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1 – Ich bin barfuß und …

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… stehe auf einer Blumenwiese. Ich hebe die Arme und betrachte die Ärmel meines weiten, langen Sommerkleides. Es schmeichelt meinem vollschlanken Körper, der nackt darunter atmet. Seit wann besitze ich ein solches Kleid? Es gefällt mir.

Ich lasse die Arme sinken und sehe mich um.

Vor mir, weit hinten am Horizont, erhebt sich ein Gebirge. Die Bergspitzen liegen versteckt unter ewigem Schnee. Hier, auf der Wiese, ist es sommerlich mild. Die Sonne steht schräg hinter mir und wärmt mich. Ich werfe einen langen Schatten, der beinahe bis ans Ende der Wiese reicht.

In aller Ruhe gehe ich los, Schritt für Schritt, ohne Ziel, wie mir scheint. Nein, ich folge einer merkwürdig unbekannten inneren Eingebung. Sie durchströmt mich ohne Unterlass.

Plötzlich … ein Schrei hallt durch die Luft. Ich zucke zusammen.

»Hilf mir, Silv. Komm her und hilf mir.«

Vor mir, irgendwo vor mir oder unter mir … eine Stimme … ja, unter mir, als würde sie aus dem Erdboden kommen und nach mir rufen.

Aufgeschreckt sehe ich mich um und blicke nach unten. Ich bin mir sicher, diese Stimme zu kennen. Aber kann das sein? Ruft hier Melissa, meine beste Freundin, nach mir?

Doch warum? Und wo ist sie?

Vorsichtig öffne ich den Mund. Ich muss ihr antworten. Und ich stoße ein paar Worte in den menschenleeren Landstrich: »Bist du das, Mel? Wo … wo finde ich dich?«

»Ja, Silv, ich bin es, Mel. Komm. Zehn, zwölf Schritte noch. Hilf mir. Bitte!«

Tatsächlich, die Stimme meiner Freundin. Und … Mel braucht mich.

Rasch springe ich ein paar Schritte vor und bleibe an einer steilen Kante stehen. Ich bin mir sicher, eben war sie noch nicht da.

Vor mir erstreckt sich eine weite und tiefe Schlucht. Vorsichtig sehe ich nach unten. An einem Ast, der eine Armlänge unter mir seitlich aus dem Boden ragt, hält Mel sich mit der rechten Hand krampfhaft fest. Im linken Arm wiegt sie ein in weiße Tücher gewickeltes Baby.

»Hilf mir, Silv.«

»Um Gottes willen, Mel! Bleib ganz ruhig. Ich komme«, schreie ich, falle auf die Knie, auf den Bauch und reiche meiner Freundin die Hand.

»Ruhig, Mel«, rufe ich. »Ich hab dich. Ich ziehe dich hoch. Wir schaffen das, Mel.«

»Nein, Silv, bitte, nimm erst mein Baby.«

»Ja, gib es mir. Aber halte durch.«

Melissa reicht mir das Kleine. Es hat die Augen geschlossen, ist vollkommen ungerührt – es scheint zu schlafen. Vorsichtig lege ich es neben mich auf die Blumenwiese und greife dann rasch und entschieden nach der Hand meiner Freundin.

Geschafft, denke ich. Gleich wird alles gut …

Doch in dem Moment, als ich Melissa hochziehen will, lockert sich der Griff, entgleitet mir meine Freundin und … ein Nachfassen ist unmöglich. Erschrocken sehe ich sie an. Erst jetzt bemerke ich, dass sie nackt ist und es keine Möglichkeit gibt, sie irgendwo anders … Auch scheint es dafür zu spät zu sein. Melissa rutscht.

»Mel, reich mir deine andere Hand«, schreie ich sie an. Ich will nicht glauben, was da passiert.

Merkwürdig in sich ruhend blickt meine Freundin mich an, und sie schüttelt nur den Kopf.

Ich verstehe sie nicht. »Mel, Mel, was passiert hier?«, rufe ich entsetzt.

»Pass auf mein Kind auf, versprich mir das, Silv. Pass auf mein Kind auf.«

»Ja natürlich, aber …«

»Versprich es mir!«

»Ich verspreche es, Mel! Aber … du musst … für dein Baby …«

»Leb wohl, Silv.«

»Nein, Mel. Nein!« Fassungslos blicke ich meine Freundin an, die völlig besonnen scheint, mich sogar anlächelt.

Und dann geschieht es: Melissa rutscht … Meine Hände greifen ins Leere.

»Nein, Mel, nein!«, schreie ich erneut … verzagt und hilflos.

Doch es gibt kein Zurück. Melissa fällt, anfänglich gelassen davonschleichend. Aus scheinbar wunschlosen Augen sieht sie mich an und lächelt noch immer.

Eine letzte Frage gibt es dann doch noch: »Warum ich, Mel? Warum ich?«

»Weil nur du es kannst.«

Und endlich schließt sie die Augen, und ihr Körper verliert sich sogleich in der Tiefe der Schlucht.

Und ich schreie … und schreie …

Sie erwachte, hochgeschreckt vom eigenen Schrei, der sich aus der Tiefe ihrer Seele gelöst hatte und sie jetzt angstvoll und entsetzt, festgekrallt irgendwo an der Wand in der dunkelsten Ecke ihres Schlafzimmers, anstarrte. Wieder einmal. Es war grauenvoll.

Sie erhob sich und schwang die Füße aus dem Bett, die sogleich Halt suchend auf dem Boden aufkamen. Und endlich spürte sie es wieder: das wirkliche Leben. Unablässig strömte es vom Boden durch die Fußsohlen in sie hinein, verteilte sich wie ein warmer Hauch in den Beinen, stieg höher, in den Bauch, in die Brust und erreichte bald schon ihre Gedanken – und ließ sie ruhig werden.

Die surreale Welt dieses schauderhaften Traumes lag hinter ihr. Wieder einmal. Für den Moment.

Seit vielen Jahren, seit ihrer Kindheit, seit sie gesehen hatte, wie erschrocken ihre Mutter auf ihre Träume reagiert hatte, hatte sie keinen solchen Traum mehr durchlebt – zumindest konnte und wollte sie sich nicht daran erinnern. Sie hasste es, dass ihre Mutter vor ihr, vor dem, was sie nach solchen Träumen gesagt und erzählt hat, zurückschreckte. Ihr Sehnen galt der Liebe der Mutter.

Deshalb drängte sie als Kind schon all ihre Träume in ein »finsteres Loch«, wie sie es sich heimlich einredete. Etwas, das ihr anfänglich entsetzlich schwerfiel.

Sicherlich waren Träume auch eine Art Wirklichkeit … eine Art zweite Wirklichkeit. Für Silvana waren sie aber schon immer mehr. Fluch und Segen zugleich. Leider. Sie suchte sich das nicht aus … es war in ihr. Andere Menschen können, ohne zu wissen, warum, schnell rennen oder erlernen in zwei Wochen das Klavierspielen. Oder sie sind in der Lage, herrliche Torten zu kreieren, ohne je ein Rezept gelesen zu haben.

Silvana träumte. Nicht wie andere. Neben ihren eigenen Träumen gab es da Bilder oder gar Visionen von Aufgaben in ihrer näheren Zukunft. Verschlüsselt natürlich. Aber Träume waren ja beinahe immer verschlüsselt. Auch träumte sie von der Vergangenheit anderer Menschen, ohne je dabei gewesen zu sein. Diese Träume waren dann undeutlicher. Realität und Illusion vermischten sich. Und immer waren es Botschaften, Hilferufe oder eben Dinge, die sie zu meistern hatte.

Nicht jede Botschaft verstand sie, und nicht zu jeder bekam sie einen Zugang. Vieles von dem Genannten ruhte noch gänzlich unberührt in ihr, wollte erst noch geweckt werden.

Diesen heutigen Traum aber, in seinem ganzen Ausmaß leider nicht zu verdrängen, glaubte sie, zu verstehen. Vielleicht nicht gänzlich. »Weil nur du es kannst«, verstand sie nicht, sollte sie auch noch lange nicht verstehen.

Der Traum war eine Aufgabe und ein Fluch zugleich. Seit letztem Freitag, dem Tag der tragischen Entbindung, verfolgte er sie.

Und er ließ sie erstarren. Immer wieder. Bei Tag und bei Nacht kam er über sie, wann immer er es wollte, ob in der Ruhe des Tiefschlafs oder profan im Auto an einer roten Ampel – oder gar mitten in einem Gespräch. Und der Traum ließ sie bis heute nicht los.

Silvana stand auf, sie musste los. Mel, Melissa, ihre beste Freundin lebte – wahrhaftig – nicht mehr.

Was für ein Unglück!

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