen Brustbereich positiv reagieren.)
Des Weiteren könnte man die einfache Blutdruckmessung als Screening-Test verwenden. Wenn ich eine Blutdruckmessung mache und die Manschette auf einen Druck von 200mm/Hg aufblase und der Patient eine Schmerzreaktion zeigt, muss man an eine Schmerzsensibilisierung oder Fibromyalgie denken.
Haben Sie Erfahrungen mit der Klopftherapie? Eine Anleitung zur emotionalen Selbsthilfe von Michael Bohne lautet „durch Klopfen der Akupunkturpunkte lassen sich belastende, unangenehme Phasen gut angehen“ (Bitte klopfen, Carl-Auer-Verlag). Diese Therapie wird mit den Schmerzpatienten in einem Dortmunder Krankenhaus geübt und zur Selbsthilfe empfohlen.
Das „Tapping“, aus dem Englischen: Klopfen, ist eine Therapie, die aus der Traumatherapie entstanden ist. Eine gute, auch sanfte Methode, die man als „Skill-Methode“ in begrenztem Rahmen selbst anwenden kann. Es müssen aber nicht unbedingt nur die Akupunkturpunkte sein. Wie bereits erwähnt, habe ich mich von dem klassischen Akupunkturmodell bei der Fibromyalgie etwas verabschiedet. Hier spielt Selbstwahrnehmung eine größere Rolle, das heißt, „sich am eigenen Körper wohlwollend einfinden“. Wichtiger, als genau die klassischen Akupunkturpunkte zu treffen, ist eher die Regelmäßigkeit sowie das Wohlfühlen und Hinlenken der Aufmerksamkeit auf die Klopftherapie.
Seit März 2017 gibt es neue Leitlinien zur Fibromyalgie. Sehen Sie hierdurch große Veränderungen für die Patienten?
--Ich habe die alte Patientenversion mit der neuen verglichen und fand folgende Veränderungen: Unter Top Ursachen wurden die entzündlich-rheumatischen Erkrankungen zugefügt. Bei den Basislaboruntersuchungen ist der Vitamin D Spiegel zugefügt worden. Unter dem Punkt 5 „Wann soll der Facharzt hinzugezogen werden?“ ist zusätzlich die Nervenschädigung aufgezeigt worden. Zusätzlich ist ein Neuroleptikum „Quetiapin“aufgeführt und erklärt worden –
Die entzündlich - rheumatischen Erkrankungen hat ein Spezialist für Fibromyalgie immer mit im Fokus. Sehr viele meiner Fibromyalgie-Patienten hatten schon eine vorhergegangene, rheumatologische Ausschlussdiagnostik. Dieser Zusatz gehört natürlich mit hinein. Wenn man dies als Ursache sieht, dann muss man von einer sekundären Fibromyalgie sprechen. Zur Fibromyalgie gehört mehr dazu, wie zum Beispiel die Erschöpfung, der Reizdarm und andere typische Syndrome.
Bei den Basislaboruntersuchungen gehört natürlich der Vitamin DSpiegel dazu. Eine Kölner Kollegin hat herausgefunden, dass ein zu geringer Calcium- und Kaliumgehalt diesen Mangel auslöst. Daneben besteht schon wegen der Osteoporosegefahr durch Inaktivität die Notwendigkeit den Vitamin D-Spiegel zu bestimmen.
Ein Großteil der Ärzte lehnt diese Erkrankung immer noch ab. Die Fachärzte aus den verschiedenen Gebieten (Rheumatologen, Orthopäden, Psychiater, Internisten, Gynäkologen und Allgemeinärzte), die die Patienten mit Fibromyalgie behandeln, sollten auf jeden Fall Ärzte sein, die über die Zusatzqualifikation der speziellen Schmerztherapie verfügen. Der richtige Weg ist die multimodale Schmerztherapie, da hier ein Ärzteteam aus Orthopäde, Rheumatologe, Internist, Psychiater und Psychologe zusammenarbeitet und auch eine Nachbetreuung gewährleistet ist.
Was halten Sie von der Aussage, dass Partner die besten Therapeuten sein sollen?
Eine gute Partnerbeziehung ist schon viel wert. Der beste Therapeut, im Sinne der Metakognition, ist aber immer noch der Patient selbst, also die Selbststeuerung. Dies bedeutet, der Patient muss sehr viel Verantwortung für sich selbst übernehmen - in dem, was er tut und wie er gedanklich mit seiner Erkrankung umgeht.
Bei der Fibromyalgie leiden viele Betroffene unter anderem unter Muskelschmerzen, ähnlich denen eines Muskelkaters. Weisen Beschwerden wie komplette Muskelverspannungen auf eine andere Erkrankung hin?
In der Tat, Muskelverspannungen sollten von der Fibromyalgie getrennt werden. Die Diagnose hierfür lautet Muskelskeletttales Verspannungssyndrom. Bei der körperlichen Untersuchung ist bei diesen Patienten die Muskulatur manchmal bretthart und es sind schmerzhafte erbsengroße Myogelosen (Muskelknötchen) zu tasten. Bei Fibromyalgie-Patienten ist die Muskulatur in der Regel weich. Myogelosen sind eher die Ausnahme, können aber im Schulter-Nackenbereich auch bei Fibromyalgie-Patienten vorkommen. Bei dem reinen Muskelskeletttalem Verspannungssyndrom ist im Unterschied zur Fibromyalgie das Bindegewebe nur wenig schmerzhaft, auch fehlt die generelle Hypersensibilität für Kälte, Wärme, Gerüche, Lärm (Hyperacusis). Die Unterscheidung ist wichtig, weil sich auch die Behandlung in vielen Punkten unterscheidet. Beide Krankheitsbilder können sich aber gelegentlich auch überlappen.
Haben Sie bei der Behandlung der Fibromyalgie-Patienten unter den Symptomen ständige Müdigkeit, Erschöpfung oder vermehrt auch CFS/ MCS (engl. Chronic Fatigue Syndrom, dt. Chronisches Müdigkeits-Syndrom/ engl. Multiple Chemical Sensitivity, dt. Chemische Sensibilität) feststellen können?
Es ist fast regelhaft bei über 90 % der Fibromyalgie-Patienten eine vermehrte Müdigkeit und Erschöpfung festzustellen. Auch haben wir es bei den beiden Krankheitsbildern mit einer erheblichen postexpositionellen Erschöpfung zu tun. Schon bei leicht überdurchschnittlichen Haltungen kommt es zur mehrtägigen Kraftlosigkeit, die nur in beschränktem Maße auf ein aerobes Training anspricht. CFS/MCS-Patienten geben aber keine Schmerzen an. Fast immer werden von diesen Patienten ein ausgiebiger Konzentrationsmangel und geistige Erschöpfung angegeben (Brainfog). Diese Personen sind häufig auch leicht untergewichtig und klagen gelegentlich über erhöhte Körpertemperatur und Lymphknotenschwellungen. Mitunter ist es schwer beide Erkrankungen auseinanderzuhalten. Insoweit betrachte ich die CFS-Erkrankung fast regelhaft der Fibromyalgie-Erkrankung zugehörig.
Stimmen Sie der Aussage zu, dass es sich bei der Fibromyalgie um „einen Defekt, der die Ausscheidung von Phosphat verhindert“ handelt? (https://www.zentrum-der-gesundheit.de/fibromyalgie-guai-fenesin-therapie-ia.html)
Sicherlich gibt es bei dem Hyperparathyreoidismus – eine Regelungsstörung der Epithelkörperchen; die gekennzeichnet ist durch eine vermehrte Bildung von Nebenschilddrüsenhormon, welches den Calciumspiegel im Blut reguliert – eine Veränderung in der Phosphatsausscheidung. Aber das betrifft nur eine ganz spezielle, kleine Gruppe der Fibromyalgie-Patienten. Man sollte dies in der Differenzialdiagnose mit einbeziehen, also den Calciumphosphat-Stoffwechsel zusammen mit dem Parathormon bestimmen. Ebenso sollte aber auch der Cortisonstoffwechsel im Auge behalten werden.
Eine Rheumatologin sagte mir, dass sich die Fibromyalgie in eine sekundäre und eine primäre Form unterteilt. Ist es zwingend notwendig für eine erfolgreiche Therapie nicht nur herauszufinden, welcher Gruppe, sondern welcher Untergruppe der Fibromyalgie-Patient zugehört? Nach Thomas Stratz und Wolfgang Müller5 wird die primäre Fibromyalgie in vier Untergruppen unterteilt:
1) ohne Depression, 2) mit begleitenden reaktiven Depressionen, 3) mit begleitender endogener depressiver Komponente, 4) mit somatoformer Schmerzstörung)
Für die Fibromyalgiebehandlung ist eine Unterteilung nicht zwingend erforderlich. Bei der sekundären Form sollte man natürlich die zugrunde liegende Erkrankung erkennen und, wo Behandlung nötig ist, auch einleiten. Beispiel: Liegt eine Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis vor? Wenn ja, in welchem Stadium und muss es behandelt werden oder noch nicht? Dann muss man das Schmerzgeschehen etwas abkoppeln.
Ich selbst habe die primäre Fibromyalgie nicht in vier Untergruppen unterteilt, aber ich schätze diese Zuordnung!
Zu Gruppe 1: Das ist eine gute Einteilung, denn leider gab es lange Zeit Psychotherapeuten, die sagten, dass diese Erkrankung nichts anderes als eine lavierte Depression sei.
Zu Gruppe 2: Aus bestehender Krankheit heraus, z.B. durch Arbeitsverlust, hat sich sekundär eine Depression entwickelt.
Zu Gruppe 3: Es gibt einige Patienten, die aus der klassisch lavierten Depression kommen. Also zuerst ist die Depression aufgekommen und erst Jahre später kam die Fibromyalgie hinzu.
Zu Gruppe 4: Dies sehe ich auch so. Auch diese Einteilung ist sinnvoll. Ich würde aber noch zusätzlich die einfache Form der Hyperschmerzsensibilität mit aufführen.
In Ihrem Bericht unter Punkt 3 “Die medikamentöse Therapie“ schreiben Sie, dass Reduktionsraten bezüglich der Schmerzen von 10–30 % realistisch, aber 50 % und mehr wünschenswert sind. Sind dies noch aktuelle Erfahrungswerte?
Die Zahlen hören sich natürlich enttäuschend an. 10–30 % Reduktion durch medikamentöse Therapie sollte auch ein Hinweis darauf sein, wie wichtig die Metakognition, also das Schmerzbewältigungsverfahren, ist. Wie wichtig der Umgang mit den eigenen Schmerzen ist, Dinge wie das aerobe Ausdauertraining und vegetative ausgleichende Bäder.
Letztendlich bedeutet diese Botschaft, dass die Wirkung der Medikamente nicht so ausgeprägt ist, wie wir uns das alle wünschen. Der Wert 30 % beruht auf der Aussage eines Fachkollegen, dass eine Schmerztherapie, die weniger als 30 % Schmerzbesserung bringt, überdacht und gegebenenfalls gestrichen werden sollte. Wenn ich beispielsweise Opiate gebe und der Patient statt der Schmerzstärke NRS = 10 nun eine Schmerzstärke NRS = 7 hat, das aber „erkauft“ ist mit vielen Nebenwirkungen wie beispielsweise Impotenz, Mundtrockenheit, unscharfes Sehen, missmutige Verstimmung und Verstopfung. Nach Argumentation dieses Fachkollegen ist hier der Nutzen fragwürdig, da sich die konkret aufgetretenen Nebenwirkungen zu ungünstig auf das Gesamtbild der Beschwerden auswirken.
Ich habe auch eine Reihe von Fibromyalgie-Patienten gesehen, die fünf oder mehr Medikamente zu sich nehmen und sagen: „Ich nehme doch alles!“ Da entsteht natürlich die Frage, ob es denn durch die Einnahme dieser ganzen Medikamente überhaupt besser geworden ist. Manchmal wird ganz vergessen nachzufragen. Deswegen habe ich jetzt 10-30 % geschrieben, weil ich etwas mehr „die Tür aufmachen wollte“, also auch für leichte Besserungen. Aber selbstverständlich wünsche ich mir die 50 %. Diese 50 % Schmerzbesserung stellt sich vereinzelt ein, allerdings eher bei der sekundären Fibromyalgie.
Sie haben positive Erfahrungen mit der Verordnung von Fluoxetin gemacht und schreiben, dass es aktivierend und gewichtsreduzierend wirkt. Im Optimisten vom April 2016 war von „Wechselwirkungen von Medikamenten“ zu lesen. Sogar von einem „Todesfall durch Arzneimittelwechselwirkung in der Psychiatrie“ (Preskorn und Baker 1997, JAMA). Bei einem depressiven Patienten sei es zum Tod durch Herzstillstand wegen der toxischen Konzentration von Amitryptylin im Blut gekommen. Der Patient nahm Amitryptylin und Fluoxetin. Was sagen Sie dazu?
Bei meiner Studie kam heraus, dass viele Patienten klein und übergewichtig sind und das Fluoxetin eins der wenigen Antidepressiva ist, das gewichtsreduzierend und aktivierend wirkt. Dies ist der Grund, warum ich Fluoxetin bevorzuge.
Meines Erachtens sollte Amitryptylin in Dosierungen in den Größenordnungen, wie es bei schwer depressiven Patienten unter Umständen erforderlich ist, von 200 mg/ Tag unbedingt stationär und unter regelmäßiger EKG-Kontrolle eingestellt werden. Wir bewegen uns hier aber bei der Fibromyalgiebehandlung mit Fluoxetin im Dosierungsbereich bei ungefähr 10–50 mg, das ist maximal nur ein Viertel der Dosierung wie bei depressiven Patienten. Wir geben das Fluoxetin auch nicht wegen einer „Depression“, sondern weil Amitriptylin erregungshemmend wirkt und so die Schmerzen lindert und zugleich den Schlaf verbessert. Eine höhere Dosierung als 75mg/ Tag sollte man ambulant nicht einstellen.
Ist in dem vor Behandlungsbeginn abgeleiteten Elektrokardiogramm (EKG), die QT-Zeit größer als 130 % der normalen QT-Zeit, sollte eine Behandlung mit Tricyclica unterbleiben. Insbesondere bei höheren Dosierungen kommt es bei einigen Patienten zu einer Verlängerung der QT-Zeit. Diese Verlängerung kann gefährliche Herzrhythmusstörungen auslösen. Infolgedessen sollte nach dem Beginn einer Behandlung und bei jeder Höherdosierung mit Antidepressiva erneut eine EKG-Kontrolle durchgeführt werden. Diese Erscheinung ist umso häufiger, je höher die Dosierung des Antidepressivums ist. In der Schmerztherapie werden relativ niedrige Dosierungen verordnet, so dass diese Erscheinung recht selten ist. Ich habe nur einmal an über zweihundert Patienten erlebt, dass ich wegen dieser QT-Zeit-Verlängerung, die schon zu Beginn der Behandlung relativ hoch war, das Amitriptylin absetzen musste. Ein plötzlicher Herztod bei Fibromyalgie-Patienten ist mir nicht zu Ohren gekommen. Trotzdem sollte auf diese Gefahr geachtet werden.
Wenn man Medikamente kombiniert, gibt es Wechselwirkungen: Durch die Hemmungen der Abbauwege kann es zu Spiegelerhöhungen kommen. Dies kann schon mal eine Verdoppelung des Spiegels bedingen. Es gibt einzelne Fälle, wo das bis zu siebenfache der Konzentration gemessen wurde, aber das waren depressive Patienten, die in der Regel eine sehr hohe Dosierung haben. Da bewegen wir uns in einem Bereich, wo die Patienten in einer psychiatrischen Klinik sind, in der regelmäßig ein Kontroll-EKG gemacht wird, bis der Patient richtig eingestellt ist.
Diese hohe Dosierung betrifft nicht die Fibromyalgie-Patienten. In meiner Praxis habe ich Antidepressiva in einer Dosierungshöhe von maximal 50 mg verordnet.
Fibromyalgie-Patienten reagieren übersensibel auf Medikamentennebenwirkungen, z. B. mit Mundtrockenheit. Bezugnehmend auf die Unverträglichkeit von starken Schmerzmitteln vermute ich, dass bei den Fibromyalgie-Patienten eine Störung bei den „Abbauwegen“ vorliegt. Deswegen sollte der behandelnde Arzt, wenn man sich zu solch einer Therapie entschließt, zuerst sehr niedrig dosierte Retardpräparate geben. Natürlich sollte man hier dem Fibromyalgie-Patienten vermitteln, dass, wenn eine Medikamentenüberempfindlichkeit vorliegt, mit paradoxen Auswirkungen zu rechnen ist und deshalb eine Therapie nur so „ungefährlich“ gestaltet werden kann, indem man mit niedrigsten Dosierungen anfängt.
Zwischenzeitlich hat sich eine Therapie mit Citalopram und Novalgin am wirksamsten gezeigt. Bei starken Erschöpfungszuständen setze ich auch noch Elontril ein.
In Ihrem Vortrag haben Sie auch erwähnt, dass Ihnen der Privatdozent Winfried Häuser mitteilte, zum Thema „Glutenarme Kost“ würden in einigen Kliniken aktuelle Studien laufen. Haben Sie bereits Ergebnisse aus diesen Studien erfahren?
Professor Ulrich Egle, einer der bekanntesten Psychotherapeuten und Autor des Buches „Schmerztherapie“, war Mitglied im Komitee der Bundesregierung über die psychische Entwicklung der Jugend. Er hat viel über Stress, Stressvulnerabilität, Missbrauch etc. geforscht. Er hat auch die Fibromyalgie als Stresserkrankung vorwärtsgebracht. Er wurde Chefarzt in einer Klinik im Schwarzwald und bezog auch die somatische Medizin mit ein. Herr Professor Egle hatte mir einmal gesagt, dass in seiner Klinik mit der glutenfreien Ernährung und Glutendiagnostik bei Fibromyalgie-Patienten, Untersuchungen durchgeführt werden. Leider habe ich über weitere Ergebnisse dieser Untersuchungen nichts erfahren können.
Aus meiner Sicht spielt das Gluten bei Fibromyalgie-Patienten, die gleichzeitig das Reizdarmsyndrom, also eine abdominelle Symptomatik haben, eine große Rolle. Bei den Reizdarmpatienten ist natürlich eine Darmspiegelung wichtig, um Erkrankungen wie Morbus Crohn auszuschließen.
Wird dies ausgeschlossen, ist es bei dieser einen Untersuchung zu belassen. Reizdarmpatienten sind schnell beunruhigt über diesen Zustand und möchten dann gern noch ein 2., 3., 4. Mal eine Spiegelung machen lassen, um zu wissen, ob noch etwas zu finden ist. Für diesen Krankheitsverlauf ist es günstiger nur einmal zu spiegeln, um die Diagnose zu stellen. Der Reizdarm funktioniert ähnlich wie die Fibromyalgie: Wenn man beispielsweise Darmschlingen durch Anlegen eines bestimmten Druckes dehnt, treten bei einem Gesunden gar keine Beschwerden auf. Ein Reizdarmpatient dagegen gibt Schmerzen an, eine Schmerzinduktion ähnlich wie wir sie bei den Tenderpoints haben. Wenn man also testet, ob diese Patienten Glutenantikörper haben, findet man in der Tat bei 60–70 % solche Antikörper gegen diesen Mehlkleber. In diesem Fall ist eine glutenreduzierte Kost zu empfehlen.
Hier kommt die Cross-Over-Technik wieder ins Spiel. Um zu beweisen, dass das Gluten unter Umständen ein ungünstig wirkendes Agens (Anm. d. V.: Ungünstig wirkende Substanz) für den Reizdarm und die Fibromyalgie ist.
Die Italiener haben aufgrund ihres hohen Konsums an Pasta auf diesem Gebiet schon recht viel geforscht und haben festgestellt, dass das Gluten einen ähnlichen Aufbau wie das Muskeleiweiß hat. Ein Grund, warum viele die Glutenunverträglichkeiten haben und parallel zu den Darmbeschwerden auch Muskelschmerzen bekommen. Dies war nun die Grundlage dafür, eine Gluten-Auslass-Diät zu machen. Aus meiner Sicht ist dies für die Fibromyalgie-Patienten, die auch noch das Reizdarmproblem haben, sehr nützlich.
Man hat auch gesehen, dass noch andere Eiweißstoffe, aber auch die Art der Zubereitung, eine große Rolle spielen. Um Brötchen lockerer und fluffiger zu machen, muss man den Kleberanteil erhöhen und Enzyme dazu geben. Vom Vorsitzenden der Landwirtschaftskammer habe ich erfahren, dass der einheimische Weizen zunehmend aus der deutschen Landwirtschaft verschwindet und man den amerikanischen Weizen anpflanzt. Der weist einen deutlich höheren Eiweißanteil auf und bietet bessere Teigbackeigenschaften. Also haben wir hier noch mal eine Erhöhung der Eiweiße, die Überempfindlichkeiten generieren und auch allergisierend wirken.
Einige Patienten vertragen Weizenprodukte vom Biobauern besser. Es gibt durchaus Weizenprodukte, die besser vertragen werden, wie z. B. das Graham-Brot. Das sind in traditioneller Backweise natürlich hergestellte, geschrotete Brote. Sie enthalten Weizen, aber ohne die negativen Effekte. Gluten in Backwaren kann durch Erwärmung reduziert werden, beispielweise indem man es toastet. So verliert das Gluten etwas seine den Körper reizenden Eigenschaften.
Dass dies die Gastroenterologen in überwiegender Zahl anders sehen, liegt daran, dass es eine sehr ernst zu nehmende ähnliche Erkrankung gibt: Die Zöliakie. Sie ist handfest schulmedizinisch mit einer nachweisbaren Zottenatrophie6 zu erkennen. Bei einer Endoskopie kann man nur diese schwere Form, aber nicht die leichte Form der Glutenüberempfindlichkeit sehen.
Bei Patienten mit einer Glutenüberempfindlichkeit – also keine richtige Allergie– wird das „System“ überreizt. Hier findet man eventuell beim Gastroskopieren im Stuhl Antikörper bzw. im Blut, aber man sieht im Gastoskop keine auffälligen Befunde! Deshalb meinen viele Gastroenterologen, dass es die Glutenüberempfindlichkeit nicht gibt, sondern es sich um psychosomatische Erscheinungen handelt (Syndrom X). Vom Reizdarm wissen wir, dass eine starke psychische Komponente eine große Rolle spielt. Es wird dann schnell gesagt, dass die Patienten essen sollen, worauf sie Lust haben und eher zum Psychologen gehen sollten. Meiner Meinung nach ist dies nicht der richtige Weg. Sicherlich kann man beim Reizdarm kognitive Verhaltenstherapie etc. durchführen, aber man sollte auch an das Gluten denken oder auch an verschiedene Zucker wie Laktose, Fruktose oder Sorbit. Zu viel Zucker kann auch Bauchgrummeln bis starke Beschwerden machen.
Es ist wichtig, dass der Patient während der Therapie sein ganzheitliches Befinden mitteilt. Also nicht nur berichtet, ob sich die Schmerzen gebessert haben, sondern auch, ob sich der Schlaf verbessert hat. Ob der Patient beweglicher geworden ist oder er sich wieder besser konzentrieren kann. Deshalb ist es richtig, die fünf schlimmsten Hauptbeschwerden zuerst aufzuschreiben und dann zu quantifizieren. Dies bedeutet, zu beobachten, wie der Verlauf dieser Beschwerden während der Therapie ist.
Für manche Kollegen ist dies zu viel. Der Psychologe fragt nach den Stimmungen, der Gastroenterologe sieht die Darmreizungen, der Schmerztherapeut fragt nach dem Schmerz. Aber nach gravierenden Beschwerden wie der Erschöpfung, postexpositionellem Verhalten, Schlafqualität, Muskelkatergefühl und Konzentrationsstörungen, wird nicht nachgefragt und sie werden nicht dokumentiert. Viele Ärzte, die das Krankheitsbild nicht so gut kennen, sind schnell überfordert. Für Fibromyalgie-Patienten ist es sehr wichtig, ganzheitlich betrachtet und behandelt zu werden.
Ich sehe noch einen großen Bedarf an einer qualitätsgesicherten Diagnose und Behandlung.
Patienten berichten von einer durchlaufenen Neuraltherapie mit positiven Ergebnissen. Ist diese Behandlungsform unter den komplementärmedizinischen Verfahren einzuordnen?
Ja, diese Verfahren habe ich auch kennengelernt. Bis in die Neunzigerjahre wurde diese Therapie mit Lokalanästhetika sehr häufig angewandt, danach ist sie aber etwas verschwunden, weil eine große Trendwende in der Medizin kam. Es wurde wegen der zahlreichen Nebenwirkungen nicht mehr so viel gespritzt. Ich selbst habe davon allerdings kaum etwas gesehen.
Es ist eine Veränderung der Vorgaben und Abrechnung erfolgt, deshalb wurde die Neuraltherapie rückläufig angewendet. Nachteil dieser Therapie ist, dass man sie häufig und dauernd anwenden muss. Wie ich schon bei meinen Ausführungen zur Akupunktur aufgezeigt habe, gehört auch der aktive Prozess beim Patienten dazu. Damit meine ich den Umgang mit den Schmerzen. Der Patient kann aktiv an der Schmerzreduktion durch Atmung und „Fließübungen“ im Körper mitwirken. Die Neuraltherapie dagegen ist rein passiv. Der Patient liegt und der Arzt setzt die Quaddeln. Das sind mehrere, kurz unter die Haut gesetzte Spritzen mit Lokalanästhetika, um die betreffende Muskulaturverspannung zu lösen.
Momentan wird viel über den Einsatz von Cannabis diskutiert. Haben Sie bereits Erfahrungen in der Schmerzbehandlung mit Cannabis gemacht? Würden Sie die Verordnung dieses Mittels unterstützen?
Ich habe es schon eingesetzt. Nach der ersten Begeisterung (Placeboeffekt) innerhalb der ersten zwei Monate gab es aber von den Patienten die Rückmeldung, dass sich die gewünschte Wirkung nicht mehr zeigte. Also keine Zunahme der Aktivitäten, keine Abnahme der Schmerzen. Das Problem ist auch, dass Cannabis zu einer Gewichtszunahme führen kann. Nach meiner Statistik sind viele meiner Fibromyalgie-Patienten übergewichtig, deshalb habe ich vom Einsatz des Cannabis abgelassen.
Mittlerweile gibt es neue Formen von Cannabis-Therapien. Hier wird Cannabis mithilfe von Vaporisatoren vernebelt. Dies kann natürlich eine andere Dynamik entfalten.
Cannabis wirkt auch muskelentkrampfend, weshalb es für die Therapie von Patienten mit Multipler Sklerose eingesetzt werden darf.
Meines Erachtens ist es sinnvoll, dass diese neue Cannabistherapie bei der Fibromyalgie-Behandlung mit aufgenommen wird. Gerade bei solch einer Erkrankung, die mit all ihren Symptomen über die Arbeitsunfähigkeit bis zur Berentung führen kann, sollte man sich die Arbeit machen und eine Statistik dazu führen, was sich an Wirkung zeigt. Große Probleme dürfte es aber mit den Krankenkassen geben, die eine Erstattungsfähigkeit von Cannabis bei Fibromyalgie in der Regel nicht anerkennen.
Gibt es zu Ihrem Beitrag vom 19. Fibromyalgie-Tag am 16. Mai 2015 neuere Erkenntnisse?
Meiner Erfahrung nach ist es sehr wichtig, den Vitamin-D-Spiegel nicht nur zu kontrollieren, sondern bei den Fibromyalgie-Patienten auf einen Spiegel von 40–60 Mikrogramm/L einzustellen. Nach neuesten Erkenntnissen sollte man Calcium getrennt von Vitamin D einnehmen. Natürlich ist darauf zu achten, dass Vitamin D mit fetthaltigen Speisen aufgenommen wird.
Die Vitamine A, D, E und K sind fettlöslich, das heißt, sie können nur mit der gleichzeitigen Einnahme von fetthaltigen Speisen im Verdauungstrakt gelöst werden.
Das Vitamin K verbessert die Aufnahme von Eiweiß im Körper und bewirkt eine gute Elastizität der Knochen, während das Vitamin D sich auf Aufbau und Erhalt der Knochen auswirkt.
Auf der medikamentösen Seite würde ich zwischenzeitlich als behandelnder Arzt Citalopram mit Novaminsulfon als Basis-Therapeutika anwenden, da sich beide Medikamente als nebenwirkungsarm erwiesen haben. Wenn das nicht wirkt, dann würde ich den Weg „rückwärts“ gehen. Zum Amitryptilin, zum Fluoxetin – das sehe ich aber eher als „Reserve“.
Neuerdings gehe ich einige Schritte vorwärts, indem ich bei stark erschöpften Patienten Elontril einsetze. Daneben sollte aber auch die ergänzende Medizin zum Zuge kommen. Die wirkstärksten Erfolge habe ich mittels meiner speziellen Akupunktur in Verbindung mit der Awareness Release Technique und sehr speziellen Imaginationstechniken erzielt. Dies setzt allerdings voraus, dass der Patient diese Techniken ebenso wie das aerobe Ausdauertraining weiterhin zu Hause regelmäßig einsetzt.
Herr Dr. Hechler, herzlichen Dank für Ihre Informationen!
Herr Dr. med. Manfred Hechler
Jostesweg 10, 49080 Osnabrück
info@praxis-hechler.de
1 Leitlinien geben Empfehlungen, wie eine Erkrankung festgestellt und behandelt werden sollte und sollen dazu beitragen, dass Patientinnen und Patienten angemessen behandelt und versorgt werden.
2 Wertung des Therapienutzens ist noch offen und wird offengehalten
3 Druckpunkte zur Schmerzdiagnostik; stellen meist Muskel-Sehnen-Ansätze dar
4 Bis zum Renteneintritt April 2021 Chefarzt einer Rheumaklinik in Thüringen
5 Thomas Stratz und Wolfgang Müller: Hochrhein-Institut für Rehabilitationsforschung, Bad Säcking
6 Abflachen der im Normalfall dicht gefalteten Zwölffingerdarmzotten