Читать книгу Die Versuchung des Elias Holl - Axel Gora - Страница 10
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Оглавление»Grüß Gott die Herrschaften. Scho’ was ausg’sucht?«
Die stämmige Wirtin vom Gasthaus ›Zum Eisenhut‹ beim Obstmarkt stand wartend am Tisch, die Fäuste gestemmt in die beschürzten Hüften. Das krause Haar hatte sie unter einer Leinenhaube verdeckt, deren lose Bänder in die massige Oberweite ihres Ausschnitts baumelten, von einer vom Bratenfett verschmierten Kordel zusammengehalten.
Remboldt zeigte zur Holztafel an der Wand, auf der mit Kreide geschrieben drei Gerichte zur Auswahl standen: Schweinsbraten, Tellersulz, Bohnensuppe.
»Ein gestauchtes Dunkles8, Theresa, und den Schweinsbraten. Holl, was nehmt Ihr?«
»Mir auch ein gestauchtes Dunkles und nur die Bohnensuppe, bitte.«
»Bloß die Supp? Des is fei net viel. Wollt Ihr net au von der Sau kosten? Mit deftige Semmelknödl?«
»Die haben hier den besten Schweinsbraten von Augsburg, Holl«, unterstützte Remboldt die Wirtin.
»Lasst gut sein. Mein Appetit ist zurzeit nicht allzu groß.«
»Man sieht’s Euch an. Ihr wart schon mal besser beieinander. Wollt Ihr nicht doch den Schweinsbraten …?«
Ich schüttelte den Kopf. Die Wirtin zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Den Hals gereckt, sah Remboldt ihr nach, wie sie mit ihrem breiten Gesäß an den Tischen vorbei in die Küche schwappte.
»Mei, die Theresa, ein Ackergaul von einem Weib. Aber was will ich sagen, die meinige hat mit den Jahren auch ganz schön zugelegt. Anders die Eurige, die ist nach wie vor zart wie eine Ricke.«
Ich verschwieg Remboldt meine Sorge um Rosina. Er war zu wenig mitfühlend, als dass man ihn mit persönlicher Seelennot strapazieren durfte; sein Interesse an den Menschen war begrenzt – »Ich bin weder Pfarrer noch Arzt. Allein die Stadt ist mein Schützling!«, lauteten seine Worte, mit denen er jedwedes Leidklagen eindämmte, das sein überschaubares Quantum an Anteilnahme zu überschreiten drohte. Zusammen mit fünf Ratsherren bildeten er und Marx Welser die Spitze des Augsburger Ämtergefüges. Dieser Stand wollte mit gebührlicher Distanz demonstriert sein. Obgleich Remboldt seinem Gegenüber stets nur ein begrenztes Maß an Interesse entgegenbrachte, so erhob er doch den Anspruch, dass man sich ihm stets mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu widmen habe, wenn er ausschweifend über seine mannigfaltigen Aufgaben und deren einhergehende Sorgen sprach; das konnte mal mehr mal weniger interessant sein, immer jedoch waren seine Ausführungen langatmig, zeitraubend und wenig bis gar nicht ergiebig. Natürlich hatte er viel zu erzählen; als Träger des höchsten städtischen Amts – in einer Freien Reichsstadt, einer von Fürsten unabhängigen Stadtrepublik, einzig dem Kaiser Untertan – traf er sich fast nur mit Vertretern der Freien Stände, des Adels und der Kunst. Das ergab Anekdoten in Fülle.
»Prost die Herrschaften!«
Theresa stellte die angewärmten Steinkrüge auf den Tisch. Wir stießen an und tranken. Ich verschwieg Remboldt meine Hoffnung darauf, dass Rosina zunehmen möge – die ›zarte Ricke‹ war zum todkränkelnden Kitz abgemagert –, worüber ich täglich betete in unserer Kirche Sankt Anna, in der wir geheiratet hatten und alle Kinder getauft. Nur mehr Haut und Knochen, behielt Rosina kaum die Suppe, die ihr Adelgund einträufelte, und wenn, dann schwitzte sie bis zum nächsten Teller alles wieder aus sich heraus. Vier Tage waren seit der Entbindung vergangen. Gestern früh war die Taufe gewesen, das erste Mal ohne die Mutter. Das war mir arg. Unser Bub hatte auf Rosinas Wunsch den Vornamen Hieronymus erhalten. »Wenn der kleine Hieronymus auch mal so eifrig wird, wie der große bei uns«, hatte ich ihr beigepflichtet, »dann dürfen wir uns freuen.« Der große, bereits fünfzehn, war sein Namensvetter Hieronymus Thoman und würde nächstes Jahr die Gesellenprüfung absolvieren. Bereits mit zwölf Jahren, ein Jahr früher als üblich, hatte ich ihn zu mir in die Lehre genommen, nicht weil er kräftiger und klüger gewesen war als die anderen Buben, sondern weil er als einziges Kind, der Vater gestorben, für seine schwache Mutter zu sorgen hatte. Was für ein Christenmensch wäre ich, hätte ich ihm nicht geholfen?
Remboldt wollte sich aus einem hoffnungsträchtigen Anlass mit mir zum Mittagessen treffen, wie er mich bereits vor Tagen hatte wissen lassen – und rätseln, worum es sich handeln sollte. Gern den Geheimnisvollen gebend, rückte er auch jetzt nicht gleich mit dem Grund unseres Hierseins heraus. Er erzählte mir, nachdem Suppe und Braten kamen und wir uns guten Appetit gewünscht, Tratsch über den Großen Rat. Im Grunde wusste er, dass mich das nicht interessierte, obwohl ich ihm ebenfalls angehörte.
Die ersten Stücke Fleisch zwischen die Zähne geschoben und den Geschmack überschwänglich gelobt, fuhr er fort mit den Unwichtigkeiten: »Imhof ist mir immer noch Gram wegen des Herkulesbrunnens. Ihr wisst doch, diese …«
Ich vermied es, ihn dabei anzusehen. Der Anblick von eingespeicheltem Fleisch- und Knödelbrei zwischen schwefelfarbigen Schiefzähnen und Spuckefäden machte mich schaudern. Schon als Kind hatte mir das Gänsehaut beschert und nie hatte ich verstanden, warum allerorts die Menschen bei Tisch mit vollem Munde redeten; es konnte doch nicht angehen, dass niemand außer mir daran Anstoß nahm. War mein ästhetisches Empfinden zu zart für alltägliche Unzulänglichkeiten?
»… alte Geschichte. Wie kann man nur so starrköpfig sein? Zu allem Überfluss haben sich jetzt auch noch seine Frau und die Rehlingerin eingemischt. Als ob Weibsbilder damit was zu schaffen hätten. Ihr glaubt nicht, was mir das an Magendrücken heraufbeschwört. Jeden Morgen spüre ich dieses unsägliche Gefühl, als ob ich Wackersteine in meinem …«
Remboldts müßige Plauderei verblasste mit jedem weiteren Wort und waberte ungehört mit dem Dunst des Bratenfleischs durch die Wirtsstube. Die auf mich plätschernde Einförmigkeit seines Monologs zwang mich geradezu, mich auf den Löffel Suppe zu konzentrieren, den ich im Munde hatte, und dabei an Rosina zu denken. Bei Maria – Gott habe sie selig –, meiner ersten Frau, war es auch so angegangen; und was war dann geschehen? Von der Geburt unseres achten Kindes hatte sie sich nicht mehr erholt … Ihren Todestag, den 30. Januar vor sechs Jahren, würde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Ich hatte erneut und zum neunten Mal – der Tod meiner Mutter, der Tod meines Vaters und die Tode von sechs Kindern – schwere Zeiten der Trauer durchlebt. Allein die bis an Besessenheit grenzende Flucht in die Arbeit ließ mich den Schmerz vergessen und Erinnerungen niederhalten, die sich mir aufzuzwingen suchten. Ich wäre nicht der Sohn meines Vaters Hans Holl gewesen, hätte ich nicht für meine beiden verbliebenen Kinder Johannes und Rosina nach einer neuen, liebevollen Mutter geschaut, die auch mir ein gutes Weib sein wollte. Noch mehr als mein Sohn hatte sich mein kleines Töchterchen gefreut, als ich nach der zehnwöchigen Trauerzeit ein neues Eheweib ins Haus brachte – rief man sie doch beide mit dem gleichen Vornamen. Rosina war nicht nur meinen beiden Kindern eine fürsorgliche Mutter, sie gebar mir bis zum heutigen Tag fünf weitere. Sie führte den Haushalt mit Freude und war mir auch eine seelische Stütze. »Wir können froh sein, dass du so viel Arbeit hast. Andere müssen Hunger leiden!«, hatte sie mich bestärkt, als ich in schwachen Momenten darüber grübelte, dass mir die ganze Rennerei über den Kopf wüchse: Von den Baustellen zum Amt, vom Amt zu den Baustellen, von dort zum Atelier. Vom Atelier zum Amt und von dort wieder zu den Baustellen und zurück und dann wieder von vorne. Ich selbst hatte nie Hunger leiden müssen. Schon als kleiner Bub hatte Vater mich an die Arbeit gestellt, und später in der Lehre mich angetrieben, niemals weniger oder schlechter zu arbeiten als die anderen. Ich sollte stets nach dem Fleißigsten schauen und versuchen, diesen zu übertreffen. Wenn ein Lehrling im vierten Jahr zwölf Steine trug, sollte ich, gerademal im ersten Jahr, sechzehn tragen, wenn einer einen Kübel Speis vermauerte, mussten es bei mir anderthalb, besser zwei sein. »Du bist des Meisters Sohn, das schafft Neid von Haus aus«, hatte er mir eingebläut, »guck, dass dir niemals einer am Kittel flicken kann. Sei rege und tu immer mehr, als das, was man dir anschafft!« Daran hatte ich mich alle Tage gehalten. Und der Erfolg gab mir Recht. Ich erreichte es, mit Verstand, Disziplin und nicht zuletzt mit meiner bloßen Hände Arbeit ein wohlhabender Mann zu werden, den man manierlich auf der Straße grüßte. Was jedoch nützte mir Geld, was Ansehen, wenn der Herrgott schon wieder drohte, mir meine Liebe zu nehmen – mein Eheweib und Mutter von fünf Kindern? Was hatte ich begangen, dass er mich erneut zu züchtigen suchte? Kümmerte ich mich zu wenig um Rosina und die Kinder? War ich ein schlechter Ehemann und Vater? Suchte ich fleischliche Befriedigung im Frauenhaus? Ging ich zu wenig in die Kirche? War ich gar ein Sünder? Nein und nochmals nein! Beileibe nichts von alledem! Niemals! Ich arbeitete viel, sehr viel! Über die Maßen und immer bis tief in die Nacht, manchmal sogar bis zum Morgengrauen. Doch ich wusste: Arbeit ist ein Geschenk Gottes! Hatten wir doch lange schwere Zeiten durchzustehen gehabt, da Handwerker die Obrigkeit um Arbeit ersuchen mussten. Das war jetzt nicht mehr so. Unser Augsburg strebte auf. Alle Welt sollte von uns erfahren. Wir hatten die vermögendsten Kaufleute und Geschlechter bei uns versammelt: die Fugger, Welser, Imhof, Paler, Rehlinger, … Sie waren es, die uns Aufträge gaben und Wohlstand brachten. So wollte ich die Arbeit stets in Ehren halten und überdies ein Gutmensch sein.
»… ist es nicht so, Meister Holl? … Meister Holl! Ist es nicht so?«
»Äh? Was?«
»Ihr nickt die ganze Zeit und es kommt kein Wort der Gegenrede. Also, wie lautet nun Euer Vorschlag?«
»Genickt? Habe ich …? Mein Vorschlag? Ja, … mein Vorschlag! Natürlich …«
»Eure Entwürfe liegen doch schon seit Jahren bei Euch im Atelier. Immer wieder habt Ihr mich damit bedrängt und jetzt, wo die Zeit gekommen ist, druckst Ihr herum? So kenne ich Euch gar nicht.«
»Verzeiht, ich war in Gedanken.«
»Ah? Ihr hört mir also nicht zu?«
»Meinem Weib ergeht es nicht gut.«
»Wie bitte? Der Große Rat zählt, Euch eingeschlossen, dreihundert Mitglieder: Hundertvierzig Gemeine, achtzig Kaufleute, sechsunddreißig Mehrer und vierundvierzig Geschlechter. Glaubt Ihr, dass nur ein einziger darunter wäre, der mir nicht mit ganzem Ohr zuhörte, nur weil es seinem Weib ›nicht gut‹ erginge?«
Es trat ein, was ich zu vermeiden suchte; ich hatte Augsburgs obersten Amtmann in seiner Ehre gekränkt. Das war bitter. Doch würde ich nicht zu Kreuze kriechen. Remboldt war wohl ein Herr des höchsten Dienstes und stand über mir, doch ich war nicht weniger ein Mann, der um seine eigenen Fähigkeiten und Ämter wusste. Freilich sprachen zwei Dinge gegen mich: Ich gehörte den oft nicht nur vom römischen Klerus ungeliebten Protestanten an und ich war nur von einfachem bürgerlichen Stand. Remboldt wusste das, doch niemals hätte er es ins Feld geführt. Er war nicht der klerikalen Obrigkeit ein Diener, sondern der weltlichen und ebenfalls nicht von Adel.
»Das mag angehen, werter Remboldt. In diesem Fall ist es aber das Weib des Stadtwerkmeisters. Es gibt nur einen und der bin ich! Vor zwölf Jahren von den drei Baumeistern Wolfgang Paler, Constantin Imhof und Johann Bartholomäus Welser gewählt, und damit aufgestiegen zum Oberherrn des bedeutendsten Ressorts des reichsstädtischen Baumeisteramtes. Ich bin de facto für das komplette reichsstädtische Bauwesen verantwortlich!«
Ich erzählte in einem fort, so, wie Remboldt es für gewöhnlich tat, und tischte ihm die große Palette meiner gängigen Aufgaben auf, angefangen vom Begutachten von Gebäuden mit Anordnung des Abrisses oder der Erhaltung, über die Planung neuer Projekte mit Vermessen von Grundstücken, dem Erstellen von Material- und Handwerkerlisten und der Kostenvoranschläge, zusätzlich dem Anfertigen von Aufrissen und Visierungen und der Konstruktion von Baugerüsten, Flaschenzügen und Lastkränen, letztlich meine Verpflichtungen zum bestmöglichen Ankauf und zur gewissenhaften Bewertung aller Materialien wie Steine, Sand, Kalk, Eisen, Holz zu deren sachgerechte Lagerung, gründliche Kontrolle und Verwaltung.
»Ich renne Sommer wie Winter auf den Baustellen umher und bin mir nicht zu schade, mitanzupacken. Ich sorge dafür, dass Augsburg mit jedem Bau, den ich vollende, ein neues Meisterwerk erhält und sein reichsstädtisches Antlitz mehr und mehr verschönert. Ich arbeite achtzehn Stunden am Tag und ich …«
»Ja, Holl! Ist ja gut! Es reicht! Ich weiß das alles! Ich weiß aber auch, Ihr seid wie kein Zweiter an Konditionen gutgestellt: Zweihundert Gulden Jahresgehalt9 – Euer Vorgänger Eschay bekam bloß achtzig. Einen Gulden Wochengeld, fünf Gulden für Arbeitskleidung und zehn Gulden für Euren Hauszins. Dazu fünf Pfund Forellen und sechs Pfund Karpfen pro Jahr. Und nicht zu vergessen die freien Rationen aus den Kalkhütten und die zwölf Klafter Holz aus dem städtischen Forst. Zusätzlich bekommt Ihr Gratifikationen für Sonderleistungen. Die Verdienste für Eure privaten und außerstädtischen Arbeiten bringe ich gar nicht zur Sprache. Was also Eure Vergütung angeht, seid Ihr ganz weit vorn.«
»Selbst wenn ich das Doppelte bekäme … Ich habe nur dieses eine Weib, das todkrank im Bett liegt und, wenn es sich zum Schlechten wendet, sterben wird. Dann steh ich wieder allein da, und diesmal mit fünf Kindern. So seht’s mir nach, wenn ich abwesend war. Fasst in einem Satz zusammen, um was es geht. Ich werde sofort im Bilde sein.«
Remboldt hob die Brauen, schwieg einen Moment, trank aus dem Steinkrug und sah mich an.
»Also darum keinen Appetit … Holl, ich bin kein Unmensch, lasst Euch das gesagt sein. Als frommer Katholik weiß ich das heilige Sakrament der Ehe zu würdigen und auch die Gunst eines holden Weibes. Zudem besteht ein Unterschied zwischen ›nicht gut ergehen‹ und ›im Sterben liegen‹. Ihr hättet mir davon erzählen können.«
»Ich wollte Euch nicht damit behelligen.«
»Ihr müsstet mich gut genug kennen, um zu wissen, wann bei mir das Maß in punkto Behelligung erreicht ist. Ein paar Worte der Aufklärung und die Bitte um Verständnis hätten genügt. Also erzählt.«
Ich fasste mich kurz. Remboldt nickte bestätigend; für einen Moment glaubte ich sogar Anteilnahme in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Als ich das Problem mit der Haushilfe ansprach, bekannte er, wie schwer es sei, eine nützliche und zuverlässige zu bekommen. Es helfe ja nichts, gab er mir zu bedenken, irgendeine anzustellen. Es müsse eine sein, die mit kleinen und großen Kindern umzugehen wisse, die Besen und Feudel beherzt in die Hand nähme, den Ofen schüre, günstig und gut Essen kaufe und schmackhaft zubereite.
»Sie muss das Plätteisen beherrschen«, pflichtete ich ihm bei, »und ebenso den Umgang mit Nadel und Faden. Kinder zerreißen ständig was, da springt man nicht immer zur Näherin.«
»Ich sag’s Euch, Holl, entweder taugen sie nichts oder sie stehlen. Die meisten schleppen Krankheiten an.«
»Ihr macht mir Mut.«
»So ist es aber. Bei mir waren fünf im Haus, bis die richtige kam.«
»Dann hab ich noch drei gut – gleich am Tag der Geburt habe ich zwei in der Unterstadt aufgesucht, die mir die Amme empfohlen hat. Von denen hab ich mich verabschiedet, noch ehe drei Worte gesprochen waren. Die erste war noch magerer als mein armes Weib, die zweite war übersät mit Pusteln.«
»Ein gutes Mädchen kommt von und mit Gottes Gnaden.«
»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, bis die Amme geht. Dann muss ich eine gefunden haben.«
Remboldt zeigte mehr Mitgefühl als ich erwartet hatte, er überraschte mich geradezu: »Eigentlich geht es mich nichts an, aber ich halte die Ohren für Euch offen, Holl.«
Sein Schulterklopfen mochte ein Zeichen der Ermunterung sein, war aber wohl eher als Signal zum Themawechsel gemeint. Er setzte die Fingerkuppen beider Hände gegeneinander, spreizte die Finger, führte sie zur Nasenspitze und hob an.
»Holl, Ihr wisst, wie gut es mittlerweile um unsere schöne Stadt bestellt ist. Sie hat in ihrer langen Geschichte viel Schlechtes erfahren: Blattern, Franzosenkrankheit und die Pest, Zauberei und Hexenwahn, Neid und Missgunst bis zum Krieg, Hungersnöte, Feuersbrünste, Hochwasser. Über den schwelenden Konfessionszwist möchte ich gar nicht reden. Aber: Augsburg ist dabei nicht zugrunde gegangen! Im Gegenteil, stark ist unsere Stadt geworden. Mächtig sogar! Sie birgt bald an die fünfzigtausend Menschen. In den letzten hundert Jahren hat sich – trotz aller Widrigkeiten – unsere Bürgerzahl verdoppelt. Nach Köln und Nürnberg ist Augsburg die drittgrößte Stadt des Heiligen Römischen Reiches. Und sie hat das Zeug dazu, die größte zu werden! In unseren Warenstraßen vom Roten Tor über Spital-, Bäcker- und Heilig Grabgasse bis zu unseren zahlreichen Märkten reißt der Verkehr nicht ab. Mit der Macht der Fugger und der Welser hat Augsburg seinen wirtschaftlichen Siegeszug bis in die Neue Welt angetreten. Und wir, Holl, ziehen mit! Ich und Ihr: Wir werden dafür sorgen, dass unsere Freie Reichsstadt ein Gesicht zeigt, das nicht nur ihren Status ehrt, sondern ihresgleichen sucht! Mit den Brunnen haben wir einen Anfang gemacht, doch sie sind nur ein Teil im großen Ganzen. Wichtiger sind die Bauten. Das Gymnasium bei Sankt Anna und die Bibliothek mit dem astronomischen Studierzimmer lassen sich nicht nur für die Gelehrten gut an. Mit dem Städtischen Kaufhaus, dem Becken- und dem Siegelhaus sind Euch große Würfe geglückt, die Ihr mit der Stadtmetzg und dem Zeughaus noch übertroffen habt. Und ich bin mir gewiss, der Neue Bau wird ebenfalls ein gelungenes Werk!«
Remboldt war mir stets geneigt und ich wusste, dass er meine Arbeit schätzte, doch so viel Lorbeer unter vier Augen hatte er mir noch nie aufs Haupt gesetzt. Er tat einen kräftigen Schluck aus dem Krug, schob den leeren Teller zur Seite und breitete die Arme aus wie der Pfarrer auf der Kanzel.
»Holl! Die Zeit ist gekommen für unser heroisches Projekt! Ihr wisst, was ich meine.« Remboldt sah mich erwartungsvoll an.
Ich zögerte. »Das neue Rathaus?«
»So ist es. Die Zeit ist reif! Die Stadtkasse ist mit vierhunderttausend Gulden immer noch reichlich gefüllt, dank unsrer rigorosen Spar- und Steuerpolitik. Für den Rathausbau haben wir eigene Rücklagen geschaffen; einen Teil davon verdanken wir der Ablehnung von Kagers und Heintz’ Loggiaentwürfen, gegen die Ihr seinerzeit Gott sei Dank auch gestimmt habt.«
»Die Loggiaentwürfe waren welsche Manier erster Güte, nur die beiden Herren Maler sind in ihrem Überschwang damit weit übers Ziel hinausgeschossen.«
»Ein paar Träumer im Rat wollen bis heute eine Loggia auf dem Perlachplatz sehen. Wie stellen die sich das vor … ein offener Säulenbau, tz … Bei unseren Wintern … Der sollte dann zum Repräsentieren taugen und gegenüber stünde das eigentliche Rathaus als heruntergekommener Verwaltungsbau, notdürftig renoviert. Was ist denn das für eine Politik, frage ich Euch? Und was die welsche Manier angeht, diese in aller Ehren, Holl, und ohne sie scheint es nicht zu gehen, wie ich mich nicht nur von Euch schon des Öfteren belehren ließ. Trotzdem sage ich, wir brauchen ein eigenes Bild für den Perlachplatz und keine Theaterkulisse, die Rom oder Venedig nachäfft.«
»In jeder Kunst lässt man sich von Vorgängern inspirieren. Und das Welschland ist dafür nun mal die erste Inspirationsquelle.«
»Inspiration ist eine Sache, Holl, kopieren eine andere. Wir bauen keine Werke nach. Wir schaffen Eigenes!«
Remboldt war – im Gegensatz zu David Höschel, Marx Welser, Georg Henisch und mir – kein Anhänger des stundenlangen Studierens von Büchern, Visierungen und Stichen. So entging es ihm, dass Inspiration und Kopie des Welschen bei meinen Bauten enger beisammen lagen, als ihm womöglich Recht gewesen wäre. Zu Beginn meiner Laufbahn hatte ich mich erst wahllos an allem orientiert, was ich an Stichen von Bauwerken aus dem Welschland in die Hände bekam. Später begrenzte ich mich auf wenige begnadete Baumeister wie Andrea Palladio, Sebastiano Serlio und Donato Bramante. Mehr als die bloßen Abbildungen ihrer Bauwerke, so brillant sie auch gestochen waren, beeinflussten mich die Originale, die ich in Venedig mit Matthias besucht und eingehend studiert hatte; dort konnte ich dreidimensional und lebensgroß erleben, was ich zuvor nur als gedruckte und verkleinerte Abbildungen auf Pergament und Papier in Augenschein nehmen durfte. Fürs Bäckerzunfthaus war Palladios Convento della Carità in Venedig mein Vorbild und beim Neuen Bau hielt ich mich an je ein Vorbild10 der beiden Künstler. Die Synthese ihrer Entwürfe ergab das Gesicht meiner eigenen Schöpfungen; von Georg Henisch wusste ich, dass schon die Eklektiker bei den alten Griechen so verfahren hatten. »Es ist kein Frevel, anfangs alle Eindrücke und Strömungen in sich aufzunehmen, um hernach, wenn man routinierter und erfahrener geworden ist, Neues und Originäres zu erschaffen«, hatte er mich gelehrt.
»Na gut, werter Stadtpfleger, wie lautet Euer Plan?«
»Euren ersten Vorschlag, nur die Fassade des alten Rathauses zu renovieren und die Innenräume neu aufzuteilen, hatten wir aus guten Gründen seinerzeit schon komplett verworfen. Der zweite Vorschlag war mir schon besser eingegangen, ein Neubau, bei dem Kaisererker, Wanduhr und Glockenturm erhalten blieben.«
»Meine Reminiszenz an Vergangenes, gewiss, aber auch ein unglücklicher Kompromiss. Mit diesem Entwurf war ich damals schon nicht glücklich und bin es heute noch weniger. Die baufälligen Wände hätten wir nur zum Teil beseitigt, und die Proportionen der Achsen hätten nicht gestimmt, weil ich mich an den alten Grundriss hätte halten müssen. Zudem, den dürftigen gallischen11 Glockenturm stehen zu lassen, wäre ein riskantes Spiel, auch er ist inzwischen von Wind und Wetter zerfressen.«
»Ergo?«
»Das alte Rathaus gehört abgerissen, werter Remboldt, und ein neues her! Ein imposantes, eines, das Augsburgs Stand in der Welt Ehre macht, wo selbst gekrönte Häupter achtungsvoll staunen! So eines bau ich Euch: wohlproportioniert, größer und schöner als das vorige!«
»Ich weiß, dass Ihr das könnt. Und so eines will auch ich, wie ich mich Euch wohl unmissverständlich erklärte. Aber was ist mit dem alten Pferdefuß? Der Rathausturm mag ›dürftig‹ sein, er ist dennoch der ehrenvolle Hort der Ratsglocke! Und diese ist wie kein zweites akustisches Insignium unserer weltlichen Macht! Die Ratsglocke ist die wichtigste, wichtiger noch als die Sturmglocke im Perlachturm und die Glocken der umliegenden Kirchen. Seit Jahrhunderten stehen die Menschen mit ihrem Schlag auf, richten sich bei den Arbeits- und Brotzeiten nach ihr und gehen mit ihr zu Bett. Die Ratsglocke ist für uns alle Ankündiger von weltlicher Freud wie Leid – kein großes urbanes Ereignis ohne deren Läuten! Keine Stadt kann ohne sie sein.«
Remboldt zog die Stirn in Falten. Das tat er immer, wenn er um eine Lösung rang, sich ihm aber keine zu bieten schien.
»Was, Remboldt, wenn ich einen Ort fände, an dem die Ratsglocke noch besser präsent ist als jetzt?«
»Die Glocke wiegt mächtige fünfundvierzig Zentner, so viel hatte zumindest die städtische Heuwaage angezeigt; dazu kommt noch das eiserne Schlagwerk. Wo wollt Ihr einen geeigneten Platz für dieses Monstrum finden?«
»Lasst das meine Sorge sein. Ich will nur eines wissen: Wenn es mir gelingt …?«
»Ich wiederhole mich: Die Zeit ist reif! Löst das Glockenproblem, Holl … und ein neues Rathaus wird gebaut!«
»Hand drauf?«
»Hand drauf!«
Ich hielt ihm den ausgestreckten Arm entgegen. Remboldt schlug ein und zuckte unter meinem starken Zugriff; nach den ganzen Jahren endlich die Gelegenheit für den Bau eines neuen Rathauses zu bekommen, durchströmte mich dermaßen mit der Kraft der Freude, dass ich an mich halten musste, ihn nicht geradewegs zu umarmen.
»Ihr habt eingeschlagen, Remboldt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«
»Pacta sunt servanda12. Das gilt für mich und für Euch auch!«
»Ihr verzeiht mir, wenn ich jetzt gehe? Ich brenne, Euch meine Lösung zu präsentieren!«
»Geht, Holl, geht! Und präsentiert mir! Ich bin gespannt!«
Ich trat aus der Tür und eilte durch den Schnee über den leeren Obstmarkt direkt nach dem Neuen Bau. Dort meinen Zollstock und einen Bogen Pergament aus der Poliernische geholt, machte ich Hans’ neugierigen Fragen eine hoffnungsträchtige Andeutung, und strebte geradewegs zum Perlachturm.
Niemals zuvor war ich fiebernder die engen und niedrigen Stufen bis nach oben unter den Dachstuhl geeilt. Es lag auf der Hand, dass nur hier und nirgendwo anders der neue ehrenvolle Hort der Ratsglocke sein konnte. Nachdem ich die Maße der Höhen, Breiten und Tiefen, die Stärken von Wänden und Balken abgenommen hatte, fertigte ich noch oben im Dachstuhl bei eisigen Graden mit meinem Silberstift, den ich stets bei mir trug, eine Skizze an; sie würde mir neben alten Zeichnungen im Atelier für die neue Visierung dienen. Der Perlachturm barg bereits die Sturmglocke, für die Ratsglocke samt Schlagwerk war kein Platz. Beide Glocken waren aber vonnöten, so blieb mir nur, den Turm zu erhöhen. Ich musste ihm ein neues, zusätzliches Stockwerk aufmauern – eigens für die Ratsglocke! Mindestens zwanzig Schuh hoch musste es sein und würde mit einem gefälligen Kuppeldach abschließen. Das vertrug sich bestens mit Remboldts Wunsch nach mehr Erhabenheit Augsburgs; der Perlachturm würde mit einer erneuten Aufstockung über sich hinauswachsen und noch mehr Größe und Würde ausstrahlen. Die Wandstärke jedoch, die mir als Fundament für den Aufbau dienen musste, betrug nur fünfzehn Zoll13; wenig für ein massives und offenes Glockenhaus, dass das ›akustische Machtsymbol‹ für alle Zeit beherbergen sollte, doch es musste reichen.
Als ich den Perlachturm verließ, dämmerte es bereits. Ich ging geradewegs nach Hause, um mich an die Visierung zu machen. Am Eingang zum Atelier im Hinterhof unseres Hauses, die Klinke bereits in der Hand, blieb ich stehen. Sollte ich vorher noch hoch gehen und nach Rosina schauen? Ich rieb mir das Kinn. Die Zeit drängte. Adelgund war ja bei ihr. In Gedanken an Rosina bekreuzigte ich mich und trat ein.
Das Atelier war ausgekühlt. Im Ofen schwelte nur noch ein Rest Glut. Ich warf ein paar Späne ein, die sogleich entflammten, und legte neue Buchenscheite auf. Mit großen Decken verhängte ich die Fenster und legte eine zusammengerollt gegen den Türspalt; die Kälte kroch durch alle Ritzen.
Auf dem Zeichentisch entzündete ich sämtliche Kerzen – zwölf an der Zahl, in einem elliptischen Bogen von den Stirnseiten über die hintere Längsseite angeordnet – und zog alte Risse und Visierungen des Perlachturms aus dem Kartenregal. Diese als Vorlage hergenommen, zeichnete ich zwei Dutzend Entwürfe des neuen Glockenhauses. Das erste Dutzend verwarf ich komplett; nichts davon gefiel mir, noch zu sehr war ich der alten Form des Turms verhaftet. Ich musste Neues wagen, musste mich loslösen vom Althergebrachten; doch mir war auch bewusst, allzu kühn durfte mein Gestalten nicht sein, zu leicht wären konservative Räte vor die Stirn geschlagen und mir der Auftrag abgelehnt. Die ersten Entwürfe des zweiten Dutzends waren mir schon eingängiger, ich orientierte mich an Konstruktionen von Türmen, die ich bereits erbaut hatte, wie den der Sankt Anna Kirche oder den des Wertachbrucker Tors. Die letzten drei Entwürfe brachten dann die Ergebnisse hervor, die mein Gemüt erhellten und von denen ich überzeugt war, einer hiervon fände den einmütigen Anklang des Rates. Diese drei unterschieden sich nur noch in Details; ich legte mich fest auf einen achteckigen Grundriss mit dorischen Säulen.
Die zahlreichen Skizzen, einschließlich der Visierung, die den besten Entwurf zeichnerisch exakt darstellte, hatten mich Stunden gekostet. Die Uhr schlug bereits Mitternacht. Ich war müde, doch an Schlaf war jetzt nicht zu denken; mit der Visierung war es nicht getan. Sie war wohl recht hübsch anzusehen und würde die Ratsherren bestimmt überzeugen, mir aber noch nicht den Zuschlag für den Neubau garantieren. Das eigentliche Problem musste ich jetzt angehen: Wie löste ich es technisch, die Glocke von A nach B zu transportieren, sie vom alten Rathausturm abzunehmen und im neuen Obergeschoss des Perlachturms aufzuhängen? Wir hatten es bei der Glocke mit einem echten Koloss zu tun. Ich musste ein Gerüst für ein Zugwerk konstruieren, das dieser Aufgabe gerecht wurde. Ich zeichnete von neuem.
Als die Uhr fünf in der Früh schlug, hatte ich den letzten Zeichenstrich getan. Die Konstruktion des Gerüstes aus Eichenhölzern, verstärkt mit eingeblatteten Fuß- und Kopfbändern, würde die Aufgabe erfüllen. Ich hatte die Hölzer so großzügig dimensioniert, dass ich Gefahr ausschließen konnte – nicht auszudenken, wenn das Gerüst unter der Last der Glocke zusammenbräche und Umstehende erschlüge. Elias, dachte ich, denke nicht so etwas; schon Vater hatte mir, wenn ich Skepsis am Erfolg eines Vorhabens hegte, gesagt: »Der Zweifel vergiftet das Gemüt und sitzt dem Gelingen wie ein Alb im Nacken. Darum zweifle nicht!«
»Wenn es dennoch scheitert?«
»Dann hast du dich verschätzt, vertan, verrechnet, getäuscht. Das ist lediglich ein Zeichen, beim nächsten Mal besonnener zu sein und alles noch einmal zu prüfen, hörst du?«
»Aber ist es nicht der Zweifel, der mich alles wieder und wieder prüfen lässt, bis ich dem Vorhaben traue und ans Werk gehe?«
»Nein, es ist nicht der Zweifel. Es ist die Erfahrung!«
Auf weitere Diskussionen hatte Vater sich niemals eingelassen. Bis dato hatte ich seiner Meinung nie ganz zustimmen können. Obwohl ich weiß Gott über Erfahrung verfügte, ein schmaler Spalt Zweifel klaffte stets zwischen Hoffnung und Glauben.
Ich rollte Gerüst- und Glockenhausentwurf zusammen, steckte beide – mit ein paar verworfenen – in meinen Umhängeköcher, blies alle Kerzen aus, zog mir Winterrock und Mütze über und machte mich auf den Weg zu Remboldt. Es war halb sechs in der Früh und noch dunkel; zu Bett zu gehen lohnte sich nicht mehr, ich bekäme ohnehin vor Ungeduld kein Auge zu. Remboldt, so hoffte ich, würde wohl kein Langschläfer sein.
Wenig später klopfte ich an sein Tor. Mehrmals musste ich das tun und immer lauter, bis mir unter mäkelnden Worten Remboldts Haushilfe öffnete. Was um Himmels Willen in den Stadtwerkmeister gefahren sei, um diese Zeit Einlass zu erbitten? Es sei wichtig und dringend, gab ich ihr Bescheid und scheuchte sie, den Hausherren zu wecken: »Sag ihm, ich will ihm die Lösung präsentieren! Schick dich, dein Herr erwartet mich!«
Zwei Glockenschläge – eine geschlagene halbe Stunde – ließ Remboldt mich warten, bis er mich geschniegelt und parfümiert empfing. Angesäuert, dass er mich so lange hatte warten lassen, wo es mir doch glutheiß auf den Nägeln brannte, begrüßte ich ihn schnodderig: »Oh, im Talar, der Herr Stadtpfleger? Das hätte meinetwegen nicht Not getan.«
»Gemach, Holl. Euretwegen ist es nicht. Um acht ist Ratssitzung. Aber, was ist mit Euch? Wie seht Ihr aus? Ihr habt Ringe unter den Augen und Euer Haar steht wirr. Schickt sich das für den Stadtwerkmeister?«
Dass ich, die ganze Nacht durchgearbeitet, nichts gegessen, nichts getrunken, ihm wohl keinen erbaulichen Anblick, stattdessen einen starken Kontrast zu seinem herausgeputzten Ich in Amtstracht bot, spiegelte sich in seinem Gesicht. Als Zugeständnis fuhr ich mir zweimal durchs Haar, was nicht sehr ersprießlich sein mochte.
»Ich sehe aus, wie halt einer aussieht, den der Schlaf nicht holen kann, weil ihn der Erfindergeist umtreibt!«
Anders als er, der wohl in der Bettstatt selig geschnarcht und gefurzt hatte, hatte ich gearbeitet.
»Ihr könnt’s halt nicht lassen, Holl. Euch genügt’s nicht, von einer Idee eingenommen zu sein, sie beherrscht Euch geradezu, im wahrsten Sinne des Wortes, mit Haut und Haar.«
»So ist’s. Und ich bin nicht Gram darüber. Nur so lässt sich wahrhaft Großes leisten. Und dann schickt es sich auch für den Stadtwerkmeister, mal nicht wie aus dem Ei gepellt zu erscheinen.«
»Solange es Eure Arbeit ist und nicht Luzifer oder Weibervolk, die von Euch derart Besitz ergreifen, lass ich’s mir eingehen. Das nächste Mal dürft Ihr trotzdem ein wenig an Euch halten und mich wenigstens eine Stunde später aufsuchen.«
Remboldt hieß die Gehilfin das Feuer im Küchenofen anfachen. Wir begaben uns nach nebenan in die Stube. Remboldt entzündete zwei Talglichter und bot mir Platz an. Ich erzählte ihm von der einzig wahren Lösung, die Ratsglocke in den Perlachturm zu hängen. Dort sei sie in unmittelbarer Nähe des Rathauses. Das Umhängen ginge einher mit einer Aufstockung des Turmes, die wiederum dem Turm und damit der Stadt besseres Ansehen verschaffe, was letztlich ja unser Ansinnen sei. Remboldt war gespannt auf die Entwürfe.
»Also, Holl, ich bin bereit. Präsentiert!«
Ich zog alle Pläne aus dem Köcher, streckte Remboldt aber zuerst die verworfenen Skizzen entgegen. Ich wollte sehen, wie er reagierte. So ernst mir die Sache war, doch wie stets der offene Spalt des Zweifels in mir weilte, so flackerte immer auch ein Schelmesflämmchen in mir, das meist zur Unzeit sich anschickte aufzuglimmen. Vater hatte mir die Schelmereien mit Ohrfeigen auszutreiben versucht; es gehe nicht an, damit Unmut zu erregen, damit Leute zu vergrätzen und wiederum dadurch sogar Aufträge zu verlieren. Meine Streiche zu unterlassen, war eine der wenigen von Vaters Lehren, die ich nicht beherzigte. Mutter hatte meinen Witz immer schon an mir gemocht und mir geraten, diesen niemals zu verlieren, was auch kommen möge. Für diesen Rat war ich ihr immer dankbar.
Remboldt nahm mal diese, mal jene Skizze in die Hand, wiegte den Kopf, kratzte sich am Hals, wiegte den Kopf. Ich stand neben ihm, erwartungsvoll.
»Und?«
»Hm, … ich will Euch nicht zu nahe treten, Holl, aber … wie soll ich sagen?«
»Ich bin ganz Ohr!«
»Nun, … Ihr wisst, um was es geht. Wir wollten Großes schaffen.«
»Gewiss! Das hab ich wohl verstanden. Ich bin weder tumb noch taub.«
»Das hatte ich nie behauptet, nur …«
»Ist es Euch nicht gewagt genug? Zu sehr am Alten hängend?«
»Ja! Ja, Ihr sagt es! Es ist … verzeiht mir, wenn ich’s so offen … es ist … langweilig.«
»Langweilig? Was meint Ihr damit?«
Ich riss ihm die Entwürfe aus der Hand. »Meint Ihr einfallslos? Unschöpferisch? Oder alltäglich? Meint Ihr gar banal?«
»Holl! Meine Güte! Seid doch nicht gleich beleidigt! Sie sind … na ja, nicht schlecht, Eure Entwürfe. Aber dafür, dass Ihr Euch die ganze Nacht um die Ohren geschlagen habt …«
»Ja? Was?«
»… hätte ich etwas anderes von Euch erwartet. Warum habt Ihr nicht etwas mehr gemacht?«
»›Etwas mehr‹? Was soll das heißen, ›etwas mehr‹? Vielleicht könnt Ihr Euch ein wenig präziser …?«
Remboldt sah mich streng an. Ich hatte ihn an seinem zweiten wunden Punkt getroffen; so wie man sein Mitgefühl nicht überfordern durfte, durfte man seine Wortwahl nicht abwerten. Es war Zeit, mit dem Unfug aufzuhören.
»Werter Remboldt, Ihr habt recht gesprochen! Ganz und gar recht!«
Remboldt merkte auf.
»Ein elender Stümper wäre ich, hätte ich nichts anderes als das da zuwege gebracht, ein Nichtskönner und Lump, der mit Schimpf und Schande davongejagt gehört!«
Remboldt schürzte die Lippen, ich breitete die gut armlange Visierung aus.
»Seht her! So hab ich’s mir gedacht: Ein Oktogon, mit dorischen Säulen. Mit Zwiebelkuppel, goldenem Knopf und ganz oben die Stadtgöttin Circe!«
Remboldt stand auf und beugte sich über die Visierung. Er stellte die Talglichter noch näher heran und nickte. Es schien mir ein bestätigendes Nicken. Nachdem er eine gute Weile lang die Visierung studiert hatte und sich erneut am haarlosen Hinterkopf gekratzt, setzte er sich wieder in seinen Stuhl und sah mich mit altväterlicher Strenge an.
»Holl, Ihr verdammter Hurenbock!«
Ich schluckte. Solche Worte hatte er mir gegenüber noch nie geäußert.
»Verzeihung?«
Er blinzelte, seine Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln, die Stimme kam gelassen. »Ihr habt mich genarrt.«
Jetzt wiegte ich den Kopf. »Ja, ich geb’s zu. Gönnt mir den kleinen Spaß; quasi als kleine Entschädigung dafür, dass ich die ganze Nacht daran geackert habe. Doch jetzt im Ernst, was sagt Ihr?«
Remboldt erhob sich, strich sich über den Pelzbesatz seines Talars, ging ein paar Schritte durch die Stube und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, so wie es Höschel meistens tat, wenn er mir in der Bibliothek einen Vortrag hielt.
»Holl, Ihr seid ein fähiger Mann! Ihr habt Großes geschaffen! Ihr seid ein wahrer Schöpfergeist!«
Ich wuchs.
»Ihr habt das Werk Eures Vaters nicht nur ehrenvoll vertreten und weitergeführt, …«
Ich wuchs mit jedem Wort seines Lobes. Schultern und Kinn nahm ich nach hinten, die Brust schob ich nach vorn.
»… Ihr seid weit über sein Können hinausgewachsen!«
Meine Haltung schwoll zu aristokratischen Ausmaßen an. Der schwere und edle Lehnstuhl, in dem ich Platz genommen hatte, schien durch meine erhabene Präsenz zu einem schäbigen kleinen Küchenstuhl geschwunden, die windigen Lehnen, auf denen meine herrschenden Hände ruhten, drohten unter meinem raschen Anwachsen wie dünne Holzleisten zusammenzubrechen.
»Nur, Holl, … hier … es tut mir aufrichtig Leid, aber … hier …«
Er schüttelte den Kopf, wie ich Remboldt ihn selten hatte schütteln sehen, was mich ganz kribbelig machte. Herrgott nochmal, Remboldt, kommt auf den Punkt!
»… habt Ihr … kläglich … versagt!«
»Aber …«
»Hörte ich vorhin nicht von Euch selbst, Heintz und Kager seien bei den Loggiaentwürfen über das Ziel hinausgeschossen? Sind deren Entwürfe nicht von allen – bis auf ein paar Träumer – im Rat abgelehnt worden?«
Die Brust fiel mir ein.
»Das gleiche wird Euch hiermit passieren! Es ist viel zu pompös!«
Das Kinn rutschte nach vorn, die Schultern sackten herab. Remboldts Worte trafen mich wie Faustschläge in die Magengrube, dennoch gab ich Widerstand.
»Pompös? Was in aller Welt soll da pompös sein? Die Verzierungen sind schlicht und wohlproportioniert! Ich habe beim Wertachbrucker Tor und bei Sankt Anna nichts anderes getan. Ihr findet dort ebenfalls ein Oktogon mit Kapitellen, Pilastern und …«
»Holl! Wir wollen Ehrfurcht wecken und nicht Spöttern mit einem muselmanisch anmutenden Gebetsturm die Hand reichen! Ihr werft mich aus dem Bett mitten in der Nacht, um mir so etwas zu präsentieren? Das soll die Lösung sein? Ein freistehender Turm von dieser Höhe, ohne ein starkes Schiff an das er sich anlehnen kann, wie bei den Kathedralen?«
»Aber im Welschland findet Ihr viele solcher freistehenden Türme. Sie heißen dort Campanile und bis jetzt …«
»Ich bin des Welschen mächtig! Ich kenne das Wort für Glockenturm.«
»… ist noch keiner umgekippt oder zusammengebrochen!«
»Als ob ausgerechnet Ihr das wüsstet. Glaubt Ihr, wenn sich so ein Trauerspiel ereignete, man es Euch sogleich zugetragen hätte? Kommt da ein Vöglein geflogen und pfeift es Euch?«
Ich schrumpfte mit jedem Wort seines Tadels und versuchte dennoch weiter Widerstand zu leisten.
»Nachrichten aus dem Welschland erreichen uns per Kurier in drei Tagen. Sollte ein Turm einstürzen, sind wir Architekten es, die es als erste erfahren.«
»Das mag sein oder auch nicht! Hier geht es einzig um Euren Größenwahn und was Missliches daraus erwachsen ist! Schmeißt Euren Entwurf ins Feuer! Er ist lächerlich. Wir wollen heroische Präsenz und nicht welsche Verspieltheit! In welchem Anflug von Kindslaune habt Ihr das zusammengeschustert?«
Ich war zum Gnomus geschrumpft. Ein bucklig Männlein, mit Augenringen und Struwelhaar, gezeichnet von einer am Reißbrett durchkämpften Nacht, geschmäht vom obersten Ratsherrn, saß da, verloren in einem riesigen Thron, die kleinen Fingerchen weißgekrampft in die Lehnen, weit wie Haussparren, und verzog die Lippen zu einem einzigen Strich. Remboldt stand vor mir; ein Riese mit Glutschlieren in den kürbisgroßen Augen und einem geifernden Maul, die Zähne gefletscht – ganz wie früher der Vater, der mich als kleiner Bub auf der Baustelle zusammengestaucht hatte. Wir sahen uns an. Zwei Blicke – ein eisiger, ein verstörter – schossen aufeinander zu, trafen sich mitten im Raum, verschlangen einander und lösten sich auf. Schweigen, durchwoben vom Prasseln und Knacken des Ofenfeuers, lag wie dichter Tüll über uns. Das Atmen fiel mir schwer.
»Hahaha! Zu köstlich! Einfach zu köstlich! Holl, Ihr solltet Euch sehen!« Remboldt klatschte sich auf die Schenkel, seine Augen blitzten. »Euer Anblick … Mir fehlen die Worte!«
Augenblicklich richtete ich mich auf.
»Ich verstehe nicht.«
»Holl! Ich hab’s Euch heimgezahlt! Und nicht schlecht, wie es scheint. Das kommt davon, wenn man den guten alten Remboldt narrt.«
Er ging auf mich zu, räusperte sich und nahm Haltung an. »Verzeiht mir die kleine Komödie, aber es musste sein. Ich hoffe, Ihr gönnt mir ebenfalls die Revanche?«
Ich nickte, noch immer betreten.
In bester Landsknechtsmanier klopfte Remboldt mir auf die Schulter. »Jetzt sind wir quitt, Holl. Reicht mir die Hand!«
Ich stand auf und nahm die seinige entgegen. Beherzt griff er zu. »Und jetzt mal ohne Schmarrn: Herzlichen Glückwunsch! Euer Entwurf ist perfekt! Damit krieg ich alle im Rat.«
»Ich habe noch einen zweiten gemacht, vom Ger…«
»Nein, Holl, lasst ab! Ein zweiter tut nicht Not. Ihr habt Eure Arbeit getan. Geht nach Hause und ruht Euch aus. Jetzt bin ich an der Reihe. Und ich versprech’s Euch: In drei Tagen habt Ihr den Zuschlag fürs neue Rathaus. Mein Ehrenwort!«
Ich bedankte mich, rollte Skizzen und Gerüstplan säuberlich zusammen, steckte sie zurück in den Köcher und schwang ihn um die Schulter.
Remboldt brachte mich an die Tür und hob die Hand zum Abschied. »In drei Tagen, Holl! Und grüßt mir Eure Frau.«
Als ich den ersten Schritt auf die Gasse gesetzt hatte, rief er mir hinterher: »Ach, Holl! Augsburgs Stadtgöttin heißt Cisa, nicht Circe!«
Ich hob die Brauen. »Hatte ich das nicht gesagt?«
Remboldt schüttelte den Kopf und verschwand im Portal.
Den Blick starr aufs eingeschneite Pflaster gerichtet, schritt ich in Gedanken an Remboldts groteske Inszenierung nach Hause. Ich hatte ihn ein wenig gefoppt, schon, eine harmlose Schelmerei; aber er hatte es mir doppelt, ja dreifach retourniert, der Hund, und ich war ihm wie ein Lehrbub auf den Leim gegangen, Wie hochnotpeinlich. Vielleicht hatte Vater ja doch Recht gehabt? Ich hatte, so verblüfft wie ich war, versäumt, Remboldt zu sagen, dass das unter uns zu bleiben hatte. Jetzt konnte ich nur hoffen, dass er selbst so viel Anstand bewahrte, es nicht beim Ratstreffen zum Besten zu geben. Die Chancen standen schlecht; Remboldt wollte stets brillieren, da war es ihm im Grunde einerlei, wer dafür herhalten musste. Und hatte ich tatsächlich Circe gesagt? Das fiel mir schwer zu glauben, ich konnte doch wohl unsere Stadtgöttin und die griechische Zauberin auseinanderhalten. Egal, jetzt zählte nur eines: Remboldt hatte meine Lösung akzeptiert, mehr noch, er war begeistert von ihr! Die Arbeit hatte sich gelohnt! Eine Nacht! Nur eine gottgefällige Nacht konzentrierter Arbeit, gebettet in Fleiß und Ausdauer, hatte ich gebraucht für einen entscheidenden Schritt: Das neue Rathaus! In drei Tagen schon würde ich den Auftrag erteilt bekommen und endlich den lang ersehnten, größten und schönsten Bau meiner Karriere schaffen. Das musste ich unverzüglich Rosina erzählen!
Von Euphorie getragen, eilte ich die Treppe nach oben zur Wohnstube. Ich durfte Rosina keinen Moment länger warten lassen. Die freudige Nachricht würde ihr mithelfen, einen Teil der verlorenen Kräfte zurückzugewinnen.
Adelgund wies mich an der Zimmertür zum Wochenbett zurück. »Geht nicht hinein. Eure Frau ist müde.«
»Aber ich muss ihr Wichtiges erzählen.«
»Nein, Meister Holl. Ich bin froh, dass sie ihren Teller Suppe gegessen – und behalten! – hat. Sie soll jetzt schlafen.«
»Dann schläft sie eben ein paar Minuten später.«
»Habt Ihr schon vergessen, was Doktor Häberlin gesagt hat? Ruhe ist die oberste Pflicht! Erzählt es ihr morgen oder besser erst in ein paar Tagen.«
»Dann ist es keine Neuigkeit mehr.«
»Für Euch nicht, aber für jeden anderen, der nicht davon weiß, schon. Es gibt sogar ein Wort dafür … wie heißt es nur? Der Doktor spricht immer davon.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Na, gerade hab ich es gesagt, für Euch ist es jetzt ganz neu und für Eure Frau erst, wenn Ihr es ihr erzählt. Es ist also beides neu, nur jedes Mal anders.«
»Ach so, du meinst ›relativ‹.«
»Ja, rellatief, so sagt der Doktor immer. ›Alles ist rellatief.‹«
Ich fühlte, wie die Freude in Enttäuschung umschlug; wem, wenn nicht meinem holden Eheweib sollte ich die gute Nachricht antragen? Sie war immer die erste, der ich erzählte, wenn sich etwas Neues ergeben hatte. Aber ich verstand auch Adelgund, die gute Seele. Wie war ich froh, sie im Haus zu haben. Wenn sie nicht hier wäre … Gott im Himmel … nicht auszudenken.
»Meine Zeit hier geht zu Ende, Meister Holl. Habt Ihr schon eine Haushilfe gefunden?«
»Nein, leider nicht. Deine Empfehlungen entpuppten sich als Reinfall. Ich muss weitersuchen. Kannst du nicht noch ein paar Tage bleiben?«
»Ich glaube nicht. Doktor Häberlin braucht mich.«
Ich senkte den Kopf. Ich hatte die Tage verstreichen lassen, ohne mich auf die Suche nach einem Kindermädchen zu begeben. Stattdessen hatte ich von morgens bis abends meine Zeit im Atelier, im Amt und auf den Baustellen zugebracht.
»Kopf hoch, Meister Holl. Drei Tage bin ich noch hier. Bis dahin könnt Ihr eine finden.«
Ich nickte und dachte an Remboldts Äußerungen über die schlechten Chancen. Doch gänzlich Unrecht hatte Adelgund nicht.
Als Adelgund aus dem Haus war – sie musste zum Eiermarkt –, ging ich zur Wochenstube. Ich öffnete eine Handbreit die Tür, schaute durch den Spalt und sah Rosina schlafen. Ich schlich mich ins Zimmer, setzte mich an ihr Bett und betrachtete schweigend ihr Gesicht. Es war etwas Farbe in ihre Wangen zurückgekehrt, und das Grau um die Augen würde wohl auch bald verschwinden. Ich fuhr mit der Hand unter die Decke und hielt die ihrige. Sie fühlte sich schon viel wärmer an. Das machte mich glücklich.
8 Angewärmtes, dunkles Bier
9 Zum Vergleich: Der Wochenlohn eines normalen Maurermeisters betrug einen bis anderthalb Gulden
10 Bramantes Palazzo Caprini und Palladios Palazzo Civena
11 Damalige Bezeichnung für gotisch
12 Lat.: Verträge sind einzuhalten
13 1 Zoll = in Bayern circa 2,5 cm; die Maße variierten regional. Die Wandstärke betrug demnach 45 cm