Читать книгу SeelenFee - Buch Eins - Axel Adamitzki - Страница 7

2 – Langsam, als wehrte er sich …

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… gegen die herannahende Endgültigkeit, senkte sich der Eichensarg, Handbreite um Handbreite, in die für ihn auserwählte Grube.

Die weißen und roten Rosen, die den schwarz lackierten Deckel bedeckten, atmeten ein letztes Mal die spätherbstliche Frische, ließen einen letzten Blick auf ihre Schönheit zu. Auf die roten Rosen hatte er ausdrücklich bestanden, gegen die weißen hatte er sich nicht gewehrt.

Ohne es zu verstehen, vernahm Raymond-Lazare Landgraf zu Sipplingsberg den unwiderruflichen Abschied von seiner Frau … Melissa.

Versteinert und blass, um Jahre gealtert, stand der Einunddreißigjährige, umringt von Familie und Dorfbewohnern, von weitläufigen Bekannten und seinen Angestellten an der Familiengruft derer zu Sipplingsberg und schüttelte innerlich den Kopf. Mit siebenundzwanzig stirbt man doch noch nicht, schrie es in ihm. Mit siebenundzwanzig … noch nicht!

Dennoch, seine Liebe war tot, verstorben, als sie … Seine Gedanken rutschten ab.

Melissa bestand auf einer Hausgeburt, freute sich unsagbar darauf, steckte ihn mit ihrer überschwänglichen Vorfreude auf ihr erstes Kind, eine Tochter, jeden Tag aufs Neue an.

Nichts, so schien es bis zum Schluss, sprach gegen eine Geburt im Landhaus.

»Sie sind gesund, Ihre Tochter ist gesund, und Ihr Gatte … um den kümmert sich im Zweifelsfall eine Schwester«, schoben der Arzt und die Hebamme die Ängste und Zweifel immer wieder mit nüchterner Zuversicht und einem Lächeln zur Seite.

Die Komplikationen seien nicht vorhersehbar gewesen. Und als sie dann eintraten … sei es zu spät gewesen … »Auch im Krankenhaus hätten die Ärzte nicht mehr tun können«, versuchte Dr. Berthold anschließend, Raymonds Verzweiflung zu lindern.

Doch die Worte erreichten ihn nicht, drangen nicht bis zu seinem Schmerz vor, verloren sich irgendwo in einem Schleier der Fassungslosigkeit.

Er war bei der Geburt dabei, hielt seiner Frau die Hand, »presste mit« und war voller Zuversicht … bis Melissa drohte das Bewusstsein zu verlieren.

Noch bevor er begriff, was passierte, packte eine Schwester ihn vorsichtig bestimmend am Arm, geleitete ihn hinaus und blieb dann bei ihm; sicherlich auch, um zu verhindern, dass er kopflos und verwirrt das Schlafzimmer erneut betrat.

»Alles wird gut. Wir sind auch auf solche Schwierigkeiten vorbereitet. Jede Hausgeburt ist ein bisschen anders. Aber glauben Sie mir, alles geht seinen Weg«, sagte die Krankenschwester immer wieder und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

Doch nichts wurde gut.

Das Letzte, was er von Melissa vernahm, war ein durchdringender Aufschrei … der einem Hilferuf gleich durch das Gutshaus dröhnte … und ihre flehenden Worte: »Meine Tochter, rettet meine Tochter! Rettet mein Kind!«

»Eine Fruchtwasserembolie«, versuchte der Arzt Stunden später zu erklären. »Das war nicht vorhersehbar. Manchmal ist sie rechtzeitig genug erkennbar. Aber bei Ihrer Frau …« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Alles schien völlig normal.« Nachdenklich atmete er durch und fuhr dann dezent fort: »Es wird Sie nicht trösten, dennoch sollten Sie wissen, dass oft für beide, für Mutter und Kind, keine Chance besteht. Aber mitunter, wie hier, gibt es eine kleine Hoffnung … für … wenigstens einen. Und dann muss augenblicklich entschieden und auch gehandelt werden. Und Ihre Frau … sie hat entschieden. Sie wollte, dass in erster Linie … Ihre Tochter lebt. Und sie lebt, und sie ist kerngesund.«

Natürlich war das kein Trost gewesen, im Gegenteil, diese Worte – »Ihre Frau hat entschieden!« – waren ihr Todesurteil gewesen, von ihr selbst ausgesprochen … ohne ihn zu fragen.

Ohne mich zu fragen, hallte es ihm durch den Kopf.

Entrückt blickte Raymond-Lazare Landgraf zu Sipplingsberg auf die weißen und roten Rosen, die jetzt im Dunkel der Grube auf ihr Ende warteten. Er brachte es nicht über sich, eine Schaufel Sand auf den Sarg fallen zu lassen. Er wollte, dass dieser Albtraum endlich ein Ende fand. Er wollte aufwachen, Melissa in den Arm nehmen, ihr sagen, dass er sie liebte, ihr zuflüstern, dass sie sein Leben war, mit ihr lachen, mit ihr unbeschwert den Tag erleben, sie lieben, von ihr geliebt werden … All das wollte er …

… aber nicht jetzt eine Schaufel Sand auf ihren Sarg fallen lassen.

Nein, kein Abschied. Nicht für immer. Nicht heute. Vielleicht in fünfzig oder sechzig Jahren, aber nicht heute. Man stirbt nicht mit siebenundzwanzig.

Das Leben war ungerecht. Gott oder wer auch immer dafür verantwortlich war … er war ungerecht.

*

»Raymond, komm.«

Seine Mutter hakte sich schwerfällig und seltsam unbeholfen bei ihm ein – unbeholfen für sie, nicht für ihn, für ihn wäre ihre merkwürdige Zuneigung, wenn er darauf geachtet hätte, eher befremdlich gewesen –, und zog ihn zwei Schritte zur Seite, sodass die anderen Trauergäste nun auch Abschied nehmen konnten und anschließend, teilweise mit von Tränen verschmierten Gesichtern, teilweise mit Entsetzen im Blick, ihr Mitgefühl zum Ausdruck bringen konnten.

Raymond-Lazare ließ es geschehen, alles ließ er geschehen, bis Sibylle und Ingmar Scholz stumm vor ihm standen. Melissas Eltern. Aus toten Augen sahen sie ihn anklagend an. Hatten sie ihn überhaupt jemals angesehen? Er konnte sich nicht erinnern.

Sie hatten ihre Tochter verloren, ihr einziges Kind. Und Raymond-Lazare konnte es genau sehen: Sie machten ihn dafür verantwortlich. Er war schuld an allem. Nur er.

Sie waren mit ihm als Schwiegersohn nicht einverstanden gewesen. Nie hatten sie einen Hehl daraus gemacht. Robert Kleinert hätten sie gern an der Seite ihrer Tochter gesehen. Robert Kleinert, einen Zahnarzt. »Er wird dich auf Händen tragen«, hatten sie bis zum Schluss versucht, Melissa von der Heirat mit ihm – diesem Adligen – abzuhalten.

Doch ihre Tochter liebte ihn, nicht den Adligen, nur den Mann, den Mann Raymond – Ray nannte sie ihn liebevoll. All das versuchte sie, ihren Eltern deutlich zu machen. Doch sie verstanden sie nicht, wendeten sich enttäuscht ab.

Dem Anstand gehorchend kamen sie zur Hochzeit. Natürlich, man gab sich keine Blöße, man gab keinen Anlass für Geschwätz. Sie mieden aber danach jeglichen Kontakt. Melissa litt zutiefst darunter.

Die Schwangerschaft, die aufkommende Vorfreude auf das Kind, auf ihr erstes Enkelkind, brach das Eis ein wenig. Nach mehr als sechs Jahren gab es den ersten vorsichtigen Kontakt.

Aber jetzt … war sie tot. Ihre Tochter war tot. Mit siebenundzwanzig Jahre. Und er war schuld. Er, dieser Adlige.

All das las Raymond in ihren verzweifelten Augen, all das schrien ihm ihre Blicke kalt entgegen. Er fühlte sich hilflos.

Nie würden sie verstehen, dass sein Schmerz, der ihn beinahe zerriss, vielleicht ebenso groß war wie der ihre, und nie würden sie glauben, dass ihre Tochter es gewesen war, die diese schreckliche Entscheidung getroffen hatte, auch würden sie nie glauben, dass er diese Entscheidung niemals mitgetragen hätte.

Dennoch waren sie am Ende die Einzigen, die seinen Schmerz hätten nachempfinden können, wenn sie ihm diesen Schmerz zugestanden hätten. Sie hatten ihre Tochter, ihr Fleisch und Blut, verloren, er nur seine Frau, waren Gedanken, die ihnen ins Gesicht geschrieben standen.

Zittrig reichte er Sibylle Scholz die Hand. Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Welche auch?

Sie sah ihn nur reglos an. Tot und kalt. Einen lang anhaltenden Moment.

Schließlich wendete sie sich ab, gestützt auf ihren Mann, der ebenfalls ohne versöhnliche Geste blieb. Und mit schleppenden Schritten gingen sie los, verließen sie den Friedhof – ohne Blick zurück.

Was für eine Anklage. Und was für ein Urteil, das sich zusätzlich bleiern auf seine Trauer legte.

*

Eine halbe Stunde später stand nur noch der engste Familienkreis am Grab zusammen. Seine Mutter, Fürstin von Brammen, sein Stiefvater, Fürst von Brammen, seine ältere Schwester Helen-Luciana, Gräfin von Hohenbrugg, mit ihrem Gatten und auch Silvana Larbang, die beste Freundin seiner verstorbenen Frau. Obwohl Silvana nach Meinung seiner Familie nicht hierhergehörte, wurde sie am heutigen Tag für Stunden in ihrer Mitte geduldet.

Raymond kannte Silvana kaum, im Grunde nur aus den überschwänglichen Schilderungen seiner Frau, und natürlich von der Hochzeit – sie war Melissas Trauzeugin gewesen –, doch selbst da hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt; auch war sie erst vor zwei oder drei Wochen wieder hierher an den Bodensee zurückgekehrt. Mel hatte sich unsagbar darüber gefreut. Vielleicht war es ihm auch deshalb wichtig, sie heute hier, in seiner Nähe, in Mels »engster« Nähe zu wissen.

Alle schwiegen, achteten mit gesenktem Blick nur auf Raymond. Teilnahmsvoll, so schien es. Zutreffender wäre eine andere, nicht so freundliche Umschreibung gewesen. Denn tatsächlich ging es ihnen nur um den Schein, zumal sie Raymonds Frau nicht einmal ansatzweise gekannt hatten, nie hatten kennenlernen wollen. Einen vorsichtigen Versuch, diese »Liaison« zu hintertreiben, die in ihren Augen keine wirkliche Liebe sein konnte, hatte Raymond rasch und vehement unterbunden.

»Diese Frau, Melissa Scholz, liebe ich mehr als alles andere. Sie wird meine Frau, ohne Wenn und Aber. Und wem das nicht passt, der hat bei uns nichts verloren«, hatte er damals unzweideutig verkündet.

Dem Anstand folgend war seine Familie zur Hochzeit gekommen. Auch sie waren nur kurz geblieben. Danach hatten sie kaum mehr als ein-, zweimal im Jahr Kontakt miteinander gehabt. Im Grunde traf man sich nur noch auf Beerdigungen, und auch mehr zufällig auf Vernissagen, Wohltätigkeitsveranstaltungen oder Bällen der Gesellschaft und tauschte dort kaum mehr als Höflichkeiten und Klatsch aus.

Das galt bis heute.

Nur leider konnte man sich diesem bedauerlichen Anlass hier nicht entziehen.

Scholz! Was für ein entsetzlich bürgerlicher Name, und was für entsetzlich bürgerliche Menschen waren hier zusammengekommen. Um eine solche Frau trauerte man nicht in ihren Kreisen; müsste man dann nicht um jede Frau Müller, Schmidt oder Neumann trauern, die sich irgendwann einmal durch ihr Geld oder durch ihr Äußeres einen von ihnen geangelt hatte und am Ende ihres unnützen Daseins ebenso vergraben wurde wie diese Frau hier?

Was für eine erschreckende Vermutung, die seinen Verwandten sicher so und nicht anders durch den Kopf schlich – Raymond hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt.

Auch war seine Frau ja nicht einmal in der Lage gewesen, ein Kind anständig auf die Welt zu bringen. Dieser Gedanke ruhte als unausgesprochene Missbilligung sicher tief in ihren Seelen.

All das konnte man an der hochmütigen Haltung und an den kühlen, unnahbaren Blicken deutlich ablesen. Oh, wie kultiviert ihre Oberflächen doch waren.

Es war lediglich die Landgräfin, Melissas Titel, dem sie versuchten, hier auf dem Friedhof mit Respekt zu begegnen.

Anders verhielt es sich mit Silvana. Ihre Trauer war aufrichtig, und ihr Blick auf Raymond war voller Mitgefühl. Er hatte den wohl wichtigsten und zärtlichsten Teil seines Lebens verloren – sie sah und spürte es.

Schleppend wagte Raymond den ersten Schritt, weg von Melissa, weg von ihrer letzten Ruhestätte. Und sie blieb zurück, eingehüllt in weiße Seide, er wusste es, er sah es beinahe, doch er sah auch, dass sie nichts mehr wärmen konnte.

Totenstille durchdrang die kleine Trauergruppe, die vorbei an den Gräbern der Ahnen und der lang verstorbenen Honoratioren des Landkreises zum Ausgang und ins Leben zurückstrebte. Das Laub, gelb, rot und braun, verwelkt und vielfach schon verrottet, raschelte bei jedem Schritt unter ihren Füßen und war das einzige Geräusch, das zu vernehmen war.

Der alte Teil des Friedhofs, ein Stück abseits, war derer zu Sipplingsberg sowie den hiesigen Landräten und den Bürgermeistern der Umgebung vorbehalten. Früher, bis vor zwei Generationen, bis zu Raymond-Lazares Großvater, hatten hier, auf dem Gemeindefriedhof, ausschließlich die Ehefrauen der Landgrafen, die Nachkommen ohne Erbanspruch und die früh verstorbenen Kinder derer zu Sipplingsberg ihre letzte Ruhestätte gefunden. Die Landgrafen, die in Amt und Würden verstorben waren, waren in einer Gruft neben dem Landhaus zur letzten Ruhe gebettet worden. Doch Raymond-Lazares Großvater hatte diese Tradition durchbrochen. Er hatte verfügt, neben seiner ersten Frau, die ebenfalls viel zu jung verstorben war, beigesetzt zu werden. Und nichts anderes hatte Raymond für sich im Sinn. Allein dieser Gedanke gab ihm die nötige Kraft weiterzugehen.

Raymond hatte sich für den letzten Gang hinter seiner Frau Regen gewünscht, dunkle Wolken, aus denen es unablässig herabschütten sollte. Ein entsetzlich törichter Wunsch, dennoch … Der Himmel sollte mit ihm weinen, mit ihm trauern, sollte auch zeigen, dass es ihm leidtat. Aber nicht einmal von dort erfuhr er ein kleines Stück Mitgefühl für dieses … dieses abgrundtiefe und gnadenlose Unrecht.

Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel, und dieser neunzehnte November war ein ausgesprochen schöner, beinahe »angenehmer« Spätherbsttag. Auch das würde er ihm da oben, wie auch immer er sich nannte, nicht vergessen, nie verzeihen.

In der einen Woche, seit seine Mel nicht mehr bei ihm war, war sein Herz hart und kalt geworden, war alles, was einem Gefühl glich, in ihm gestorben. Er konnte und wollte es nicht verhindern, und er hatte nicht vor, irgendetwas daran zu ändern. Das schwor er sich.

Und um allen zu zeigen, dass er seinen Weg in Zukunft allein gehen musste, auch weil ihm die Verlogenheit in all ihren Gesten, in den Gesichtern und sicherlich auch in ihren Gedanken zuwider war, löste er sich abrupt aus dem Arm seiner Mutter.

Die »Vorstellung« war beendet, sein Leben begann nun … allein.

Und das Baby, sein Kind, lag in seinem Bettchen im Landhaus und wartete. Auf den Vater. Seit Tagen schon … vergebens.

SeelenFee - Buch Eins

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