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29 – Sie musste ihn …

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… beschützen. Weil er es allein nicht kann.

Ein Baby beschützte einen Mann, einen erwachsenen Mann, nein, mehr noch … den Vater. Weil er es allein nicht konnte.

Ist das nicht gänzlich absurd?

Und wie sie es tat: Diese schwarzen Augen und das Beben und am Ende das Aussehen einer Hundertjährigen, die alsdann ihre, Silvanas, Hilfe benötigte. Was für eine groteske Reihung von Unmöglichkeiten.

War das alles noch ein einfacher Traum gewesen? Oder war es am Ende einer realen Begebenheit entsprungen? Kein Traum, vergangene Wirklichkeit?

Das Aussehen einer Hundertjährigen. War das der versteckte Hinweis auf Rosas Fieber?

Und war Raymond tatsächlich mit Rosa hinter einem Deich am Meer gewesen? Hatte es dort diese Begegnung mit einer Frau in Weiß gegeben? Und war diese Frau am Ende Elektra gewesen?

Vielleicht, vielleicht war das alles so.

Und was war mit …?

Und endlich wagte sie sich auch an den letzten Teil, an den Teil, der gänzlich widersinnig schien: Georg und die Schatten.

Stumm lag Silvana in dem Bett im Schlafzimmer der Gästewohnung, und sie spürte, wie diese zwei Worte … die Schatten … etwas in ihr veränderten, etwas in ihr erwachen ließen. Die Schatten, lange nicht vernommen, kamen schleppend zurück. Und merkwürdigerweise erschreckte sie das nicht, mehr noch, sie ließen beinahe alles andere unwichtig werden. Zumindest für den Moment.

Und warum Georg? Warum war er es, der alles aufweckte?

Hatte Georg, dieser gänzlich fremde Mann, der mit wenigen Worten und Gesten bereits die Tochter in ihr geweckt hatte, sie so ergreifend beeindruckt? Oder gab es eine ganz andere Erklärung für all das Geträumte?

»Die Schatten, die du schon so lange kennst, sie sind dein Leben«, waren Worte, die sie wohl nie wieder vergessen würde, mehr noch, die ihr Kraft gaben, Kraft für ihr Leben – und die ihr Leben gänzlich verändern sollten.

Irgendwann in den nächsten Tagen würde sie das Gespräch mit Georg weiterführen müssen. Auch wenn er sie merkwürdig ansehen sollte.

Aber jetzt war eine andere Frage viel wichtiger: Wie geht es Rosa?

Eben schien es, als hätte sie das Fieber überwunden, was beinahe unmöglich war. Dennoch verwunderte Silvana das kaum noch, war doch an diesem Baby beinahe alles »unmöglich«.

Angestrengt horchte sie in die Stille. Und dann hörte sie ihn wieder und wieder, ihn, woran all ihre Hoffnung hing: Rosas leisen und regelmäßigen Atem. Sie schlief tief und fest.

Seit etwa zwei Stunden lag die kleine Prinzessin im Nebenzimmer wieder in ihrem Bettchen, auch das war Teil ihres Rituals … Dem Morgen begegnen wir im eigenen Bett.

»Ich lasse die Tür offen, meine Kleine. Ich bin nebenan, nah bei dir«, hatte Silvana noch gesagt, nachdem sie das Baby ein letztes Mal in der Nacht versorgt hatte. Und bald schon war Rosa in einen tiefen Schlaf gefallen. Das Fieber, wie und warum auch immer, schien tatsächlich überstanden. Dennoch … »Schlaf ist die beste Medizin«, war eine profane Weisheit nicht nur ihrer Mutter, die Silvana nun endlich immer ruhiger werden ließ. Für Minuten, nur für wenige Minuten.

Denn plötzlich, wie aus dem Nichts, als ihr noch einmal dieser andere, dieser sehr merkwürdige Hinweis – »Später, wenn alles vorbei ist, dann bade darin. Sie nehmen alles Gift von dir« – durch den Kopf ging und sie sich zu erinnern versuchte, was das war, worin sie baden sollte, vernahm sie ein erstes Zittern, das von einem zum nächsten Augenblick gewaltiger wurde. Es durchdrang sie, umklammerte sie blitzartig und unverrückbar, wie es schien, und nahm ihr beinahe den Atem.

Was … was ist das?

Ist das das Gift? Wirkt es jetzt? Aber welches Gift?

Hastig brach sie all ihre Gedanken ab. Dieses Zittern wurde schlimmer und schlimmer.

Was ist das?, wiederholte sie lautstark im Kopf.

Aber noch bevor sie eine Antwort fand, ließ dieses Zittern wieder nach.

Sie versuchte durchzuatmen, doch das ging nicht. Ein weiteres, abscheulich tiefgehendes Ungemach ergriff sie: ein Schwindelgefühl! Alles drehte sich plötzlich. Schneller und schneller wandte sich die Wirklichkeit aus ihrem Dasein, entglitt sie ihr, und dann kam es, das eigentliche Übel: Schweiß, kalter übel riechender Schweiß!

Unsagbar viel kalter Schweiß, seimig und moderig, drängte augenblicklich aus jeder Pore, lief ihr sogleich in breiten Bächen über die Haut und tropfte, nein, ergoss sich zäh auf das Laken. Es war schaurig, und es ließ nicht nach. Sie versuchte, ihn sich abzuwischen, mit der Hand, mit der Bettdecke, aber es war sinnlos. Mehr und mehr Schweiß strömte nach, und bald schon war der Raum gänzlich erfüllt von einem faulig beißenden Gestank, der sich auf alles legte, was sich ihm darbot – unverrückbar, unabänderlich –, auf das Bett und die Stühle, auf die geöffnete Tür zum Nebenzimmer und ebenso auf ihre Gedanken und all die unbeantworteten Fragen.

Und auch das Schwindelgefühl wurde stärker und stärker.

Das Bett, es begann zu wandern, erst träge, bald schneller und schneller, so schien es ihr. Die Wände, sie drehten sich und kamen auf sie zu. Die offene Tür zu Rosas Zimmer wurde kleiner und kleiner und schoss plötzlich, groß wie der aufgerissene Rachen einer Riesenechse, auf sie zu und beugte sich über sie.

Sie verlor den Bezug zur Wirklichkeit. Gänzlich. In ihren aufgerissenen Augen gab es nur noch Angst.

Ich muss nach Hause, dachte sie nur noch, ich muss sofort nach Hause. Nur dort bin ich sicher. Was für ein verloren törichter Gedanke. Aber er lenkte ab, so schien es.

Sie warf die Bettdecke zur Seite und wollte aufstehen, sich diesem Schauder dieser Illusionen, etwas anderes konnte es nicht sein, entgegenstellen, um sich dann augenblicklich fortzustehlen. Nach Hause.

Doch das ging nicht, sie kam nicht hoch. Auch war sie noch immer beinahe nackt. Nackt!

Und jetzt?

Sie warf den Kopf herum, wollte sich umschauen, versuchte es, aber ihr Blick betrog sie, fing nichts ein, an dem sie sich hätte festhalten können. Die Wirklichkeit löste sich mehr und mehr auf.

Sie war hilflos, und sie war nackt.

Nein, das durfte nicht sein. Sie würden gleich kommen, Paula und Sibylle und der Arzt. Und auch Ray. Niemand durfte sie so sehen. Kein Blick durfte auf ihre entsetzlich hilflose Nacktheit fallen.

Sie ließ den Kopf auf das Kissen fallen und schloss die Augen, und sie versuchte, sich zu erinnern: Wo hatte sie ihre Sachen abgelegt?

Im Bad. Ein erster klarer Gedanke. Doch niemals würde sie es dort hinschaffen. Die Wände, der Boden, alles tanzte bedrohlich.

Dann deck dich zu, hoch bis unters Kinn.

Sie war nackt und sie war … Rasch riss sie die Augen auf. Nein!, noch immer war nichts von Bestand, nicht die Zimmerdecke, nicht die Wand zu ihrer Rechten, auch nicht die Wand zu ihrer Linken. Alles bewegte sich. Wellenartig kam ihre Umgebung auf sie zu, ging von ihr weg und kam wieder zurück. Und alle Farben verschwammen, lösten sich auf, verschmolzen zu einem grässlich stumpfen Braun.

Was passiert hier?

Sie schloss erneut die Augen, horchte angestrengt nach innen. Nichts. Nein, stopp! Da war etwas: Schafgarbenblüten, löste sich plötzlich aus der Tiefe ihrer Erinnerungen … Schafgarbenblüten! Nur ein Wort. Mel hatte davon gesprochen. Im Traum. »Ein Bad mit Schafgarbenblüten. Wenn alles vorbei ist«, hatte sie gesagt.

Silvana verschwendete keinen zweifelnden Gedanken daran, ob das wahrhaftig helfen würde, zu grotesk war das alles – sie glaubte einfach daran.

Ein Bad in Schafgarbenblüten war eine Hoffnung.

Aber woher nehmen?

Sie überlegte kurz, nur kurz, dann schüttelte sie den Kopf. Resigniert und verloren. Nein, es gab keine Hilfe. Schafgarbenblüten blieben ohne Hoffnung.

Schließlich wollte sie nur noch lachen, ihre Hilflosigkeit durch ein Lachen offen legen, denn sie begriff, sie war gefangen im Trugbild eines Wortes. Und sie wollte es hinausschreien, doch die Lippen, der Mund, die Zunge, sie gehorchten ihr kaum. Ihr Lachen und ihr Schreien mischten sich zu einem entsetzlichen Krächzen.

Dieses eine Wort – Schafgarbenblüten –, der vermeintliche Schlüssel zurück ins Leben, war dann auch bald bedeutungslos.

Dunkelheit, wohltuende Dunkelheit trat auf sie zu, ließ Wände, Türen und Farben verschwinden – brachte Ruhe.

O ja, komm näher, mein Freund, wärme mich und lass mich alles vergessen.

SeelenFee - Buch Drei

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