Читать книгу Es begann in Paris - Axel Adamitzki - Страница 7
3
ОглавлениеAm nächsten Tag zeigte Paris sich wieder von seiner schönsten Seite. Der Himmel war makellos blau, die Sonne trocknete die letzten Pfützen rasch aus, die Menschen genossen die wohlige Wärme und begegneten sich fast überall mit zurückhaltender Freundlichkeit.
Nach dem Frühstück war Christina losgegangen. Auf einem Stadtplan, den sie in der Tasche trug, hatte sie die Brücken in der Nähe der Freiheitsstatue markiert. Vorsichtshalber. Noch immer war sie sich nicht sicher, was sie da wollte. Einem Traum nachjagen? Wozu?
Und immerfort musste sie über diese Frage, über diesen Gedanken lächeln. Er schien sinnlos und sonderbar. Absurd.
Und letztlich war sie mit sich übereingekommen, sich nur die Bilder anzusehen ... falls sie diesem Pierre tatsächlich begegnen sollte.
Zumindest hatte sie versucht, sich das einzureden.
Ihre Eltern hatten sich gefreut, dass sie eigene Pläne hatte. Sie mussten geschäftlich zwei Auktionen besuchen. Hätten sie um die Pläne ihrer Tochter gewusst, wäre ihre Freude zweifellos kühler ausgefallen. Man war hier, um Geschäfte zu machen und, um sich abends zu amüsieren, aber nicht, um die Zeit mit der Suche nach armen Künstlern zu verbringen. Zumal Armut nicht in ihr Leben passte, nein, ... Armut gab es nicht in ihrem Leben. Punkt!
Hubertus Neuenhofen hatte in Kehlheim, einer Kleinstadt in Süddeutschland, einen Münzhandel, der einen hervorragenden internationalen Ruf besaß. Der Aufenthalt in Paris diente in erster Linie dazu, wichtige Auktionen zu besuchen, einige Privatsammlungen zu begutachten und gegebenenfalls Einzelstücke oder ganze Sammlungen zu erwerben.
Christina liebte ihre Eltern und sie kannte deren Einstellung zum Leben, zum Geld, doch diese Einstellung teilte sie nicht. Und deshalb hatte sie auch nur etwas von einem langen Spaziergang an der Seine erzählt, von einem Bummel durch Boutiquen, von einem möglichen Rundgang durch den Louvre.
Als sie endlich an der ersten Brücke stand, die Freiheitsstatue im Rücken, bekam sie Angst vor der eigenen Courage. Was willst du wirklich hier?, fragte sie sich wieder. Diesmal sehr ernsthaft.
Ein Gefühl!, war ihre vergleichsweise unvollständige Antwort. Sie sah auf die Seine, die ruhig dahinfloss und plötzlich war dieser Traum wieder greifbar, der Traum von dem Maler und seinem eindringlichen Lächeln, der Traum von dem ruhig dahinziehenden Fluss und von den Farben der Bilder. Das hatte etwas zu bedeuten. Sie war sich jetzt ganz sicher.
In einiger Entfernung sah sie mehrere Künstler, die auf Klapphöckerchen saßen und malten oder einfach nur dasaßen, in sich versunken, Kaffee tranken oder rauchten ... und auf Touristen warteten. Sie musste lächeln, entsprach dieses Bild doch so ganz dem Klischee, dass sie von Paris hatte. Es fehlten nur noch der Rotwein und die Clochards.
Christina ging weiter. Als sie den ersten Künstler erreicht hatte, erschrak sie ein wenig, denn sie blickte in das ausgezehrte Gesicht eines alten Mannes. Pierre der Deutsche?, fragte sie sich.
Nein! Diese Antwort gab sie sich flugs. Mit einem Blick auf seine Bilder wusste sie sofort, dass er es nicht sein konnte. Dieser Künstler malte anders, ganz anders.
Doch die Anspannung blieb. Was, wenn dieser Pierre tatsächlich ein alter, ausgezehrter Mann war? Ein Traum ist eben nur ein Traum.
Gedrückt ging sie weiter. Ich möchte nur seine Bilder sehen und vielleicht ein oder zwei kaufen. Mehr nicht!
Diese Lüge half. Christina wurde ruhiger. Und eindringlich betrachtete sie die Bilder all der namenlosen Künstler, die ihre Arbeiten hier zum Verkauf anboten.
Doch sie entdeckte kein Bild im van-Gogh-Stil. Nicht eines. Nicht einmal ansatzweise war irgendwo ein solcher Stil erkennbar.
Und sie überlegte. Sie würde fragen müssen.
Aber machte sie sich damit nicht lächerlich? ... Wissen Sie, wo ich ›Pierre den Deutschen‹ finde? Er soll ab und an hier irgendwo sein ... Machte sie sich mit dieser Frage nicht lächerlich? Ohne lange zu überlegen, schüttelte sie den Kopf. Nein, nur wenn ich mich lächerlich dabei fühlte, dachte sie.
Und lächerlich fühlte sie sich nicht.
Gedankenversunken ging sie noch zwei Schritte und stand dann vor den Bildern eines älteren Künstlers. Eiffeltürme. Bei Tag, bei Nacht. Im Frühling, im Sommer. Handgroß und mannshoch. Was immer die Touristen suchten, hier würden sie ihren Eiffelturm finden. Wie schrecklich, dachte Christina. Dennoch würde sie hier fragen.
»Entschuldigung, ich habe gehört, hier soll ein Kollege von Ihnen auch seine Bilder ausstellen. ›Pierre der Deutsche‹ wird er wohl genannt. Wissen Sie, wo ich ihn finden könnte?«, fragte sie in ihrem unzulänglichen Französisch und wusste nicht, ob ihre Worte richtig gewählt waren.
Aber der Künstler schien sie verstanden zu haben.
»Pierre? ... Pierre?«, überlegte er und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Mademoiselle, ... da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Aber schauen Sie sich doch einfach meine Bilder an. Sie werden sicherlich etwas finden.«
»Herzlichen Dank für die Auskunft. Aber es geht mir um diesen Künstler.«
Und wieder erschrak sie. Hatte sie das eben wirklich gesagt? ... Es geht mir um diesen Künstler? ... Ja!, das hatte sie. Und noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, ließ der unbekannte Maler all seinen Charme spielen und zeigte mit einer einladenden Handbewegung auf einen leeren Stuhl.
»Bitte, Mademoiselle, nehmen Sie Platz. Wenn sie keinen Eiffelturm möchten, denn werde ich ihr Porträt in einer Stunde in Öl verewigen. Ein so schönes Gesicht muss der Nachwelt erhalten bleiben.«
Christina lächelte.
»Nein, danke. Ich wollte mich nicht porträtieren lassen.« Und sie wendete sich ab.
»Moment, Mademoiselle. Jetzt fällt es mir ein. ›Pierre der Deutsche‹?«
»Ja?«
Christina antwortete knapp und drehte nur den Kopf ein wenig um. Sie wollte nichts kaufen, sie wollte auch kein Porträt in Öl. Auch nicht über einem charmanten Umweg.
»Ich hatte Sie eben nicht richtig verstanden. Tut mir leid. ›Pierre der Deutsche‹ sitzt da drüben.«
Der ältere Künstler zeigte auf einen freien Platz, etwa zwanzig Meter von ihm entfernt.
»Heute ist er leider noch nicht ... Seltsam ... Normalerweise ist er jeden Tag um diese Zeit schon lange hier.«
Augenblicklich schlug Christinas Herz hoch bis zum Hals. Es begann zu rasen. Doch halt! Bleib ruhig, sagte sie sich, bleib ganz ruhig. Denn noch immer konnte Pierre der Deutsche ein unsympathischer Mensch sein, der es lediglich verstand, gut mit Farben umzugehen.
Dennoch ... ihre Ungeduld war unübersehbar.
»Und Sie meinen, er wird noch kommen?«
»Ganz sicher. Außer ... ihm ist etwas passiert.«
Christinas Gesichtszüge versteinerten.
»Sie meinen ...?«
Er lachte. »Ach Unsinn. Es wird schon nichts passiert sein. Vielleicht hat er gestern einfach nur ein Gläschen zu viel getrunken. Aber halt, das kann nicht sein. Denn ich glaube, Ihr Pierre trinkt gar keinen Alkohol. Er wird sicher noch zutun haben und jeden Moment hier eintreffen.«
Ihr Pierre? Wie kam dieser Mensch nur dazu, ihn als ›ihren Pierre‹ zu bezeichnen?, fragte sie sich und spürte sogleich, wie ihre Wangen rot anliefen. Das war nun wirklich zu peinlich. Und augenblicklich hatte sie das Gefühl, die Blicke aller Vorbeigehenden hatten sich auf sie gerichtet. Und sie belächelt. Sie musste schnellstens hier verschwinden.
»Dann komme ich vielleicht später noch einmal vorbei.«
Und weg war sie.
»Wie sie möchten.«
Lächelnd, keineswegs anmaßend, blickte der ältere Künstler hinter Christina her.
Viele haben schon versucht ›Pierre den Deutschen‹ zu erobern, aber bislang hat noch jede Reißaus genommen, dachte er kurz. Doch rasch beschäftigte er sich wieder mit seiner Arbeit, einen Eiffelturm im Sommer, und hatte die Begegnung mit der jungen Touristin auch bald schon vergessen.
*
Ziellos lief Christina durch die Straßen von Paris. Ihre Gedanken waren bei dem älteren Künstler und bei ›Pierre dem Deutschen‹ und bei ihrem peinlichen Auftritt ... eben auf dem Künstlermarkt.
Manchmal bist du trotz deiner zweiundzwanzig ein unreifer Teenager, rügte sie sich und versuchte, ihre Haltung zurückzugewinnen. Es gelang ihr nicht. Immer wieder musste sie zur Uhr sehen. Und immer wieder stellte sie sich die Frage: Ob er wohl schon da ist?
Und wieder wuchs ihre Ungeduld. Sie wollte es hinter sich bringen. Sie wollte wissen, was für ein Mensch ›Pierre der Deutsche‹ war. Zumindest auf den ersten Blick. Mehr nicht!
Und doch ... jetzt musste sie sogar über sich selbst lachen. Seit gestern schwirrten ihre Gedanken um einen Menschen, den sie nicht kannte, von dem sie lediglich ein kleines, wunderschönes Bild hatte, das ihr ... und das musste sie zugeben, ... das ihr das Herz geöffnet hatte. Sie hielt es nicht mehr aus, sie wollte ihren Seelenfrieden zurück. Auch wenn der Traum zerplatzen würde.
Christina hob den Kopf, orientierte sich so gut es ging und lief, ohne Umwege, zurück zu dem Künstlermarkt an der Seine.
Sie hatte ihren Weg so gewählt, dass sie schon von Weitem sehen konnte, ob Pierre in der Zwischenzeit seinen Platz eingenommen hatte.
Und tatsächlich, da saß er.
Und, wie sieht er aus?, fragte sie sich sofort. Sie konnte es nicht sehen. Er hatte sich mit dem Rücken zu den Touristen gesetzt und malte. Offensichtlich ein Motiv von der anderen Seite der Seine.
Mit unsicheren Schritten ging sie auf ihn zu. Von dem Gewühl, von dem Gedrängel, von all dem Trubel um sich herum, nahm sie nichts wahr.
Kurz bevor sie Pierre erreicht hatte, drehte er sich um. Er suchte etwas. Eine neue Farbe oder einen anderen Pinsel. Und dabei trafen sich ihre Blicke. Das erste Mal. Christinas Knie wurden weich, sie hatte das Gefühl, sich setzen zu müssen. Doch sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden.
Er war es! Der Künstler aus ihrem Traum. Jung und gutaussehend. Er war es!
Aber konnte so etwas überhaupt sein? Gab es das, dass man einen Menschen im Traum kennenlernt? Und dass man ihn später im wirklichen Leben trifft? Gab es das?
Offensichtlich.
Und auch er blickte sie fortwährend an.
»Kann ich etwas für Sie tun, Mademoiselle?«
Christina blieb stumm. Ihre Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen, betörend, weltvergessend und ungeahnt, wurden wahr, nein!, .... sie wurden übertroffen.
Ein Mann von etwa dreißig Jahren stand vor ihr. Mit ebenmäßigem Gesicht, mit dunklen, fast schwarzen Augen, die sie warm ansahen, mit dunkelblondem Haar, das lang war, und vom Wind getragen, durcheinanderflog, mit einem schlanken, durchtrainierten Körper, der jeder Gefahr trotzen würde. Ungezähmt!, ging es ihr augenblicklich durch den Kopf.
Ungezähmt!
Auf seine Kleidung schien er wenig Wert zu legen: Ein großkariertes Baumwollhemd und eine abgewetzte Jeans waren neben Sandalen, das Einzige, was er trug. Keine Strümpfe, keine Jacke, nicht einmal ein T-Shirt unter dem Baumwollhemd.
Ungezähmt passte ausgezeichnet.